Doing Gypsy

Wie funktioniert Antiziganismus? Eine neue Anthologie sucht nach Antworten.

in (01.11.2009)
Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments
Editor:
Markus End, Kathrin Herold, Yvonne Robel
Publisher:
Unrast
Published 2009 in
Price:
18,- Euro
„Viele der Vorurteile und Stereotype über Roma sind fester Bestandteil der europäischen Kultur geworden. (…) Anders als der Antisemitismus wurde der Antiziganismus jedoch nie grundsätzlich in Frage gestellt, geschweige denn in irgendeiner Form bekämpft. (…) Der Holocaust an den europäischen Roma stellt nach wie vor nur eine Fußnote in der Geschichtsschreibung dar.“ Mit klaren Worten bringt Rudko Kawczynski, Präsident des European Roma and Travellers Forum, im Vorwort des vorliegenden Sammelbandes die Bedingungen, unter denen sich die Forschung zu Antiziganismus im deutschsprachigen Raum zögerlich entfaltet, auf den Punkt. Selbst in linken Debatten sei man von einer analytischen Annäherung an den Antiziganismus noch weit entfernt, kritisieren auch die HerausgeberInnen der Anthologie, die in den Politik- und Kulturwissenschaften und in der politischen Bildungsarbeit tätig sind.
Wie können Gewalt gegen und Diskriminierung von Roma aus der Forschungsperspektive von Nicht-Roma thematisiert werden? „Wir versuchen konsequent, über die Mehrheitsgesellschaft statt über Roma zu schreiben. Damit tragen wir der Einsicht Rechnung, dass dort auch die Ursachen für Antiziganismus zu suchen sind“, erläutern Markus End, Kathrin Herold und Yvonne Robel in einem Interview mit der Zeitschrift „Malmoe“. Die Bandbreite antiziganistischer Praxen reiche von offener Verfolgung inklusive tödlicher Gewalt bis hin zu einem sprachlich verfassten, bildlich verfestigten und strukturell verankerten Fortschreiben kulturell vermittelter stereotyper Denkmuster und Bilder.
Als „allgegenwärtiges Ressentiment“, wie es der Untertitel des Buches formuliert, ist Antiziganismus in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zugleich zu finden – sei es in der Politik, Wissenschaft, Kunst oder in den Medien. Die Zuschreibungen an Roma als „wild, frei, musikalisch“ bilden dabei nur die Kehrseite von „dreckig, stehlend, vaterlandslos“.
Anhand von elf Beiträgen versucht die Anthologie theoretische Deutungsansätze mit länderspezifischen Fallanalysen zusammenzubringen, etwa am Beispiel Rumäniens. Dort leben die meisten Roma in Europa, dessen nationales Selbstbild jedoch grundlegend auf der Abgrenzung vom „Zigeuner“ als dem „Anderen“ gebaut ist. Exemplarisch wird antiziganistische Hetze auch am Beispiel Italiens beschrieben, dort erlebte die Roma-Bevölkerung während der letzten Jahren wiederholt Wellen rechtsextremer Ausschreitungen, aber auch Gesetzgebungen, die unmittelbar gegen sie gerichtet sind. Die Bleiberechtskämpfe von Roma-Flüchtlingen in Deutschland thematisiert ein Beitrag von Romane Aglonipe („Roma voran!“), eine Selbstorganisation von Roma in Hannover, die europaweit Netzwerkarbeit leistet.
Die thematische Spannbreite der Artikel reicht weiters von der medialen Repräsentation von Roma (etwa die Konstruktion des „Zigeuners“ in der Kinder- und Jugendliteratur) über den Erinnerungsdiskurs in Deutschland (z.B. zur gedenkpolitischen Stereotypisierung der Roma) bis hin zur Kritik an wissenschaftlichen Traditionen und theoretischen Forschungsansätzen (darunter „Zigeuner“-Bilder in der deutschsprachigen Ethnologie oder der „Zigeuner“-Begriff bei Adorno).
Die Parallelen zwischen „Doing Gender“ und „Doing Gypsy“  untersucht der gleichnamige Aufsatz, der im Bild der „Zigeunerin“ die Potenzierung misogyner und antiziganistischer Zuschreibungen sieht: „Die ‚Zigeunerin’ ist noch mehr ‚Zigeuner’ und noch mehr Frau.“
Wie auch die HerausgeberInnen selbst feststellen, ist die Forschung über die Ursachen des Antiziganismus marginal, und auch die Anthologie liefert hierzu keine Antworten. Hingegen leistet der Band eine gelungene Zusammenfassung vergangener und aktueller politischer Entwicklungen im europäischen Raum. Nicht zuletzt verlangen die lesenswerten Beiträge nach einer differenzierteren Auseinandersetzung mit einer allgegenwärtigen Ausgrenzungspraxis und weisen umso deutlicher auf die Lücken in der wissenschaftlichen Debatte hin.


Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin, www.anschlaege.at