Solidarität im Buch

in (28.11.2019)

Während der Begriff der Solidarität im politischen Tagesgeschehen allgegenwärtig ist, muss in gesellschaftstheoretischer und moralphilosophischer Hinsicht eine „befremdliche ‚Untertheoretisierung‘“ (Herrmann-Josef Große Kracht) festgestellt werden. Dieser Befund hat Große Kracht dazu veranlasst, sich den vergessenen Solidaritätstheorien des 19. Jahrhunderts zuzuwenden. Er rekonstruiert einen Diskurs im Anschluss an Émile Durkheim, Auguste Comte, Léon Bourgois u.a., der Solidarität sowohl als „warmes“ Näheverhältnis von Gemeinschaften kannte, wie auch ihre „kalten“ Aspekte unbewusster Vergesellschaftung in den Blick nahm. Schließlich plädiert Groß Kracht überzeugend dafür, die Solidarität nicht nur als moralische Praxis zu verstehen, sondern „als makrosoziologische Fundamentalkategorie zur Beschreibung der zunehmenden gesellschaftlichen Abhängigkeits- und Verstrickungsverhältnisse“ wieder ins Spiel zu bringen. Das versucht Heinz Bude, der sich auf die Suche nach der „eigentümlichen Komplizenschaft der Solidarität“ in den Gegenwartsgesellschaften macht, „die keinen festen Grund, aber eine existenzielle Erfahrung für sich in Anspruch nehmen kann“. Budes gut zu lesender Essay erhellt nützliche Abgrenzungen von Solidarität zu Mitgefühl, Barmherzigkeit, Empathie u.a. und prüft sie an vielen Beispielen aus Theorie und Geschichte. Politisch allerdings bleibt er strikt an der normativen Grundlage des Nationalstaats als Garanten solidarischer Verhältnisse orientiert. Den Solidaritätsbewegungen, die die Bewegungsgeschichte des 20. Jahrhundert geprägt haben und die bei Bude merkwürdigerweise nicht vorkommen, widmet sich der Band von Bösch, Moine und Senger. Sie liefern einen interessanten Vergleich solidarischer Praktiken in den beiden deutschen Staaten während des Kalten Krieges. Dabei zeigt sich u.a., dass die linken Soli-Bewegungen zu Algerien, Kuba, Nikaragua u.a. einerseits von einer „kulturellen Nähe“, also einer gemeinsamen Haltung getragen waren, andererseits aber – im Falle der DDR – auch der staatlichen „Außen- und Binnenlegitimation“ dienten. Die internationale Solidarität mit Bewegungen im globalen Süden war demnach immer auch „durch den nationalen Rahmen und dessen Einbindung in Ost und West geprägt“. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Refugee Protest Camp Vienna (2013) macht sich Monika Mokre auf die Suche nach Möglichkeiten, „eine Solidargemeinschaft jenseits der Nation zu begründen“ und stellt sich dem grundlegenden Problem, dass „Solidarität, wenn sie als politisch wirksam gedacht wird, […] ein Außen der solidarischen Gemeinschaft“ braucht.
Vom künstlerischen Feld aus macht sich der Band Kinship in Solitude daher auf die Suche nach einer „möglicherweise verschüttete(n) Verwandtschaft zwangsindividualisierte(r) Existenzen“ (Jehle/ Buckermann) als Grundlage von Solidarität. Dass in der Gegenwart starke ideologische Bindungen seltener werden, muss kollektive solidarische Praktiken nicht automatisch unwahrscheinlicher machen. Ob Solidarität aber, wie Rahel Jaeggi in diesem Buch meint, eine im Kern „symmetrische, gegenseitige und wechselseitige Beziehung“ ist oder sein sollte, oder nicht doch die uneigennützige Zuwendung der Verschiedenen, wäre gerade zu diskutieren. 


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 51, Herbst 2019, „Solidarität (Vorwärts und fast vergessen!)“.


Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste. www.jenspetzkastner.de


Artists Unlimited, Anna Jehle, Paul Buckermann (Hg.): Kinship in Solitude. Perspectives on Notions of Solidarity. Hamburg 2017 (adocs publishing).

Frank Bösch, Caroline Moine und Stefanie Senger (Hg.): Internationale Solidarität. Globales Engagement in der Bundesrepublik und der DDR. Göttingen 2018 (Wallstein Verlag).

Heinz Bude: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee. München 2019 (Carl Hanser Verlag).

Hermann-Josef Große Kracht: Solidarität und Solidarismus. Postliberale Suchbewegungen zur normativen Selbstverständigung moderner Gesellschaften. Bielefeld 2017 (transcript Verlag).

Monika Mokre: Solidarität als Übersetzung. Wien, Linz, Berlin, London, Zürich 2015 (transversal texts) https://www.transversal.at/media/pdf/solidaritaetalsuebersetzung.pdf