Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2002

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2002, PapyRossa Verlag Köln 2002, 258 S. (15,80 EUR)

Das Memorandum der AG Alternative Wirtschaftspolitik ist nach wie vor die wichtigste Antwort auf den jährlichen Bericht des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist gleichermaßen Kritik des Sachverständigen-Gutachtens wie konstruktives Alternativkonzept.

Der Untertitel der diesjährigen Publikation lautet: "Blauer Brief für falsche Wirtschaftspolitik - Kurswechsel für Arbeit und Gerechtigkeit ". Schwerpunktmäßig geht es dabei um eine Abrechnung mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung im Wahljahr 2002. Waren die Stellungnahmen in den Jahren 1999 bis 2001 noch von einer gewissen Rücksichtnahme gegenüber Rot-Grün geprägt, so läßt der diesjährige Bericht davon nichts mehr erkennen. Schonungslos wird "das Elend" einer Politik offengelegt, die vor dreieinhalb Jahren unter dem Slogan "Arbeit und Gerechtigkeit" angetreten war, aber weder für das eine noch für das andere Ziel wirksame Maßnahmen ergriffen, geschweige Lösungen gefunden hat. Da auch absolut nichts darauf hindeutet, daß sie in Zukunft derartige Maßnahmen ergreifen wird, ist ihre Kritik durch die Memo-Gruppe grundsätzlich und scharf. Dies betrifft so ziemlich alle Bereiche der Politik: Erstens die Konjunkturpolitik, die "konzeptionslos" in die Rezession geführt hat (S. 42), zweitens die Arbeitsmarkt- und Sozialhilfepolitik, weil diese mit ihren Einspar- und Lohnsenkungsabsichten in die falsche Richtung orientiert hat, drittens die Beschäftigungspolitik, die auf eine Reduzierung des Arbeitsangebotes ausgerichtet ist, die Stimulierung der Arbeitsnachfrage aber vernachlässigt, viertens die Gesundheitspolitik, die den Arbeitnehmern höhere Beiträge bei geringeren Leistungen beschert hat, fünftens die Finanzpolitik, die von einem manischen Sparzwang geprägt ist, nicht aber von finanzpolitischer Weitsicht und flexiblem ökonomischem Handeln, sechstens die Umweltpolitik, die vor den ›Zwängen‹ der Globalisierung kapituliert hat. Ein besonderer Abschnitt ist dem Aufbau Ost gewidmet: "Stagnation als Chefsache" (S. 19 ff.). Im ausführlichen Teil des Memorandums nimmt der sechste Abschnitt (Abschied vom Aufholprozeß Ost) einen zentralen Platz ein. So wenig wie der Osten sonst in den Berichterstattungen der Regierung im Zentrum steht, so sehr ist dies hier der Fall. Der Grund dafür ist, daß in bezug auf den Osten Anspruch und Wirklichkeit in besonderer Weise auseinander klaffen. So stagniert der deutsch-deutsche Aufholprozeß seit 1996. "Die Schere zwischen Ost und West öffnet sich seitdem wieder, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich hieran in den nächsten Jahren grundlegend etwas verändern wird" (S. 146). Die in diesem Zusammenhang auch von anderer Seite aufgezeigten Lücken, die Produktions-, Produktivitäts-, Beschäftigungs-, Einkommens- und Vermögenslücke, finden hier eine umfassende datengestützte Interpretation und ökonomische Begründung.

Lesenswert sind auch die Überlegungen der Arbeitsgruppe zu der Frage: Wie weiter? Im Unterschied zu schönfärberischen Wahlreden und unhaltbaren Versprechungen bemühen sich die Autoren um eine "nüchterne Wertung der Perspektiven" (S. 169), und die sind eher düster. Sie reichen von einer Situation "unbefristeter Transferzahlungen" über die weitere Ausdünnung Ostdeutschlands bis hin zu regionalen Differenzierungen größten Ausmaßes. Um diesen Prozeß umzukehren, wäre eine gezielte Struktur- und Beschäftigungspolitik erforderlich, welche die Entwicklung endogener Potentiale mit einer Förderung externer privater und öffentlicher Investitionen verbindet. Eine solche Initiative ist aber seit 1998 ausgeblieben, was der rot-grünen Bundesregierung zu Recht angelastet wird.

Andere Abschnitte des Memorandums sind nicht weniger interessant, so zum Beispiel der zweite Teil, der sich mit der wachsenden Ungleichheit in der Bundesrepublik beschäftigt. Dies gibt den Autoren erstmals Gelegenheit, sich mit dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2001 auseinander zu setzen. "Eindeutig macht dieser Bericht sichtbar, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander geht" (S. 71). Dennoch aber, so die Kritik, sieht die rot-grüne Regierung "keinen Handlungsbedarf". Vielmehr verfolgt sie ihr Ziel, die Reichen reicher zu machen und die Armen ärmer, weiter und verspricht sich davon positive Effekte für die Konjunktur. Überprüft man diese Politik auf ihre theoretischen Grundlagen hin, so wird eine peinliche Nähe zu den Konzepten der Opposition erkennbar. In jedem Fall handelt es sich um neoliberales Gedankengut, das hier unkritisch von der rot-grünen Regierung übernommen worden ist und inzwischen als allgemeingültige "Wirtschaftsphilosophie" ausgegeben wird (vgl. S. 76 ff.). Unmißverständlich plädieren die Autoren für die Wiedereinführung eines "angemessenen Beitrags der Wohlhabenden zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben und zur Alimentierung ausreichender Sozialtransfers" mittels einer entsprechenden Steuer. Die dafür als Argumentationshilfe angebotenen Zahlen überzeugen durchaus. Übersehen wird jedoch, daß die Regierung diese Zahlen sicherlich kennt, die tatsächlichen Machtverhältnisse und Interessenlagen es ihr aber unmöglich machen, darauf im Sinne sozialdemokratischer Grundsätze zu reagieren. Auch wenn einige der vorgeschlagenen Maßnahmen diskussionswürdig sind, so trägt die klare und offene Sprache des Memorandums doch dazu bei, die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung noch kritischer als bisher ohnehin schon zu sehen und sich mit den offensichtlichen Fehlern und Versäumnissen dieser Politik qualifiziert auseinander zu setzen. Die politische Alternative ist jedoch auch hier das Rätsel, das nicht gelöst wird - und wofür das Buch auch keine Hilfen bietet.

ULRICH BUSCH, in UTOPIE kreativ, H. 141/142 (Juli/August 2002) S. 759 - 760