Das braune Herz Deutschlands? - Rechtsextremismus in Thüringen

Rezension zu: Jens-F. Dwars, Mathias Günther (Hrsg.): Das braune Herz Deutschlands? - Rechtsextremismus in Thüringen,quer-Verlag & vertrieb Jena 2001, 207 S. (7,60 EUR)

Die Literaturrecherche zum Thema "Rechtsextremismus in Deutschland" fällt nicht schwer. Besonders in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wurde der Buchmarkt mit entsprechenden Texten geradezu überschwemmt. Schwierig wird es, aus dieser geballten "Aufklärung der Anständigen" geeignete Literatur herauszufiltern, die nicht nur fachlich fundiert, sondern auch übersichtlich ist. Als durchweg positives Beispiel sei Jens Mecklenburgs "Handbuch Deutscher Rechtsextremismus" genannt. Noch schwieriger wird es, wenn man sich die konkrete Untersuchung des Phänomens Rechtsextremismus in einem Bundesland vornimmt. Hier geben die bundesweit angelegten Werke nur unzureichend landesspezifische Informationen. Oft bleibt einem nichts anderes übrig, als sich von den Broschüren einzelner Antifa-Gruppen ein Bild zusammenzupuzzeln. Dieses Manko zumindest für Thüringen zu beseitigen und somit vielleicht den Stein auch in anderen Bundesländern ins Rollen zu bringen, haben sich Jens-F. Dwars und Mathias Günther auf ihr schwarz-weiß-rotes Buchcover geschrieben. Doch puzzeln ist ein schwierig Ding.

Viele hatten dem Verfassungsschutz, offenbar zu Recht, einige krumme Dinger zugetraut, aber das, was im Frühsommer 2001 von regionalen Zeitungen in Thüringen aufgedeckt wurde, verschlug auch jenen die Sprache. Die Rede ist von den Verstrickungen des Amtes für Verfassungsschutz in Thüringen mit der militanten Neonazi-Szene und das jahrelange "Sponsoring" von Kadern wie Thomas Dienel und Tino Brandt. Ausgehend von diesem Skandal, versuchen Dwars und Günther auf zweihundert Seiten anhand von Aufsätzen verschiedener Autoren zum einen ein Bild der rechtsextremen Szene in Thüringen zu zeichnen und zum anderen die Frage nach traditionellen gesellschaftlichen Verbindungen zwischen bürgerlich-konservativen und extremistischen Kräften in Deutschlands Mitte zu beantworten. "Das braune Herz Deutschlands ?" stellt die Frage, warum es gerade in dem eigentlich "grünen Herzen Deutschlands" (S. 8) zu solch gefestigten rechtsextremen Strukturen kommen kann.

Vorneweg gibt der thüringische Bundestagsabgeordnete Carsten Hübner eine Bestandsaufnahme der neonazistischen Szene. Darin attestiert er nicht nur dem Landesamt für Verfassungsschutz Versagen in Hinblick auf die Analyse der realen Verhältnisse sowie die wirksame Bekämpfung der sich deutlich abzeichnenden Tendenzen. Er stellt auch Thüringen als ein Land mit festem Platz in der Oberliga der rechtsextremen Statistiken vor. So lag Thüringen im Jahr 2000 mit 92 rechtsextremen Gewalttaten bundesweit auf Platz 4 und somit noch vor allen anderen neuen Bundesländern. Bei der Anzahl der rechtsextremen Straftaten (im Jahr 2000 immerhin 1846) pro 100 000 Einwohner steht Thüringen mit 3,74 an einsamer Spitze aller Bundesländer (S. 16). Besonders kenntnisreich ist die Darstellung der NPD-Strukturen sowie der personellen Verstrickung der Partei mit militanten Neonazi- Strukturen. Sehr detailliert und anhand von vielen Personenbeispielen gelingt Hübner auch die Beschreibung des militanten Spektrums wie dem "Thüringer Heimatschutz" (THS) oder des "Nationalen und Sozialen Aktionsbündnis Westthüringen" (NSAW). So war beispielsweise der enttarnte V-Mann Tino Brandt gleichzeitig Cheforganisator des THS und stellvertretender NPD-Landesvorsitzender, der stellvertretende JN-Landesvorsitzende Patrick Wieschke zugleich Kader des NSAW. Hier wird schon angedeutet, wohin die Fragestellung des Buches zielt: die Aufdeckung der starken Vernetzung innerhalb der rechten Szene. Leider bleibt es in dem Beitrag von Hübner bei dieser Andeutung. Auch die Analyse der anderen rechten Parteien fällt sehr kurz aus, zu kurz, um die Frage nach der besonderen Stellung des rechtsextremen Lagers Thüringens erschöpfend zu klären. So wird lediglich auf das schwache Abschneiden von DVU und REP bei den letzten Wahlen verwiesen. Aufgrund des fehlenden analytischen Teils verliert der gute beschreibende Abschnitt an Wirkung. Der Leser wird mit dem Wissen über den Ist-Zustand allein gelassen.

Der Bestandsaufnahme folgt im zweiten, deutlich längeren Abschnitt ein geschichtlicher Abriß über die rechten Strömungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Thüringen. So schreibt Manfred Weißbecker über die NSDAP in Thüringen, Ludwig Elm über studentische Korporationen, Justus H. Ulbricht widmet sich dem "völkischen Netzwerk" zwischen 1900 und 1933 und Jens-F. Dwars untersucht die Ungleichbehandlung rechter und linker Gewalt während der Weimarer Republik. In diesem Teil hat das Buch eindeutig seine Stärken. Sehr detailliert, fakten- und quellenreich, aber in einem dennoch leicht zu lesenden epischen Stil, erfährt man hier, leider in mißlungener Reihenfolge, von der Entwicklung völkischer Vereine wie dem "Deutschbund " hin zum "Mustergau Deutschlands" (S. 61). Nicht umsonst hielt die NSDAP in Thüringen im Jahr 1926 ihren Wiedergründungsparteitag ab und auch nicht von ungefähr gingen die bürgerlichen Parteien nach der Pattsituation mit den Arbeiterparteien im thüringischen Landtag 1929 ohne Zögern die erste Koalition mit der NSDAP in der Weimarer Republik ein. Ebenso verdeutlicht das "vorbildlich" fanatische Verhalten der Bevölkerung, sei es bei der übereifrigen Arisierung von jüdischem Eigentum oder die Begeisterung bei Großaufmärschen, die besondere Gesinnung Thüringens. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg war Thüringen einer der Ausgangspunkte für eine "neudeutsche Kultur" und diverser völkischer Bewegungen, was Elm am Beispiel der studentischen Korporationen verdeutlicht. Mit der Schilderung der Verbindungen zwischen militanten Gruppierungen wie dem THS zu der Burschenschaft "Jenensia" schlägt er auch den Bogen zur heutigen Zeit. Leider kommt dieser Teil viel zu kurz, wäre er doch nicht nur ein äußerst interessanter Puzzleteil, sondern auch für die Fragestellung des Buches ein wichtiger Aspekt. Aus einem etwas größeren Blickwinkel betrachtet Justus H. Ulbricht diese Zeit zwischen dem 1. Weltkrieg und der Machtergreifung der Nazis. Er führt mit der Beschreibung der Verflechtungen zwischen Kirche und völkischen, später nationalsozialistischen Institutionen einen ungewöhnlichen, aber sehr aufschlußreichen Teil bei der Betrachtung rechter Netzwerke an. Ebenso informativ, weil faktenreich schreibt Dwars über die Morde an Rechten und Linken während der Weimarer Republik, über deren ungleiche gerichtliche Behandlung sowie über den oft fragwürdigen Einsatz von Reichswehr und Corps. Sein Aufsatz hat allerdings ein Manko: Er bindet sich thematisch nicht ganz in den Kanon der anderen Aufsätze und die Stoßrichtung des Buches ein. Er bringt zwar Beispiele aus Thüringen, betrachtet allerdings das gesamte Gebiet der Republik. Dieses Manko mindert in keinem Fall den Wert seines Aufsatzes, zeigt er doch, was die Folgen von rechten Netzwerken gerade in Verbindung mit Armee und Justiz bewirken können. Nur verdeutlicht er diese Netzwerke nicht speziell für Thüringen.

Volkmar Wölk identifiziert sich mit seinem Aufsatz "Herzfehler Braunfäule" als exzellenter Puzzler. In der Art seiner leider nur 15 Seiten umfassenden Abhandlung hätte man sich einen größeren Teil des Buches gewünscht. Er zeigt an vielen Beispielen die Verstrickung von extremen Rechten mit bürgerlich-konservativen Elementen, seien es die "Deutsche Hochschulgilde", das Institut für Staatspolitik oder einzelne CDU-Mitglieder. Ebenso beleuchtet Wölk aber auch die rechtsäugige Blindheit der thüringischen Landesinstitutionen bis hoch zu den "Zweitbeschäftigungen" des Ministerpräsidenten Vogel. Glücklicherweise beschränkt sich Wölk nicht nur auf die Beschreibung eben dieser Verbindungen, sondern er stellt im Anschluß auch die richtigen Fragen. So beispielsweise nach dem objektiven Nutzen des Verfassungsschutzes oder warum für den Verbotsantrag der NPD gerade aus Thüringen, dem Land mit zwei hochrangigen V-Leuten, so gut wie keine Informationen kamen. Abgerundet wird dieser sehr lesenswerte Artikel mit der Schlußfolgerung nach der "vorzeitigen Verrentung der Landesregierung " (S. 197).

Die Frage aber, ob Thüringen das braune Herz Deutschlands ist, wird von dem Buch nicht beantwortet, auch wenn die Autoren im Schlußwort genau dies versuchen. Doch leider ergibt sich eben kein komplettes Puzzle. Für die Zeit von 1900 bis 1945 wird der Leser bestens über das Zusammenspiel rechter Kräfte informiert, so daß man die Schlußfolgerung ziehen kann, es war das braune Herz Deutschlands. Leider verpassen es die Herausgeber, diese aufgezeigten Netzwerke in die heutige Zeit zu übertragen und das Wirken alter Seilschaften aufzuzeigen. Dies gelingt nur im letzten Aufsatz. Was die heutige Zeit angeht, so wird der Leser zwar umfassend über die Situation des rechtsextremen Lagers informiert. Zu lagerübergreifenden Kooperationen, die eine besondere Stellung Thüringens begründen würden, wird aber kaum etwas gesagt. Das Buch ist in jedem Fall informativ und lesenswert, aber Puzzles, in denen Teile fehlen, hängt man sich nicht an die Wand.

in: UTOPIE kreativ, H. 146 (Dezember 2002), S. 1139-1141