Nachdenken über Freund und Feind

Die Akte Moskau
by
Willy Wimmer
Publisher:
Verlag zeitgeist
Published 2016 in
Höhr-Grenzhausen
324
pages
Price:
24,80

„Heute … ist die Pluralität aus der deutschen Presse völlig verschwunden … Was RT und Sputnik News inzwischen leisten, ist deutlich weltoffener und hat mehr Profil als die Einheitsbrühe der sogenannten Leitmedien … Von ausgewogenem und investigativem Journalismus kaum mehr eine Spur … Dahin haben es die Pressekonzerne, ob privat oder öffentlich-rechtlich, gebracht. Vor jedem Krieg, den die NATO führt und an dem Deutschland beteiligt ist, werden wir alle über die Täuscher und Trickser aus der NATO auf Linie gebracht.“ Das sind nicht Sprüche eines Wirrkopfes aus der Pegida-Ecke, sondern die Wahrnehmung eines CDU-Politikers, der 33 Jahre dem Bundestag angehörte, zwischen 1985 und 1992, in den turbulentesten Zeiten der jüngsten deutschen Geschichte unter Kanzler Helmut Kohl, verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU und dann Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Gerhard Stoltenberg, war. Diese und andere prägnante wie strittige Wertungen historischer Ereignisse, vor allem des Prozesses der Vereinigung beider deutscher Staaten, aber auch der aktuellen Politik, finden sich im jüngsten Buch Willy Wimmers, um den es sich hier handelt, mit dem Titel „Die Akte Moskau“.
Das Buch selbst ist keine systematische Abhandlung eines geschlossenen Problemkreises. Ihm liegen vielmehr die Erfahrungen zugrunde, die der Autor in seinen Funktionen im Vereinigungsprozess und später als parlamentarischer Vertreter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sammeln konnte, und zwar sowohl auf politischer Ebene als auch im praktischen Bereich des Umgangs mit der Nationalen Volksarmee der DDR vor und nach dem 3. Oktober 1990. Die Darstellung seiner Sicht der Ereignisse verbindet er mit Überlegungen über die politische Situation in Europa, wobei das Verhältnis USA-Russland-Deutschland im Vordergrund steht.
So berichtet er von einem Washington-Besuch der Arbeitsgruppe Verteidigung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Frühsommer 1988, als deren Mitgliedern im CIA-Hauptquartier klar gemacht wurde, dass es zu einem Zeitenwandel in der US-amerikanischen Politik gegenüber der Sowjetunion gekommen sei. Man solle sich von alten Vorstellungen lösen. Die Sowjetunion verfolge rein defensive Absichten. Es gelte im Buch der Geschichte ein neues Kapitel aufzuschlagen. Wimmer zog daraus als Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium im Frühjahr 1989 beim Stabsrahmenmanöver der NATO Wintex/Cimex offenbar seine eigenen Schlussfolgerungen, als er sich weigerte, in der Rolle des „übenden Verteidigungsministers“ deutsche Interessen zu missachten und dem geplanten Einsatz nuklearer Waffen gegen Städte wie Dresden oder Potsdam zuzustimmen. Mit Billigung von Kanzler Kohl stieg die Bundesrepublik daraufhin aus diesem Manöver aus. Ein mutiger Schritt, der Wimmers späteren Nonkonformismus bereits ahnen ließ.
Nach der Wiedervereinigung vermeint der Autor, eine Kehrtwende der Vereinigten Staaten vor allem in den Beziehungen zur Bundesrepublik feststellen zu können. So gibt er die Aussage eines hohen amerikanischen Diplomaten von 1991 wieder, die Zeiten der engen, vertrauensvollen Abstimmung zwischen Washington und Bonn seien nunmehr vorbei. Man solle sich in Bonn darauf einstellen, dass die USA ihre eigenen Wege gehen würden. Das ließe den Umkehrschluss zu, die USA seien in den Jahren zuvor nicht ihre eigenen Wege gegangen und hätten womöglich auf freundschaftlichen Rat aus Bonn gehört – eine Illusion, denn beide deutsche Staaten, auch die Bundesrepublik, befanden sich im kalten Krieg in einer Situation der begrenzten Souveränität gegenüber ihren jeweiligen Schutzmächten.
Auf den Kern der heutigen Europa- und Deutschlandpolitik der USA kommt Wimmer zu sprechen, als er den Auftritt von George Friedman, konservativer Vordenker des amerikanischen sicherheitspolitischen Establishments, 2015 vor dem „Council on Foreign Relations“ wiedergibt. Friedman stellte die These auf, seit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 sei es Ziel amerikanischer Politik, eine gedeihliche und gutnachbarschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland nachhaltig zu hintertreiben. Wimmer zieht daraus den Schluss: „In einer engen und friedlichen Zusammenarbeit dieser beiden kontinentaleuropäischen Staaten sehen offenbar heute bestimmte amerikanische Kräfte eine der größten Bedrohungen für eine ausgreifende amerikanische Globalpolitik.“ Und er vermutet, dass es eine „Akte Moskau“ gebe (so ja auch der Buchtitel), in der alles gesammelt würde, was gegen Russland in Stellung gebracht werden könne. Bereits heute stünden westliche Panzer wieder 150 Kilometer vor St. Petersburg, was die Russen fatal an die Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg erinnere. Und er stellt die berechtigte Frage: „Sollen wir wirklich wieder diesen Weg der Feindschaft antreten, weil es den Planern in Washington gefällt und unsere Regierung zu schwach ist, sich deren Monopolanspruch entgegenzustellen?“
Der Autor schätzt ein, dass wir einem neuen Weltkrieg so nah sind wie seit 1945 nicht mehr. Die Hauptschuld trage die NATO, „wir und unsere Partner“, die unermessliches Leid über Nachbarregionen gebracht habe. Und er nennt Dinge beim Namen: den „völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien“, den Maidan-„Putsch westlich gesteuerter Kräfte gegen eine legitime Regierung in der Ukraine“… Als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE von 1994 bis 2000 verfügte Wimmer über eine herausragende Position, um die Auseinandersetzung über die europäische Sicherheitsordnung aus nächster Nähe zu verfolgen: eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur unter Einbeziehung Russlands oder eine Ausdehnung des USA- Einflusses bis in die Nachfolgestaaten der Sowjetunion durch Ost-Erweiterung der NATO. Willy Wimmer, der sich frühzeitig unter anderem in einer Denkschrift an Helmut Kohl gegen eine Erweiterung der NATO ausgesprochen hatte, stellt in seinem Buch resignierend fest: „Die Vereinigten Staaten, auf die es in Europa mehr denn je ankommen sollte, wollten kein Modell zur Lösung von Konflikten mehr, wie es die KSZE darstellte.“ Und auf die globale Situation bezogen: „Der Monopolanspruch der USA hat seinen blutigen Preis verlangt. Die Kriegsregionen sind weitgehend zerstört, die Lebensgrundlagen der Menschen nachhaltig vernichtet. Millionen haben sich auf die Flucht begeben und fragen auf dem Weg durch Europa niemanden nach einer Erlaubnis.“
Der Autor schildert den Versuch einzelner Politiker, nach der Wiedervereinigung die These von den „transatlantischen Beziehungen auf Augenhöhe“ ins Gespräch zu bringen. Sie wurde beispielsweise 1992 von Botschafter Frank Elbe, Spitzendiplomat und rechte Hand von Ex-Außenminister Dietrich Genscher, vertreten. Überlegungen, die auch Willy Wimmer teilte. Heute sagt Elbe in einem Interview: „Die USA können nicht zulassen, dass sich deutsches Kapital und deutsche Technologien einerseits und russische Rohstoffe und billige russische Arbeitskräfte andererseits zu einer einzigartigen Kombination verbinden. Die USA müssen daher einen Korridor aus Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien schaffen, der sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckt, um Deutschland und Russland voneinander abzuschneiden beziehungsweise zu schwächen.“ Willy Wimmer zieht in seinem Buch das Resümee, dass von „gleicher Augenhöhe“ zwischen den USA und der EU keine Rede sein kann, sondern deutlich wird, „in welchem Maße … die Europäische Union auf eine grundlegende Dominanz der Vereinigten Staaten zugeschnitten wurde“. Dennoch setzt er sich für eine fortdauernde Verbindung über den Atlantik ein, möchte aber die NATO lediglich in ihrer politischen Funktion erhalten, um die Vereinigten Staaten und Kanada in den europäischen Prozess einzubinden. Letzterem ist zuzustimmen, was aber auch ohne NATO durch die OSZE möglich wäre, in der beide Staaten gleichberechtigte Mitglieder sind.
Ein beachtlicher Teil des Buches ist der Abwicklung der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) und seinen dabei gesammelten Eindrücken und Erfahrungen gewidmet. Wimmer hatte von Verteidigungsminister Stoltenberg freie Hand in der Entwicklung von Kontakten zum Militär der anderen Seite erhalten. Als Zeitzeuge gewährt er interessante Einblicke in diesen besonders heiklen Prozess der Vereinigung, wobei er nicht vor der Frage zurückschreckt, wer diese Entwicklung gesteuert haben könnte, etwa zivile und militärische Nachrichtendienste, sie jedoch nicht überzeugend beantwortet. Hochachtung zollt er in jedem Fall den militärischen Befehlshabern der NVA, die unter „schwierigsten psychologischen Umständen … für einen geordneten und vor allem sicheren Übergang über den 3. Oktober 1990 hinweg gesorgt“ haben. Ganz im Unterschied zur Führung des DDR-Verteidigungsministeriums unter „Bürgerrechtler“ Rainer Eppelmann, unterstützt von einem Gros an Westberatern, denen er Vernachlässigung der Fürsorgepflicht gegenüber den NVA-Soldaten und Versagen bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag vorwirft: „Ich bekam mehr und mehr den Eindruck, dass die Mitarbeiter von Minister Eppelmann in einer Weise über den Tisch gezogen wurden, die ich als verwerflich empfand.“
Der Autor schildert den Widerstand, den es gegen seine damalige Ansicht gab, die künftige Bundeswehr als gesamtdeutsche Streitmacht zu gestalten und den NVA-Soldaten den Wechsel zu ermöglichen. Schließlich gab die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 26. Juli 1990 mit einem Leitartikel unter der vielsagenden Überschrift „Auflösen-ohne Rest“ die Richtung vor. „Großzügig“ wurde in dem Artikel eingeräumt, dass einige Subalternoffiziere vielleicht für die Bundeswehr in Frage kämen, aber „sie sollten nach denselben Kriterien geprüft werden, nach denen die Bundeswehr jüngere Waffen-SS-Offiziere prüfte“. Folgerichtig scheiterten die Pläne des Autors zu einer mehr oder weniger gleichberechtigten Vereinigung beider Armeen.
Letztlich führten die spezifischen Ansichten des Autors zu sicherheitspolitischen Fragen spätestens nach seiner Kritik am Jugoslawien-Krieg zu einer weitgehenden Isolation in seiner Fraktion und einem faktischen Redeverbot im Bundestag.
Die Darstellung seiner vielfältigen politischen Kontakte und Gespräche ist zwangsläufig stark subjektiv geprägt, bietet aber dennoch oder gerade deshalb einen aufschlussreichen Einblick in politische Abläufe des Vereinigungsprozesses. Dabei scheut sich der Autor nicht vor klarer Sprache und Einschätzungen, die dem Mainstream und der heutigen politischen Korrektheit in der Bundesrepublik deutlich widersprechen. Angenehm fällt die Empathie auf, die er für sein damaliges politisches Gegenüber, ob sowjetische Militärs oder NVA-Angehörige, aufbringt, sowie die Tatsache, dass er sie nicht von der Warte des ständig besser wissenden und alle Nationen wohlfeil belehrenden Deutschen sieht, wie sie wieder einen Großteil unserer Medien beherrscht. Aus linksliberaler Sicht, die wohl im Wesentlichen für den Leserkreis des Blättchens zutrifft, sind manche Aussagen des Autors schwer verdaulich. Zumindest trifft das für den Rezensenten zu. Dennoch hat es Sinn, sich auf das Buch einzulassen.

Willy Wimmer: Die Akte Moskau. Verlag zeitgeist, Höhr-Grenzhausen 2016, 324 Seiten, 24,80 Euro.