Berittener Vorstoß aus dem Süden

Zu Beginn des Jahres 2002 erlebte das Land eine unerwartete Sensation, als aus der Tiefe des Raumes der südlich vorgelagerten Bergregion einer auftauchte, ...

... der sich in wohlgesetzten Worten anheischig machte, die zunehmenden Unzulänglichkeiten der Moderne zu meistern, wo nicht gar gänzlich zu beheben.
Das Land war, daran sei erinnert, in den vergangenen drei Jahren von den nordischen Tigerreitern beherrscht worden, deren oberster standesgemäß den mächtigsten Tiger ritt, ein imposantes Tier mit rosa Ohren und einem diamantenbesetzten Schwanz, dessen wie Peitschenschläge wedelndes Zucken schon ausreichte, das Volk zu disziplinieren, zumal es jeweils im Fernsehen gut ausgeleuchtet vorgezeigt wurde.
Hatte also der amtierende Tigerreiter von seinem Hochsitz aus den ganzen Laden unter Kontrolle, schlichen sich doch Läßlichkeiten ein, die Ärger bereiteten und das Zuschauervolk rund um die Manege mißgünstig stimmten. Der Regierende auf seinem Prachttier verkündete zwar, seine starke Hand korrigiere souverän alle Ungeschicklichkeiten, für die eindeutig die Reiter viel kleinerer Tiger verantwortlich seien, doch der von den südlichen hohen Bergen herbeigaloppierende Neuling im Kampf um die Gunst des Publikums brachte den ganzen Zirkus nicht nur mit seinen Worten in Unordnung, nein, er behauptete zudem, in seinem Herkunftsland sei die Luft sauberer, das Wasser klarer, der Schnee weißer, der Himmel höher und blauer. Was den Ablauf der Vorstellungen jedoch am meisten störte, war ein fataler Umstand, mit dem die Berater des amtierenden Tigerreiters nicht gerechnet hatten: Der frisch Gekürte aus der südlichen Berglandschaft saß nicht wie der nördliche Staatsparteienadel auf dem Rücken eines Tigers - nein, er ritt einen Löwen. Und daß dies das Staatstier des Berglandes sei, wie gemunkelt wurde, erhöhte die Unsicherheit noch, denn es war seit den Zeiten des antiken Roms in Europa nie mehr zum Kampf zwischen Tiger und Löwe gekommen. Eine aus den mecklenburgischen Sümpfen aufgetauchte Mitbewerberin mit dem seltsam latinisierten Namen Merculina schlug der Löwenreiter bereits aus dem Rennen. Ritt sie doch leichtfertig nur einen vom Hamburger Tierpark Hagenbeck ausgeliehen grazilen Puma, den der Löwe beinahe auf einen Happen verfrühstückt hätte. Das war ein Warnsignal, aber der regierende Tigerreiter reagierte gelassen und ließ sich von der elegant schielenden Domina und Dompteuse Illna im Zweiten Staatszirkus vorführen, worauf der Erste Staatszirkus seine Chefdompteuse Christia ins Rennen schickte, die dem Südland-Cowboy auf den Zahn fühlte. Weil er seinen Löwen draußen vor der Tür auf dem Parkplatz abstellen mußte, geriet Edmundus in Wortfindungsturbulenzen, machte aber ansonst gute Figur, obgleich die Chefdompteuse einige Male fast ernsthaft mit der Peitsche knallte. Er reite weder rechts- noch linksherum, sondern nur zum Wohle des Volkes, meide frühere Abstürze, sei würdiger Großvater und wolle mit dem Segen Gottes Gesamtlandesvater werden. Überdies sei er seit Jahrzehnten ehern verheiratet und würde höchstens im Ernstfall eine zweite Ehe eingehen, jedoch nur mit einer Ostfrau. So präsentierte sich der Südlandlöwenreiter, und dabei sah er im zu zwei Dritteln beherrschten Gesicht oberhalb der Lederhose und dem Laptop in der Tasche geradezu gütig drein.
So kann man sich täuschen. Die Herren Berater des regierenden Tigerreiters merkten auf. Selbst ein zielbewußt unters Publikum gemischter Roter hatte den Löwenreiter nicht zur Polemik verführen können, wenn auch dessen draußen geparktes mähnenstarkes Raubtier ein unwilliges Gefauche hören ließ.
Früher waren dem Löwen unbotmäßige Widersacher unverzüglich zum Fraße vorgeworfen worden. Müßte er sich nun auf Vegetarisches umstellen oder gar hungern? Wie es heißt, wollen die Ratgeber des noch regierenden Tigerreiters ihren Herren umsteigen lassen - auf einen riesenhaften indischen Kriegselefanten. Denn: Sicher ist sicher.