Erinnere dich, Schwester

Unsere Schulen und Hochschulen sollen "schußreif" gemacht werden für einen radikal neoliberalen Umbau. Die Standards der Ausbildung setzt die Wirtschaft, der allein an der "employability" gelegen is

Meine Sympathie für die SPD hat viel mit persönlicher Dankbarkeit zu tun. Ich bin ein Produkt sozialdemokratischer Bildungspolitik. Als man Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entdeckte, daß in der BRD nur sechs Prozent eines Altersjahrganges das Abitur ablegten, während es in westlichen und nördlichen Nachbarländern bereits zwischen fünfzehn und 25 Prozent waren, wurde die erste deutsche "Bildungskatastrophe" ausgerufen. Eine bildungspolitische Kunstfigur machte damals von sich reden, "das katholische Arbeitermädchen vom Lande". Wer katholisch statt evangelisch war, Mädchen statt Junge, wer aus der Arbeiterschicht statt aus dem Bürgertum kam, vom Lande und nicht aus der Stadt, der war das am meisten unterprivilegierte Geschöpf der bundesdeutschen Bildungspolitik. Und ich war der leibhaftige Bruder dieses künstlichen Mädchens, ich war der katholische Arbeiterjunge aus tiefster deutscher Provinz.
Dank der nun einsetzenden "Bildungswerbung" und der Ausschöpfung von "Bildungsreserven" gerade in sozialdemokratisch geführten Bundesländern kam auch ich zu Abitur und Studium. Zweifellos war die SPD damals die Anwältin der "Breitenbildung" und forcierte die Emanzipation "bildungsferner Schichten". Aufbaugymnasien und Abendschulen hatten großen Zulauf, und Frankfurts SPD-Stadtrat Hilmar Hoffmann rief die "Kultur für alle" aus. In der Breitenbildung war die sozialdemokratische Partei Spitze.
Heute bin ich selbst Hochschullehrer. Noch immer kommen wenige Studenten aus "einfachen Verhältnissen". Es sind zwar insgesamt mehr geworden, aber es sind immer noch nicht genug. Fünfzig Prozent sollen studieren, so wollen es alle, die etwas zu sagen haben; heute sind es zwischen dreißig und vierzig Prozent eines Altersjahrganges. Jedoch zirka fünfzehn Prozent mehr als noch 1984. Die öffentlichen Mittel für Hochschulen liegen heute hingegen um fünfzehn Prozent unter denen von vor zwanzig Jahren. Aufgaben genug für eine genuin sozialdemokratische Hochschulpolitik, sollte man meinen!
Statt dessen fordert nun die Sozialdemokratie elitäre Mini-Universitäten, als ob die Rettung Deutschlands von einem "Stanford" oder "Harvard" oder auch nur "St. Gallen" auf deutschem Boden abhänge. Ausgerechnet aus dem Munde eines Volksschulabsolventen und gelernten Industriekaufmanns (Franz Müntefering) müssen wir die Forderung nach "Hochleistungsuniversitäten" vernehmen. Ausgerechnet eine auf dem zweiten Bildungsweg (erinnere dich, Schwester!) zum Lehrerexamen gekommene Binnenschifferstochter (Edelgard Bulmahn) möchte uns "eine bis zehn Elite-Unis" bescheren.
Der Fachbereich, an dem ich lehre, hat sich 2001/02 am bundesweiten Hochschul-Ranking des renommierten Centrums für Hochschulentwicklung in Gütersloh beteiligt. Wiederholt wurden Studierende und Professoren gebeten, Fragebögen auszufüllen und Stellungnahmen abzugeben. Die Verwaltung erstellte Statistiken über Studiendauer, Noten-Durchschnitte und Abbrecher-Quoten. Alles in allem viel Zusatzarbeit, die sich über ein halbes Jahr hinzog. Im Frühherbst 2002 wurde das Ergebnis im Stern veröffentlicht. Von 59 bewerteten Fachbereichen belegten wir den zweiten Platz bundesweit und den ersten Platz in unserem Bundesland. Man ließ uns jedoch keine Zeit, um stolz zu sein. "Makulatur" überschrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihren Bericht über das Ranking. Und die Wissenschaftsministerin meines Bundeslandes reagierte in SPD-typischer Flucht nach vorn: "Ein neues Ranking muß her!"
Darin äußert sich die eine von zwei Haupttendenzen unserer Bildungspolitik und veröffentlichten Meinung über Schulen und Hochschulen: Wo sich Gutes findet, wird es schlecht gemacht. Aus unserer Sicht muß ich das so sagen. Wir sind gut; aber das wird ignoriert. Den deutlichsten Ausdruck findet diese systematische Entwertung von qualitativer Klasse derzeit in der rasanten Abschaffung der allseits anerkannten deutschen Hochschul-Diplome zugunsten angloamerikanischer Bachelor-Abschlüsse. Das geschieht ohne Not und allein im zweifelhaften Namen einer europaweiten Vergleichbarkeit der Zeugnisse.
Die andere Tendenz unserer Bildungspolitik besteht darin, das weniger Gute noch schlechter zu reden, als es tatsächlich ist. Die drei großen internationalen Vergleichsstudien über das Leistungsvermögen von Schülern (TIMSS 1997, PISA 2000 und IGLU 2003) weisen den deutschen Schülern Plätze im Mittelfeld, bei IGLU (= Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) sogar an der Spitze der Rangliste zu. Unsere Politiker jedoch reden über unsere Schüler wie über den letzten Dreck, verspotten unsere Lehrer als wenig streßresistente Drückeberger und versehen die deutschen Schulen mit der roten Laterne des Schlußlichtes.
Was bezweckt dieser bildungspolitische Nihilismus? Vielleicht dieses: Unsere Schulen und Hochschulen sollen "schußreif" gemacht werden für einen radikal neoliberalen Umbau. Die Verabschiedung des Humboldtschen Begriffes einer "übernützlichen Bildung" zugunsten einer strikt anwendungsbezogenen "Qualifikation" ist in vollem Gange. Die Standards der Ausbildung setzt die Wirtschaft, der allein an der "employability" (eines der meistbenutzten Wörter in den Papieren zur gegenwärtigen Hochschulreform) der Absolventen gelegen ist, ohne daß sie gewillt ist, diese auch wirklich zu beschäftigen.
Und wer zieht diesen bildungspolitischen Karren des Kapitals, wer glaubt, der Wirtschaft vermittels Elite-Hochschulen nobelpreisreife Patent-Produzenten zuführen zu müssen, ohne dafür Ertragssteuern kassieren zu dürfen? Die Standort-Deutschland-Patrioten der Sozialdemokratie, irgendwie schwer entwurzelte Genossen aus einfachen Verhältnissen, die ihr parteipolitisches Heil in neoliberaler Innovationshektik suchen.

in: Des Blättchens 7. Jahrgang (VII) Berlin, 19. Januar 2004, Heft 2