Den Verstand abtropfen lassen

1968 in Romanen und Erzähltexten (II)

Aus: Forum Wissenschaft 4/2008

 

„1968“ wird seit dem vergangenen Jahr hoch und runter konjugiert – streitig, wie es sich gehört bei diesem Thema und angesichts der An- und Enteignungen, denen es unterworfen war im Lauf der seitdem gemachten Geschichte. Wer sich die heute aneignen will, kommt nicht zu kurz beim Lesen von Erzählungen und Romanen, vor allem der von Beteiligten geschriebenen. Werner Jung kennt sie und destilliert Wesentliches aus ihnen – hier der zweite Teil und Schluss.

Klar, die Welt muss anders werden: Der Imperialismus muss bekämpft, die Dritte Welt befreit und die Gesellschaft, in der man lebt, womöglich unter Herstellung neuer Bündnisse und Allianzen, gar in Verbindung mit der Arbeiterbewegung, radikal verändert werden. Man muss auf die Straße, lauthals protestieren und agieren, wenn notwendig auch unter Anwendung von Gewalt, auf jeden Fall gegen Sachen: von der Stinkbombe über Steinwürfe bis zum Barrikadenkampf. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille, weiter muss gefragt werden nach der Selbstveränderung, danach, wie das einzelne Subjekt sich (und sich zu sich) verhält. Und in diesem Punkt beweisen auch bei heutiger Lektüre die Texte von Schneider, Timm oder Fuchs ihre Weitsicht, denn sie verdeutlichen einmal mehr die Sensibilität, ja enorme Verletzlichkeit der studentischen Akteure und jungen Intellektuellen. Gerade in der Intimsphäre werden – aller verbalen Rabulistik zum Trotz – die Gefahren und Gefährdungen offenbar: Schneiders Lenz „tat“ sogar einmal die Zärtlichkeit einer Freundin geradezu „körperlich weh“; er leidet außerdem darunter, „dass er sich nicht würde mitteilen können“.1 Fuchs liefert in seinem Beringer eine plausible Erklärung hierfür, wenn er seinen Protagonisten immer wieder die Sprachlosigkeit und Ohnmacht im Elternhaus erleben lässt.2

Wo sollen also das neue Denken und Fühlen herkommen, wenn die üblichen Sozialisationsmuster einerseits durch Tradition und Autorität bestimmt, andererseits von kalt schweigenden Eltern geprägt worden sind? Diese merkwürdige biographische Situation, die als generationstypisches Stigma verstanden werden kann, vermag dann auch zu erklären, dass die zunächst dezisionistischen Elemente und voluntaristischen Aktionen schlussendlich zugespitzt werden: in der Gründung dogmatischer Kaderparteien, im Terror des Untergrundkampfes. Auf jeden Fall handelt es sich um eine Art von Heilssuche, als Akt der Entäußerung in ein (fremdes und anderes) Kollektiv, das man Partei, Klasse oder – schlicht und ergreifend nur – richtiges Bewusstsein nennen kann. Dementsprechend bietet sich für die Protagonisten in den Romanen und Erzählungen als letzter Hoffnungsschimmer, nachdem sich in den wenigen Monaten zwischen Frühjahr 1967 und Sommer 1968 ein Auseinanderbrechen der Bewegungskultur abgezeichnet hat, die Arbeiterbewegung an – bei Timm und auch Fuchs in Form der soeben wiedergegründeten kommunistischen Partei. Die Studenten schließen sich ihr an, arbeiten in ihren Betriebsgruppen mit, wobei sie, wie es ihnen ein Arbeiter in Schneiders Erzählung zu Recht vorhält, häufig genug einer Idealisierung und Stilisierung des Typus Arbeiter (womöglich gar nicht soweit entfernt von Ernst Jüngers Darstellung des Arbeiters?!) vornehmen: „In Wirklichkeit“, so der Arbeiter Wolfgang gegenüber Lenz, „stellst du dir unter mir so jemanden vor, wie du selber gern sein möchtest. Zum Teil jedenfalls, denn dein ganzes Leben lang ackern möchtest du nicht. Du hast nicht gelernt, dich deiner Haut zu wehren, also muss ich groß und stark sein und gleich mit der Faust zuschlagen, wenn mir was nicht passt.“3

Sei’s – Dinge sind auf den Weg gebracht worden, erstarrte gesellschaftliche Verhältnisse ins Wanken geraten, und am Ende des Romans „Heißer Sommer“ hält der Germanistik-Student Ullrich eine utopische Einsicht als unverloren fest: „Es gibt ein realisierbares Glück für alle: Eine befriedete Welt, eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung.“4 Gerd Fuchs’ Beringer sekundiert, wenn es im letzten Satz heißt: „Jetzt fängt es doch erst an.“5

Erinnerungsarbeit

Auf authentische Art und Weise kann der Leser anhand von Karin Strucks autobiographischem Erstling, dem Roman „Klassenliebe“, die Nöte einer jungen Frau erfahren und nachvollziehen, einer Studentin, die es nicht geschafft hat, in der Endphase der Bewegungen – also schon Anfang der 70er Jahre – für sich selbst eine Antwort auf die vielen Widersprüche und Antinomien, die Rivalitäten konkurrierender Gruppen und das eigene Begehren zu finden. Als Arbeiterkind an die Universität gekommen, hadert sie mit den Genossen und leidet an der eigenen Unfähigkeit, sich die Theoriegebäude anzueignen, ja, eine Vermittlung von Theorie und (entfremdeter) Praxis herstellen zu können. Eine Szene wie die folgende braucht daher gar nicht ausführlicher kommentiert zu werden: „In Bonn ging ich mit einer Tasche voll Kapitalbänden zum Rhein, stand eine halbe Stunde im Dunkeln am Geländer vor der Rheinbrücke, wartete, bis gerade kein Auto kam und versuchte, zu springen, aber ich überwand meinen Lebenswunsch nicht, und nach einer halben Stunde kehrte ich mit meiner Tasche voll dicker Kapitalbände zur Herwarthstraße zurück, lächerlicher Versuch, […].“6

Zwei Jahre früher, 1971, spielt Hermann Lenz’ Erzählung „Der Tintenfisch in der Garage“, in der die Literaturkritik seinerzeit bloß eine reaktionäre Kritik an der Studentenbewegung feststellen zu können glaubte. Dabei demonstriert der damals bereits 64-jährige Autor nachdrücklich, wohin Dogmatismus und Radikalismus bei sensiblen Intellektuellen führen können: entweder zu dezisionistischen Gewaltakten oder, wie im Schick­sal einer Protagonistin der Erzählung, zum Selbstmord. In beiden Fällen handelt es sich um einen Ausdruck derselben Entfremdung, nämlich einer Entfernung von sich selbst, die Preisgabe der eigenen Authentizität und subjektiver Bedürfnisse. Im Unterschied zur positiven Figur Ludwig, einem jungen Germanistikstudenten, der sehr viel Wert auf den eigenen inneren Bezirk legt („der den anderen unerreichbar ist“), wird Frl. Dr. Schnell „umfunktioniert […] auf gesellschaftspolitische Relevanz.“ „Die Herrschsucht“, so kommt es Ludwig vor, „wurde vom Zeitgeist gehätschelt, und sie nannten das ,Bewusstseinsbildung‘; das Bewusstsein nach ihrem Sinn verändern, darauf kam es ihnen an, andere gleichschalten und sie zwingen, dass sie dachten wie sie.“7

Ob man sagen kann, dass die früheren Heißsporne im Kampf ums richtige Bewusstsein und die Überwindung von Entfremdung und Verdinglichung (marxistischen Eingedenkens) just davon wieder eingeholt worden sind?, gemäß der Vermutung: Sie haben sich von sich selbst entfernt, ebenso von der eigenen inneren wie der äußeren Natur. Dazu zwei kleine Textbeobachtungen. Schon in Schneiders „Lenz“ – und zwar gleich zweimal – erscheint es der Hauptfigur so, als würden morgens „die Vögel brüllen“; bei Karin Struck schreien die Vögel, schon morgens.8 Das indiziert weit mehr als bloß eine kleine stilistische Unsicherheit, nämlich ein gestörtes Verhältnis zur Natur und eine Art von Unbehaustheit. Je maßloser die Ansprüche, umso größer und nachhaltiger daher die Enttäuschung und der Frust.

Uwe Timm lässt das Thema der Studentenbewegung nicht los. In seinem Roman „Rot“ erzählt er die Geschichte jenes inzwischen in die Jahre gekommenen Alt-68ers Thomas Linde, der sich als Leichenredner und Jazzkritiker mehr schlecht als recht durchschlägt. Es ist die stinknormale Biographie eines präpostmodernen Verweigerers, der mit Witz und Idealen einer widerständigen Realität trotzt. Hauptsache durchkommen, Spaß dabei haben und sich weder kujonieren noch korrumpieren lassen. Also einer von denen, die sich erst gar nicht auf den langen Marsch durch die Institutionen begeben haben, um dort dann Karriere zu machen, sondern vielmehr ein echter ,Fundi‘. Aus der Partei ist er zwar niemals ausgetreten – er hat bloß einfach irgendwann sein Parteibuch nicht erneuern lassen –, doch an den Engel der Geschichte, sprich: das teleologische Finale samt praxisphilosophischer Armatur durch die Klassiker (Marx, Lukács, Gramsci) glaubt er schon längst nicht mehr. Genau das aber – die Idiosynkrasien, diese Widersprüche – macht diese Figur so sympathisch.

Neben sie hat Timm zwei andere Personen gestellt, die zwei Sackgassen der Geschichte deutlich machen, zwei biographische Holzwege zeigen: Da ist zum einen jener (in der Geschichte bereits tote) Aschenberger, auf den – und das bildet gleichsam das äußere Gerüst des Romans – Thomas die Leichenrede halten soll, zum anderen trifft Linde auf einen Spezi aus frühen Tagen, Edmond, dessen Leben als steinreicher Weinhändler, nachdem ihn seine Frau verlassen hat, völlig aus dem Ruder geraten ist. Aschenberger verkörpert den Typus des (ehemals) bedingungslosen Intellektuellen und Rationalisten, des Asketen und Gesinnungsethikers reinsten Wassers, der sich – unbekümmert und verantwortungslos – durchs Leben schlägt, einen familiären Schutthaufen zurück­lässt, aber immer stoisch die ,reine Lehre‘ hochhält. Bis ihm am Ende seines Lebens wohl in einer plötzlichen Anwandlung die ganze Sinnlosigkeit seiner auf Intellektualität abgestellten Existenz, seine linke schöne Seele, wenn man so will, klar wird und er auf die aberwitzige Idee kommt, mit einem Anschlag auf die Siegessäule ein Zeichen zu setzen. „Es sollte nur ein Stumpf stehen bleiben, eine geborstene Säule, ein Kenotaph. Ein Zeichen setzen. Die Siegessäule als Ruine, wie die deutsche Geschichte.“ Auf der anderen Seite dagegen Edmond, der Schönling und frühere Heißsporn, Gründer der einstmaligen Romanistischen Roten Zelle, zugleich ein exzellenter Weinkenner, der den angepassten Karrieristen verkörpert und seine DM-Scheinchen ins palastartige Anwesen gesteckt hat, um am Ende resigniert feststellen zu müssen: „Dieses Scheißleben, das kann doch nicht alles sein.“9

In der Tat – aber wie kann es anders gehen oder laufen oder wie auch immer? Doch Timm schreibt keinen Thesenroman, weiß es niemals besser, sondern hält sich als kluger Erzähler bei den (Alltags-)Geschichten seiner Figuren auf, die er – immer aus der Perspektive von Thomas – meist liebevoll porträtiert. Er führt Lebensläufe vor, berichtet von Stagnationen und gescheiterten Biographien, verwebt eine Vielzahl von kleinen und kleins­ten Geschichten und Schicksale in die Maschen jener großen Geschichte, die keiner von uns wirklich kennt – mit Ausnahme vielleicht jenes Engels der Geschichte, dem man ohnehin, wie es einmal heißt, „an die Flügel“ muss. Allwissenheit – so ließe sich Uwe Timms hübscher Einfall deuten, auf der ersten Seite bereits seinen Protagonisten als Verkehrstoten und Engel himmelwärts zu schicken und von dort das Erdentreiben (wie der Humorist bei Jean Paul) beobachten zu lassen – gibt es nur andernorts, draußen, dort, wo alle Helden schon tot, aber – oder vielleicht gerade deshalb erst – so gut erzählbar sind.

Eine gänzlich andere Art von Erinnerungsarbeit betreibt schließlich Erasmus Schöfer in seiner ehrgeizigen Tetralogie „Kinder des Sisyfos“, in der die Geschichte der Linken in der alten Bundesrepublik von 1968 bis zum (vorläufigen) Ende 1989 erzählt wird. Im ersten Band „Ein Frühling irrer Hoffnung“ werden wir ins Jahr 1968 und in die bayerische Landeshauptstadt geführt, die von Studentenunruhen, Demonstrationen der Apo gegen die Notstandsgesetze und Theaterquerelen beherrscht ist. Viktor Bliss, einer der Protagonisten des mehrperspektivisch erzählten Romans, ist soeben von Wolfgang Abendroth in Marburg promoviert worden und seiner Frau Lene, die als Gewandmeisterin an den Kammerspielen für Peter Stein arbeitet, nachgereist. Plötzlich befinden sich beide inmitten des hektischen politischen Geschehens, sind gezwungen, Farbe zu bekennen und sich zu engagieren. Es stellt sich – immer zwingender – die Frage nach der Organisation. Was tun? Vor allem aber wo und mit wem. Die alte KP ist dabei, sich unter neuem Namen und Programm wieder zu formieren, doch es drohen bereits erbitterte Richtungskämpfe, der Streit um die rechte Auslegung: „Die Partei und ihre Ideologie ist eine Rüstung, die jeden Genossen schützt.“10 Man ahnt schon die heillosen späteren Verwicklungen. Viktor Bliss fühlt sich hin- und hergeworfen, tritt sogar einmal als Redner auf, ist dann Peter Steins wissenschaftlicher Berater. Überall gärt und brodelt es, gibt es politischen Widerstand gegen die Herrschenden, die westdeutsche Reaktion und Klerisei, meldet sich auch, tastend und suchend noch, das neue sinnliche Begehren an – die Experimente an der Beziehungs- vulgo Sexfront.

Schöfers Roman, von Rezensenten als „Wunschbiographie“ bezeichnet, versteht sich als Zeitroman, wie auch der Untertitel lautet, und ist als solcher heute bereits wieder ein historischer Roman, der von einer Vielfalt der Perspektiven lebt. Figuren der Zeitgeschichte – Wissenschaftler, Literaten, Künstler und Theaterleute11 – tauchen auf und werden zwanglos mit der Geschichte um Viktor und Lene verknüpft, so dass ein dichtes atmosphärisches Panorama jener Jahre entsteht. Zugleich beharren Erasmus Schöfer wie auch Viktor Bliss darauf, dass Literatur in dem Sinne realistisch ist, dass sie zugleich engagiert und parteilich auftritt – wenngleich auf eine undogmatische, kritische, ja skeptische Art und Weise. Schöfer erzählt – und das machen alle vier Bände der Tetralogie, deren großes Vorbild Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“ ist, deutlich – entlang der faktischen historischen Entwicklung der Bundesrepublik die Geschichte der linken Bewegungen – der parteilich organisierten ebenso wie der Protestbewegungen (Friedens-, Umwelt- und Ökobewegungen). Dabei verteilt er die Erzählperspektiven auf eine Reihe von Figuren, deren persönliche Entwicklung nicht post fes­tum berichtet wird, sondern die sich in und mit der fortlaufenden Geschichte der BRD verändert. Da ist dann auch von Widersprüchen und Antagonismen die Rede, von Enttäuschungen und Schick­salsschlägen, von neuen Aufbrüchen und alten Vorurteilen.

Am Ende – 1989 –, als scheinbar alles den Bach herunter gegangen ist, der real existierende Sozialismus und mit ihm auch die moralische wie politische Deutungsmacht der Linken, lassen die Freunde in der Silvesternacht, die einige Genossen in Duisburg-Rheinhausen (in Erinnerung an den dortigen Arbeitskampf bei Krupp) zusammengeführt hat, einen „roten Fetzen“ am Stahlwerk, hoch über dem Rhein, aufziehen. Noch ist eben doch nicht alles vorbei! „Ein Lachen packte sie unwiderstehlich, eine überschäumende Freude, und Anklam, plötzlich wieder neben ihnen, wies mit dem Strahl seiner starken Lampe nach oben, zu der Kranhütte, über der tatsächlich der rote Fetzen flatterte.“

Anmerkungen

1)

Schneider, S.17.

2)

Fuchs, Gerd: Beringer und die lange Wut. Roman. München 1973, S.46ff.

3)

Schneider, S.34.

4)

Timm (1975), S.311.

5)

Fuchs, S.294.

6)

Struck, Karin: Klassenliebe. Roman. Frankfurt/M. 1973, S.176f.

7)

Lenz, Hermann: Der Tintenfisch in der Garage. Erzählung (1977). Frankfurt/M. 1980, S.16, 18, 19.

8)

Vgl. Schneider, S.6, 47; Struck, S.57.

9)

Timm, Uwe: Rot. Roman. Köln 2001, S.211, 240.

10)

Schöfer, Erasmus: Ein Frühling irrer Hoffnung. Roman. ( Die Kinder des Sisyfos. Bd. 1). Köln 2001; Schöfer, Erasmus: Winterdämmerung. Roman. (Die Kinder des Sisyfos. Bd. 4). Köln 2008. Zitat aus Schöfer (2001), S.349.

11)

– beiderlei Geschlechts

Prof. Dr. Werner Jung ist Hochschullehrer in Duisburg-Essen und Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er lehrt und forscht auf dem Gebiet der Neueren Deutschen Literaturgeschichte mit den Schwerpunkten Literatur des 18.-20. Jahrhunderts, Ästhetik, Poetik und Literaturtheorie sowie Editionsphilologie.
Der erste Teil seiner Analyse erschien in Forum Wissenschaft 3/2008.