Keine Geheimnisse vor dem Staat

"Die Dinge sind aus Datenschutzsicht ausgereizt." Mit dieser Ermahnung wandte sich Ende April Joachim Jakob an die Öffentlichkeit. ...

Der Bundestag hatte gerade Otto Schilys Anti-Terror-Gesetze um den Paragraphen 129b ergänzt (s. Rolf Gössner: "Strafrecht per Ministererlaß" in Ossietzky 10/02), da meinte der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, für weitere Eingriffsbefugnisse der Sicherheitsbehörden in Rechte der Bürger gebe es nun keinen Spielraum mehr.
Doch Christian Köckert (CDU), Thüringens rühriger Innenminister, will sogleich das Gegenteil beweisen, und zwar ausgerechnet bei der telefonischen Überwachung der Bevölkerung, obwohl Deutschland in dieser Disziplin schon seit Jahren unangefochten Weltmeister ist. 12651 Fälle richterlich angeordneter Telefonüberwachung weist die Justizstatistik für 1999 aus - ein sattes Plus von 170 Prozent in vier Jahren. Die Zahlen fielen noch eindrucksvoller aus, wäre bekannt, wieviele Telefongespräche belauscht wurden. Doch die Öffentlichkeit erfährt nicht einmal die genaue Zahl der jeweils abgehörten Apparate - in manchen Fällen ist es nur einer, in großen Ermittlungsverfahren können es aber auch schon mal 40 000 sein.
Nun will Köckert in eine "völlig neue Dimension der Telekommunikations überwachung" vorstoßen, wie der Vorsitzende der Humanistischen Union (HU), Till Müller-Heidelberg, festgestellt hat. Mit einem neuen Landespolizeigesetz will die CDU-Landesregierung in Erfurt das Abhören auch für präventiv-polizeiliche Zwecke gestatten. Ohne konkreten Verdacht auf eine Straftat soll die Polizei Zugriff auf Telefonate oder Faxe bekommen - jedesmal wenn irgendwer die Sicherheit des Staates gefährden könnte.
Wie immer will Köckert, der Anfang des Jahres in Verdacht geraten war, er mißbrauche den Verfassungsschutz, um Informationen über politische Kontrahenten zu erlangen, im Kampf gegen das Böse nur Gutes. "Keinen Überwachungsstaat", "keinen Orwell-Staat". Vielmehr wolle er, versichert der Minister, den Bürgern "mehr Sicherheit in Freiheit" schenken. Deshalb müsse die Polizei "konkrete Möglichkeiten erhalten, um Straftaten im Vorfeld zu verhindern".
Ein Pilotprojekt, an dessen Übernahme nach Informationen der HU der baden-württembergische Innenminister Thomas Schäuble (CDU) bereits Interesse bekundet hat. Vorher ist allerdings noch eine kleine Hürde zu überwinden. Die umschreibt Wolfgang Fiedler, der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Landtag zu Erfurt, mit den Worten: "Wir wollen ungern vor dem Verfassungsgericht landen."
Bislang gilt: Allein der Bund hat die Kompetenz, die Überwachung der Telekommunikation zu regeln; aus den Erfahrungen mit der Geheimen Staatspolizei resultiert zudem das rechtsstaatliche Trennungsgebot, wonach die Unterschiede zwischen geheimdienstlicher Telekommunikationsüberwachung und deren polizeilichem Einsatz zur Strafverfolgung nicht verwischt werden dürfen. Auch stellt sich einmal mehr die Frage, was vom Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnisses eigentlich übrig bleibt, wenn die Polizei verdachtslos gegen Bürger tätig werden darf.
Experten schätzen, daß die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland abgehört zu werden, bereits heute zwölf bis 14mal höher ist als in den USA - allen Grund- und Datenschutzrechten zum Trotz. Schon freut sich Fiedler, daß nicht alle befragten Juristen die neue Überwachungsinitiative aus Thüringen für verfassungsrechtlich unmöglich halten. Schließlich, so Köckert, habe sich seit dem Fall der Mauer eins grundlegend geändert: "Wir brauchen heute die Freiheit nicht mehr vor dem Staat zu schützen."