Das vergessene Dorf Maillé

Am 25. August 1944 tötete die deutsche Wehrmacht in Maillé 130 Menschen. Danach riß man den ganzen Ort ab und baute ihn wieder auf. Der Schmerz wurde verdrängt. Sechzig Jahre später erreicht ein

... daß die Augenzeugen ihr Schweigen brechen.

60 Jahre, ohne etwas sagen zu können. Die da jetzt sprechen, sind aufgeregt und angespannt. Es ist die Angst, etwas zu vergessen, nicht gut zu erzählen. Sie sprechen schnell. Zwischendurch lange Pausen. Sie schildern den Ablauf dieses Tages bis ins kleinste Detail. Ihres Tages. Es sind traumatische Bilder, die tief in ihrem Gedächtnis versteckt lagen, lange ignoriert und ausgeblendet.

25. August 1944. Im Dorf Maillé (Département Indre et Loire) tobt ein Massaker. 70 bis 100 deutsche Soldaten töten alles, was sich bewegt. Ein Baby bekommt eine Kugel in den Kopf. Eine Familienmutter wird mit dem Bajonett erstochen. "Sie löschten alles Leben aus", sagt Roger Buzele, einer der Bewohner. Einhundert brutale Morde. Ein Gedenkstein an der Nationalstraße Nr. 10, eine Tafel mitten im Dorf, eine Mauer mit Namen auf dem Friedhof, allein 17 aus einer einzigen Familie. Das ist alles. Maillé. Ein vergessenes Oradour-sur-Glane.

Als die Zeitzeugen zu erzählen beginnen, glaubt man, das alles sei erst gestern passiert. An diesem Tag brach für sie eine Welt zusammen. Die Regisseurin Josiane Maisse hat erst ein Jahr zuvor von Maillés Tragödie gehört. Sie suchte nach Augenzeugen, die heute zwischen 62 und 80 Jahren alt sind, um einen Film zu machen.1 So etwas erlebten die Menschen von Maillé zum ersten Mal. Als das Schreckliche passierte, waren sie Kinder oder Jugendliche gewesen. Ihre Eltern sprachen nie mit ihnen darüber.

Kein Gedenken und keine Aufarbeitung. Schweigen gegenüber jedermann. Erst als die Regisseurin, eine Außenstehende, auftauchte, sprudelten die Erinnerungen.
Warum dieses Schweigen?
Gisèle hat das Massaker in einem Keller überlebt. Sie hörte die Schüsse und Schreie. Sie bekennt: "Wir haben nicht einmal untereinander darüber gesprochen. Es ist unglaublich, wie viele Menschen nicht wissen, was in Maillé geschehen ist." Gisèle hat es von ihrer Mutter erfahren. Sie bedauert, daß die Ortsverwaltung, der Staat sich damals herausgehalten haben. "Wir haben keine Hilfe erhalten", erklärt sie. "Bei uns hat sich niemand sehen lassen. Oradour hat der Erzbischof von Limoges aufgesucht. Das hat ihnen geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. Uns dagegen hat niemand geholfen."

Der Auslöser

Martial Bourguignon bestätigt dieses Gefühl, von allen verlassen zu sein: "Es ist ein Jammer, daß erst nach 59 Jahren Leidensweg jemand kommt, um etwas zu unternehmen." Reden. Einige können das nicht. Wie Serge, der gar keinen Drang danach verspürt. "Ich hatte den Schlüssel zur Kirche, ich habe sie für Besucher geöffnet, die etwas sehen wollten. Ich mußte also reden. Das tat weh." Etwas sagen. Aber die Worte bleiben aus.

Serge Martin sagt: "Ganze acht Tage lang hat damals niemand ein Wort gesagt. Alle waren im Schock, am Boden zerstört. Nur manche redeten leise untereinander." Pause. Dann wieder Serge: "Meine Familie ist massakriert worden. Ich kann mich nicht erinnern, daß jemand mit mir je darüber direkt gesprochen hat. Es hat nur Gesprächsfetzen gegeben." Als sie sich zum 50. Jahrestag, 1994, endlich aufrafften, war da ein "Auslöser" gewesen. Der frühere Bürgermeister meinte, man müsse etwas tun: "Wir sind die Letzten, denen man das noch glauben wird." Die letzten Überlebenden.

Roger Buzele spricht schnell. Als ob er rasch fertig werden will. Er berichtet vom Tag danach. Wie er durch das Dorf gegangen war, um die Toten einzusammeln. Er will nicht unterbrochen werden: "Wir waren Fünfzehn. Die ersten Toten, die ich zu Gesicht bekam, lagen auf dem Weg. Ein Fahrrad mit Anhänger. Darin zwei Kinder, getötet durch Genickschuß. Ein Mann, bäuchlings auf dem Boden liegend. Über die Leichen hatten sie eine Schicht Phosphor gestreut. Der Mann hatte keinen Hintern mehr, die Hunde hatten ihn angefressen. In einem Waschhaus lagen zwei Tote, im Rondell des Kreisverkehrs dreizehn. Aus Tours schickte man 40 Särge. Für mehr als 100 Tote."

Die Wiege

"Manche Leichen waren verkohlt. Einige hatten nur ein kleines Loch im Hinterkopf, anderen hatten sie den Schädel eingeschlagen. Man hatte Bleichlauge über die Toten gegossen." Roger kommt wieder zu Atem: "Wenn man so etwas gesehen hat, bleiben die Bilder für immer im Kopf." Er unterdrückt einen Schluchzer und endet mit dem Satz: "Der Jüngste war vier Monate alt. Mit einer Kugel im Nacken lag er in seiner Wiege. Der Älteste war 89."

Der Maquis

Nach diesen Berichten kommen die Gründe zur Sprache. Sie einzuräumen, fällt am schwersten. Einige nennen es "das Warum der Sache". Martial Bourguignon denkt laut, es sei eine Vergeltungsmaßnahme der Deutschen gewesen - wegen des Maquis 2: "Der Maquis hatte am Vortag einen Anschlag verübt. Wir waren es, die am Tag darauf dafür bezahlt haben." Der Maquis hätte Maillé schützen sollen, statt sich aus dem Staube zu machen. Martial denkt, wie die anderen auch, "ein normaler Mensch hätte so nicht handeln dürfen." Einige drücken ihren Abscheu aus. Alles nur Gerüchte, Erfindungen?

Martials Kinder stellen Fragen, die Deutschen betreffend: "Als sie die Kinder in ihren Wiegen töteten, müssen sie doch gefragt haben: ›Wofür das alles?‹"

Jean hat kurz darauf seinen Vater wiedergesehen. "Wir konnten über all das nicht reden. Wir fanden keine Worte. Wir waren im Schock." Auch er hat mit seinen Kindern nie darüber gesprochen. Claude stößt hervor: "Mir wurde gesagt: ›Es ist vorbei, das interessiert keinen mehr.‹" Sein Bruder wendet sich ihm zu: "Warum haben wir nicht darüber gesprochen? Gegenüber unseren Eltern haben wir einfach kein Wort herausgebracht. " - "Und eure Mutter?", fragt die Regisseurin. "Sie hörte auf den Vater. Und der hatte immer zu tun, wenn die Rede darauf kam."

Maillé. Es sind sehr einfache Menschen, die dort leben. Sehr arm. Des Lesens und Schreibens unkundig, wußten sie nicht, wie sie Schadenersatz beantragen sollten. Nach dem Drama sind viele aus dem Dorf fortgezogen. Pierrette erinnert sich, daß ihre Mutter auf dem Totenbett, aber noch bei Bewußtsein zu ihr sagte: "Meine Kleine! Was soll jetzt aus dir werden?" Am nächsten Tag brachte man das Kind fort. Sie hat ihre Mutter nicht lebend wiedergesehen. "Erst Jahre später ist mir bewußt geworden, daß in der Kiste, die ich an der Tür auf zwei Stühlen gesehen hatte, meine tote Mutter lag." Pierrette weint. Heute sammelt sie Erinnerungsstücke: die Stola von Pater Sornin, den Schlüssel zur Eisenbahnschranke. Ihre Kinder waren zum Gedenken gekommen, bis sie 15 Jahre alt waren. Dann wurde es ihnen zu viel. "Man muß ihnen verständlich machen, daß der Krieg eine schmutzige Angelegenheit ist. Und daß es ihn nie wieder geben darf."

Die Zeugenaussagen ergaben eine Sammlung von über 30 Stunden Dauer. "Zum 50. Jahrestag des Massakers von Maillé", sagt eine Archivarin des Departements, "haben uns viele lokale Würdenträger im Stich gelassen. Die Feiern in der Hauptstadt waren ihnen wichtiger."

Ein Massaker - im Schatten der Befreiung von Paris

Warum ist die Geschichte des Massakers von Maillé so unbeachtet geblieben? Yves Dauge, Senator und Bürgermeister von Chinon, räumt ein, "zu spät" davon Kenntnis genommen zu haben, "als es nicht mehr genügte, dort nur ein Blumengebinde niederzulegen". Man schwieg, weil am 25. August Paris befreit wurde. Das Freudenfest überdeckte die Tragödie. Im Gegensatz zu Oradour, wo man die Trümmer stehenließ, wurde Maillé völlig abgerissen und danach wieder aufgebaut. "Man suchte das Vergessen, um sich nicht mehr an das Schreckliche erinnern zu müssen", sagt Dauge. "Dieser Entschluß, nach vorn zu sehen, war dem Gedenken abträglich", gibt Marc Pommereau, Präsident des Generalrates, zu. Und dann wirkte die Nähe zu Oradour - kaum 130 km entfernt - für Maillé wahrscheinlich wie eine "Konkurrenz". Gilbert Chedozeau, der von 1977 bis 2002 Bürgermeister war, hat nie versucht, "für die Interessen der Gemeinde einzutreten und ihr trauriges Schicksal laut und unüberhörbar herauszuschreien. Das kam mir ungehörig vor." Gleich nach dem Krieg hat sich ein wohlhabendes amerikanisches Ehepaar der Waisen angenommen, ihnen Möbelstücke, landwirtschaftliches Gerät und viele Geschenke geschickt.

Abgesehen von dem Buch "Märtyrer Maillé", das der Priester der Gemeinde, Abbe André Paillon, wenige Monate nach dem Massaker veröffentlichte, hat sich kein Historiker je für den Fall interessiert.

Aus dem Französischen übersetzt von LEONORA PLENER

Aus: Liberation (Paris), 24. August 2004, S. 11.

1 Dieser Film "Der zweite 25. August" wurde am 10. September 2004 in Maillé gezeigt.

2 Wörtlich: Gestrüpp, Buschwald; übertragen: Bezeichnung für den französischen bewaffneten Widerstand.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 175 (Mai 2005), S. 396-398

aus dem Heft:

VorSatz; Opfer des Faschismus LISA GAVRIC: Das Fragezeichen Mensch. Erinnerungen an Ravensbrück; DIDIER ARNAUD: Das vergessene Dorf Maillé; Die verdrängten Sieger LEONID LOPATNIKOW: Mit 18 im Krieg; WLADIMIR GALL: Der Freund Konrad Wolf; WOLFRAM ADOLPHI: Des jungen Leutnants Deutschland-Tagebuch; MATTHIAS BRIEGER: Wehrmachtsdeserteure in der Resistenza; "Umwertungen" JÜRGEN HOFMANN: Erinnerung contra Selbstentschuldung; WOLFGANG WIPPERMANN: "Wie die Juden"? Die Kontroverse über den Völkermord an Sinti und Roma; Nachkrieg MARIO KESSLER: Antisemitismus nach Hitler. Reportagen aus Nachkriegsdeutschland; GERHARD WAGNER: Von der "Lustigen Witwe" zum "Dritten Mann". Geschichtliche Dimensionen eines Nachkriegs-Filmklassikers; ILSEGRET FINK: Sigmund Freud - der vergessene Pazifist; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Summaries