Ein Gespenst geht um in Frankreich: Nuit Debout

Eindrücke einer Occupy-Aktivistin von Nuit Debout (Aufstehen/wach bleiben in der Nacht), Paris

Seit Ende März 2016, dem Beginn der großen Demonstrationen von ArbeiterInnen und Jugendlichen gegen das neue Arbeitsgesetz der Regierung Hollande, experimentieren Tausende in Frankreich mit neuen Formen der öffentlichen Diskussion. Die Bewegung „Nuit Debout“ ist auch ein Ausdruck des Bedürfnisses nach basisdemokratischen Diskussionen und Entscheidungsstrukturen von unten, von Angesicht zu Angesicht – und nicht nur allein vor dem Computer –, des Bedürfnisses nach direkter Demokratie. Wir berichten in dieser GWR in mehreren Artikeln von der Entstehung dieser neuen Diskussionformen auf der Place de la République in Paris und in der Provinz (Marseille, Saint-Denis). Den Anfang macht Marisa Holmes aus New York, die 2011 an den Aktionen von Occupy Wall Street beteiligt war und nun die täglichen Versammlungen auf der Place de la République in Paris darstellt. (GWR-Red.)

 

Im Frühjahr 2016 lancierte die Sozialistische Partei (PS) ein neues Arbeitsgesetz (siehe Kasten in dieser GWR), das eine bedeutende Änderung des Arbeitsrechts und weitaus prekärere Lebensbedingungen mit sich bringen würde. Diese zunehmend repressiven, ausbeuterischen Maßnahmen des Staates hätten ohne Opposition durchgehen können; die Menschen hätten ihrer Angst nachgeben können – aber das haben sie nicht getan. Sie haben angefangen, dagegen anzukämpfen.

Alle bedeutenden Gewerkschaften, u.a. auch die an Mitgliedern starke Confédération du Travail (CGT), gingen auf die Straße und protestierten. AktivistInnen aus der Arbeiterbewegung, autonome OrganisatorInnen, GymnasiastInnen und Geflüchtetengruppen kamen bei einem Marsch gegen das Arbeitsgesetz am 31. März zusammen.

Direkt danach begannen sie eine Besetzung der Place de la République. Die Besetzung wurde „Nuit Debout“ genannt, was so viel wie „Aufstehen“ oder „Wach bleiben in der Nacht“ bedeutet.

 

Bürgerliche Demokratie oder direkte Demokratie?

 

Im Zentrum der Place de la République gibt es ein Denkmal mit der Mariannen-Statue, dem Symbol der Republik.

Sie hält einen Olivenzweig und ein Buch mit den „Menschenrechten“ in Händen. Sie wurde mit einem großen Transparent geschmückt: „Wo ist die Demokratie?“ Das Transparent steht als Symbol dafür, dass die Grundlage der Republik Frankreich – die bürgerliche Demokratie – gerade jede Legitimität verliert. Viele Menschen glauben nicht mehr an sie. Die Gespräche hier gehen nicht mehr darum, wie die bürgerliche Demokratie zu retten wäre, sondern wie sie durch direkte Demokratie von unten ersetzt werden kann.

[Seit dem 31. März wurde Nuit Debout täglich wiederholt, dabei wurden Zelte zum Übernachten aufgebaut.]

Am Montag, den 11. April, kamen die Menschen auf der Place de la République wieder zusammen, um diesen Raum zu verteidigen, auf dem sie zusammen gecampt, für alle Essen gekocht und öffentliche Diskussionen geführt hatten. Die Nacht davor hat die Polizei den Platz geräumt, die Zelte abgerissen, aber Hunderte AktivistInnen sind zurückgekommen. Nun stand der Diskussionshelfer auf und erklärte, dass die Polizei gerade die Lautsprecheranlage konfisziert hatte.

Die Menschen nahmen das nicht hin und begannen zu skandieren: „Der Lautsprecher gehört der Bevölkerung!“ Und sie bewegten sich auf die Polizeireihen zu. Hunderte kamen von der Versammlung herüber und umringten die Polizeiwannen – und sie nahmen sich ihr Lautsprechersystem zurück.

Dieses Lautsprechersystem, das Mittel, das die Stimmen der Sprechenden verstärkt, ist vielleicht das typische Symbol dessen, was auf der Place de la République passiert. Jeden Tag kommen hier Hunderte, zeitweise Tausende zusammen [pro Abend ungefähr zwischen ein- und dreitausend, anfangs steigt die Anzahl, spätabends nimmt sie ab], um zu reden, ob in kleinen Gruppendiskussionen, in unterschiedlichen Kommissionen (Arbeitsgruppen) oder in der Vollversammlung. Es gibt eine ständige Kakophonie von Gesprächen.

 

Spontan und ohne Führer

 

„Nuit Debout“ ist ein führungsloses und spontanes Ereignis. Niemand kontrolliert es. Trotzdem gibt es einige der engagiertesten OrganisatorInnen, die zugleich bei der „Kommission für Diskussionshilfe bei der Vollversammlung“ mitmachen. Bei deren Treffen gibt es eine ständige Diskussion über die Bedeutung des Begriffs „Demokratie“. Die beteiligten Leute interessieren sich für das Experimentieren mit anderen Formen kollektiver Entscheidungsfindung, nämlich direkten und partizipativen Formen.

Jeden Abend rufen die EntscheidungshelferInnen die Versammlung zusammen, die aus lauter Individuen besteht, die sich an der Entscheidungsfindung bei Nuit Debout beteiligen. Es gibt dabei Leute, die durch die Reihen gehen und Listen mit Freiwilligen zum Reden erstellen, und es gibt trainierte „Vermittler“, die für Sicherungsaufgaben zuständig sind.

Die erste Stunde ist gefüllt mit Berichten aus den verschiedenen Kommissionen, die Aufgaben übernommen haben wie die Essenskoordination, den Schutz für die in den Zelten Übernachtenden; aber auch Berichte aus Kommissionen für politische Aktion, Medien, Bildung und anderen grundlegenden Themen bei dieser Platzbesetzung. Danach – auch das ist typisch – gibt es erstmal eine musikalische Pause mit Widerstandsliedern oder Trommeln, bevor der Debattenteil des Abends anfängt.

Es gibt keine vorbereitete Tagesordnung für die Vollversammlung. Die Leute, die am gegebenen Abend präsent sind, entscheiden darüber, was diskutiert wird.

Der Entscheidungsprozess selbst ist eine Mischung aus Konsenssystem und Abstimmung. Die Leute wechseln miteinander bei Meinungsäußerungen am Mikrofon ab und die Leute in der Menge wedeln mit ihren Händen (Zeichen der Zustimmung) oder schreien auch mal, um ihre Gefühle kundzutun. Wenn ein Individuum oder eine Kommission einen Vorschlag vorbringt, wird zuerst ein Stimmungsbild genommen. Nach einem Austausch von Argumenten bittet der Diskussionshelfer die Vollversammlung abzustimmen. Wenn sich eine Mehrheit ergibt, ist der Vorschlag beschlossen.

Die am heißesten diskutierten Themen drehten sich um die Anwendung gewaltsamer oder gewaltfreier Mittel, ob man mit den Medien sprechen soll oder nicht, und um Fragen der politischen Repräsentation. Bis zum heutigen Tag hat die Vollversammlung entschieden, eine Diversität von Kampfmitteln zu unterstützen, aber dabei gewaltfreie Aktionen zu ermutigen; des Weiteren das Prinzip bestätigt, dass niemandem erlaubt wird, für die gesamte Bewegung zu sprechen (Individuen sprechen ausschließlich für sich selbst); sowie sich gegen die Gründung einer politischen Partei auszusprechen.

 

Über die Vorstädte und Frankreich hinaus

 

Es gibt unterschiedliche Gruppen, die sich auf der Place de la République treffen und dabei versuchen, Verbindungen zu anderen Kämpfen außerhalb des Platzes herzustellen. Es gibt jetzt zum Beispiel ein Komitee für einen Generalstreik, das ein Netzwerk mit aktiven GewerkschafterInnen und Belegschaften aufbauen soll. Dann gibt es vielerlei Jugend- und StudentInnen-Gruppen sowie Gruppen von Geflüchteten. Es gibt ebenfalls „Banlieues Debout“ (Aufstehen in den Vorstädten), ein neues Netzwerk von Nachbarschaftsversammlungen, die sich über den fortgesetzten Rassismus und Kolonialismus in Frankreich austauschen. Am Mittwochabend, dem 13. April, gab es eine Vollversammlung auf dem Platz im Zentrum der Vorstadt Saint-Denis. Leute aus der Gemeinde und AktivistInnen organisierten dort ein Zelt, Essen und eine Station für Kinderbetreuung. Dort sprachen Sans-Papiers (Papierlose; illegalisiert Lebende), Putzfrauen oder StudentInnen und KünstlerInnen.

Dieser historische Augenblick geht über „Nuit Debout“ und Frankreich hinaus. Es gibt bereits Gruppen, die sich von „Nuit Debout“ inspirieren lassen in Belgien, Spanien, der BRD, England oder Quebec/Kanada. 2011 gab es mit Occupy eine ähnliche Bewegung.

Die Leute bekamen eine Ahnung von einem ganzen Horizont an Möglichkeiten, aber das politische Projekt der direkten Demokratie wurde nicht umfassend umgesetzt. Vielleicht ist die Place de la République nur ein weiterer Platz in einer langen Reihe von Experimenten mit diesem Projekt, von der Kasbah in Tunis über den Tahrir-Platz in Kairo, den Syntagma-Platz in Athen, den Puerta del Sol in Madrid, den Zuccotti-Park in New York City und viele andere mehr.

 

Marisa Holmes, 15. April 2016

 

(Übersetzung aus dem etwas längeren Artikel: „The Spirit of Occupy Lives on in France’s Emerging Direct Democracy Movement“, in: Truth-Out.Org, Montag, 18. April, siehe: www.truth-out.org/news/item/35656-the-spirit-of-occupy-lives-on-in-france-s-emerging-direct-democracy-movement ; außerdem mit Zwischenüberschriften und Zusatzinformationen in eckigen Klammern versehen von: Af)

 

Marisa Holmes kommt aus der New Yorker Occupy-Bewegung von 2011 und hat folgendes Buch veröffentlicht: We Are Many: Reflections on Movement Strategy From Occupation to Liberation, AK Press, Oakland 2012.

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 409. Mai 2016, www.graswurzel.net