Anlässe versus Ursachen von Kinderarmut

Armutsanlässe, wie Scheidung, Alleinerziehenden-Status, Migrationshintergrund oder Arbeitslosigkeit werden oft mit den zugrundeliegenden Ursachen im vorhandenen Wirtschafts- und Sozialsystem verwechselt. Denn eine sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik und eine gute Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik kann auch für Kinder von erwerbslosen, alleinerziehenden oder migrantischen Eltern ein armutsfreies Leben ermöglichen. Der folgende Beitrag von Michael Klundt untersucht die Verwechslung von Ursachen und Anlässen der Kinderarmut, um wirksame Alternativen von den bisher weitgehend wirkungslosen Gegenstrategien zu unterscheiden.

Angenommen, es gäbe eine Stadt, in der sich ein Atomkraftwerk befände, und angenommen, das ansässige Krankenhaus vermeldete regelmäßig überproportionale Anzahlen von Krebserkrankungen bei Kindern und Erwachsenen. Angenommen, Wissenschaftler/innen nähmen sich der Sache an und stellten fest, dass Bewohner der Stadt, die sich täglich seltener in der Stadt aufhielten, gesünder lebten, als die eher stationären Bewohner/innen; angenommen, die Wissenschaftler/innen folgerten daraus, mehr Stadtbewohner/innen müssten außerhalb ihrer Stadt Arbeit, Schule und Freizeitbetätigungen erledigen, und angenommen, die Wissenschaftler/innen kämen also zu dem bestechenden Ergebnis, dass all dies mit Mobilität zu tun habe und man deshalb in der Stadt viel mehr Mobilität in den außerstädtischen Raum organisieren müsste und zur Verbesserung der Gesundheit der Stadtbewohner/innen ein neues Mobilitätskonzept durch Wissenschaftler/innen in einer neuen Studie entwickelt werden müsste usw. usw.

Angenommen, die Finanziers dieser Studien wären maßgebliche Lobbygruppen und Förderer von Atomkraftwerken. Angenommen, dies würde hier und heute vor unseren Augen und Ohren geschehen: Würde da nicht die eine oder der andere sich an den Kopf fassen? Würde nicht irgendjemand von der Scientific Community einwenden, man müsse vielleicht doch auch mal auf die gefährliche Radioaktivität des AKWs eingehen und nicht nur auf die spezifischen Handlungsorte und -wege der Betroffenen? Sprich, es müssten doch Anlässe von Ursachen unterschieden werden.

Mangelhafte Ursachenforschung

Unterdessen lässt sich festhalten, dass ständige Erfahrungen von Mangel und Verzicht mit dazu beitragen, dass sich junge Menschen, die in ihrer Kindheit Armutserfahrungen machen müssen, weniger wohl und weniger zugehörig zur Gesellschaft fühlen. Ausgehend davon, dass junge Menschen, die dauerhafte Armutslagen erleben und SGB-II-Leistungen beziehen, seltener in einem Verein aktiv oder an organisierten Freizeitaktivitäten beteiligt sind als besser gestellte Gleichaltrige, sehen Annette Stein und Jörg Dräger von der Bertelsmann-Stiftung die Gefahr, dass sich diese jungen Menschen auch als Erwachsene aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit von der Gesellschaft abkoppeln - mit weitreichenden Folgen. "So hängt unter anderem auch die politische Beteiligung mit dem sozialen Status zusammen: je niedriger der sozioökonomische Hintergrund, desto geringer die Wahlbeteiligung. Gerade in Zeiten einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft sollte dies ein Warnsignal sein"1. Es sei daran erinnert, dass die beklagte "zunehmende Polarisierung" gerade von der Bertelsmann-Stiftung seit Jahrzehnten mit einflussreichen Konzepten zur Privatisierung, Flexibilisierung, Deregulierung und Neoliberalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und besonders von Bildung und Sozialstaat maßgeblich mit vorangetrieben worden ist und wird.2

In einer Bertelsmann-Studie von 2016 werden insgesamt über 70 Kinderarmutsstudien für die zurückliegenden 15 Jahre gezählt. Die meisten davon ließen den Aspekt der gesellschaftspolitischen Zusammenhänge und Ursachen (weitgehend) außen vor.3 Eine andere IAB-Bertelsmann-Untersuchung aus dem Jahre 2016 betont z.B. folgende Kausalitäten: "Als häufige Ursachen der Armut von Kindern können das Aufwachsen bei nur einem Elternteil, eine geringe Arbeitsmarktintegration der erwerbsfähigen Haushaltsmitglieder, ein geringes Bildungsniveau der Eltern sowie ein Migrationshintergrund benannt werden […]. Besonders von Armut betroffen sind daneben auch Familien mit vielen Kindern"4. In einer über hundert Seiten langen IAB/Bertelsmann-Studie zu Kinderarmut von 2018 findet sich der Begriff "Ursache(n)" genau drei Mal. Einmal im Vorwort des Geldgebers, der Bertelsmann-Stiftung, das verspricht, dass Ursachen im Folgenden genannt werden (Tophoven u.a. 2018: 6). Ein zweites Mal im Text, wo eine andere Studie referiert wird, die Ursachen von Kinderarmut in Alleinerziehung und/oder Arbeitslosigkeit der Eltern zu finden meint (ebd.: 32). Ein drittes Mal im Literaturverzeichnis, wo letztere Studie nochmal aufgeführt ist (ebd.: 98).

Angesprochen auf den Geldgeber ihres Forschungsprojektes (Bertelsmann) zeigen sich der Autor und die Autorin der Studie eher desinteressiert, solange gefördert werde und frei geforscht werden könne, sei doch alles in Ordnung. So antwortete beispielsweise die Mit-Verfasserin der Studie Claudia Wenzig: "Das bewerten wir nicht. Entscheidend ist für uns, dass wir hier wie bei allen anderen Forschungsarbeiten, die wir durchführen, selbstverständlich völlig frei forschen und dann die Ergebnisse publizieren können".5

Aber wie frei forscht eigentlich jemand, der immer wieder nur zu dem Ergebnis kommt, dass Armut von der Pauvreté her stamme, bzw. von Arbeitslosigkeit und der nie ein Verständnis von gesellschaftspolitischen Kausal-Zusammenhängen entwickelt?

Erste Antwort: Sehr frei, und überraschenderweise fließen die Drittmittel wie nur sonst etwas. Und wenn dann noch nicht-kindgemäße Armutsindizes verwendet werden - als hätte es keine jahrzehntelange (kindliche) Lebenslagen- und Kinder-Forschung gegeben, darf man doch auch skeptisch werden; selbst wenn zurecht weiterer Forschungsbedarf eingestanden wird. Nach über 20 Jahren Kinderarmutsforschung und fast 100 Kinderarmuts-Studien kommt das denn doch etwas spät, um noch als letzter Schrei der Forschung durchzugehen.

Zweite Antwort: Na ja, aber was ist das für eine Wissenschaft?

Handlungsbedarf

Aus Regierungssicht lässt sich der Kenntnisstand über Kinderarmut mit Hilfe des 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vom April 2017 folgendermaßen umreißen: "Von den insgesamt rund 12,9 Millionen Kindern unter 18 Jahren leben in Deutschland […] je nach Datenquelle rund 1,9 bis 2,7 Millionen Kinder mit einem Armutsrisiko, weil die Haushalte, in denen sie leben, über weniger als 60 Prozent des Medians aller Nettoäquivalenzeinkommen verfügen. Auch die Armutsrisikoquote für Kinder stieg bis Mitte des vergangenen Jahrzehnts an und verblieb anschließend in etwa auf diesem Niveau."6. Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, das sei ja gar keine "echte", sondern nur "relative" Armut. Echte Armut könne nur absolute Armut sein, mit wirklichem Verhungern usw. Doch widerspricht dieser Reflex schlicht dem EU-Übereinkommen über die Armutsrisikogrenze von 60 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens. Und es darf auch angenommen werden, dass die entsprechenden Protagonisten, wenn es um das eigene Wohl geht, bei der Bestimmung von "Armut" und von "Reichtum" sicherlich klar zu unterscheiden vermögen zwischen dem heutigen gesellschaftlichen Kontext eines der reichsten Industriestaaten der Erde und dem Zustand Deutschlands unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg oder dem Kontext eines heutigen armen Entwicklungslandes, also zwischen der Bundesrepublik und Burkina Faso etwa.

Fragte man die Bundesregierung(en) und ihre Berichte der letzten Jahre, so wurde bislang im Kampf gegen Kinderarmut immer alles richtig und erfolgreich gemacht. Wenn dann die entsprechenden Kinderarmutsquoten nicht sinken, müsste das eigentlich zum Nachdenken anregen. Leider ist das nicht der Fall. Erstaunlicherweise werden selbst kritische Evaluationen familienbezogener Leistungen (wie die des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung/ZEW und der Heinrich-Böll-Stiftung) wie Erfolgsberichte vorgestellt.7 Fehlentwicklungen, Probleme oder gar Fehler existieren so gut wie nicht. In ihrer Kurzexpertise im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung kommen Holger Stichnoth und das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zu deutlich kritischeren Ergebnissen. Demnach entfällt bei den einzelnen Familienleistungen "sogar ein leicht überproportionaler Anteil der Ausgaben bzw. Mindereinnahmen auf die oberen Einkommensbereiche. Während 13% der Ausgaben an die reichsten 10% der Haushalte gehen, erhalten die ärmsten 10% lediglich 7% der Ausgaben."8

Doch für die Bundesregierung ist eine koordinierte Anti-Armutspolitik bislang nicht nötig gewesen, da alles in Ordnung war. Im 11. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung von 2014 wird etwa unter anderem Bezug auf den 4. Armuts- und Reichtumsbericht (von 2013) und auf das sog. Bildungs- und Teilhabepaket genommen. Die Bundesregierung begründet darin, weshalb in Deutschland ein Anti-Armutsprogramm nicht nötig sei: "Eines spezifischen Anti-Armutsprogramms, wie vom Ausschuss der Vereinten Nationen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gefordert, bedarf es nicht, da die existierenden Mindestsicherungssysteme, die Arbeitsförderung und die zusätzlichen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Programme Armut und soziale Ausgrenzung wirksam bekämpfen."9 Beschäftigt man sich etwas genauer mit der Entstehung und Entwicklung des Bildungs- und Teilhabepakets (BuT) und des 4. Armuts- und Reichtumsberichts (AuR), kommt man nicht umhin, die obige Aussage noch einmal zu überdenken. Gerade das Resultat des BuT ist ein riesiger sozialpolitischer Skandal und der beste Beweis für die Notwendigkeit eines koordinierten Anti-Armutsprogramms von Bund, Ländern und Gemeinden.10

Aber seit 2018 wird Kinderarmut von Regierungsseite nicht mehr wie im Koalitionsvertrag von 2013 bis 2017 ausgeblendet, sondern explizit als Herausforderung und Handlungsauftrag wahrgenommen. Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD von 2018 verspricht unmissverständlich: "Wir werden ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Kinderarmut schnüren"11. Damit hat die jahrelange Ablehnung von Anti-Armutskonzepten und die Nichtbeachtung von Kinderarmut in Koalitionsverträgen und Regierungsberichten ein zumindest verbales Ende.

Kontext

Auch für SPD-nahe Publikationen ist es überhaupt kein Geheimnis, woher die seit Jahrzehnten gestiegene soziale Ungleichheit kommt. In der Zeitschrift Neue Gesellschaft - Frankfurter Hefte (6/2016) beschreibt Wolfgang Merkel, seit 1998 Mitglied der SPD-Grundwertekommission, die gestiegene "Ungleichheit als Krankheit der Demokratie". Was wie eine etwas verunglückte biologistische Demokratietheorie klingt, entpuppt sich jedoch als klare Beschreibung des keineswegs schicksalhaften Aufstiegs neoliberaler Ordnungen. Der Politikwissenschaftler führt dazu folgendes aus: "Am Anfang war Margaret Thatcher. Dann folgte Ronald Reagan. Märkte wurden dereguliert, Steuern auf hohe Einkommen, Erbschaften, Vermögen und Unternehmensgewinne gesenkt. Die gesamtwirtschaftliche Lohnquote fiel, die Gewinnquote aus Unternehmens- und Kapitaleinkünften stieg. Die funktionelle Einkommensverteilung der reichen Volkswirtschaften hat sich damit verschoben. Kapitalbesitzer werden einseitig bevorteilt. Seit Beginn der 80er Jahre ist die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen in der OECD-Welt gestiegen, gleichgültig welchen Indikator man verwendet. Der Anstieg der Ungleichheit war nicht die ›natürliche‹ Folge von digitaler Revolution, Wissensökonomie und kühner schöpferischer Zerstörung. Er war vor allem eine Folge politischer Entscheidungen. Die Politik hatte der Steuerung der Märkte entsagt und schrieb die besondere Form der Marktermächtigung im sogenannten Washington Konsens von 1990 fest."12 Doch das musste auch in Deutschland von Politikern, Wissenschaftlern und Medien vorbereitet, begleitet und durchgesetzt werden. Dass Wolfgang Merkel als Anhänger und vehementer Verteidiger etwa der "Agenda 2010" diesen Prozess mit zu verantworten hat, ist angesichts seiner kritischen Betrachtungsweise bemerkenswert.

Denn, dass als Rahmenbedingung für Kinderarmut auch die durch Hartz IV und Agenda 2010 voran getriebene Entrechtungs- und Lohndumping-Dynamik als bewusst eingesetztes gesellschaftspolitisches Konzept zu beachten wäre, ist kein großes Geheimnis. So forderte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder ja selbst schon 1999 freimütig: "Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen"14. Und Hans-Ulrich Jörges feierte Ziele und Inhalte von Hartz IV: "Kein Arbeitsloser kann künftig noch den Anspruch erheben, in seinem erlernten Beruf wieder Beschäftigung zu finden, er muss bewegt werden, den Job nach überschaubarer Frist zu wechseln - und weniger zu verdienen. Die Kürzung des Arbeitslosengeldes und die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau verfolgen exakt diesen Zweck. Und: Sozialhilfeempfänger müssen unter Androhung der Verelendung zu Arbeit gezwungen werden"15.

Wer sich also über die gravierende Kinderarmut aufregt, muss wissen, dass sie politisch befördert wurde. Eltern sollten  durch  zu  niedrige  Regelsätze  bzw. -leistungen nach SGB II für sich und ihre Kinder sowie durch verschärfte Sanktionen dazu gezwungen werden, jede Arbeit anzunehmen, auch wenn sie von diesem Gehalt sich und ihre Familie nicht einmal ernähren können. Kein Wunder, dass der Bundeskanzler daraufhin stolz das Ergebnis seiner "Agenda 2010" auf dem Wirtschaftsforum von Davos 2005 kundtat: "Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt"16.

Auch durch das sog. Starke-Familien-Gesetz scheint sich indes für Familien und Kinder in SGB II-Haushalten wenig bis nichts Vorteilhaftes zu entwickeln. Außerdem bedeuten die verspäteten Veränderungen beim Kinderzuschlag offenbar nur sehr geringe Verbesserungen bei den real Kinderzuschlag-Beziehenden. Während immer noch viele Familien und Kinder in verdeckter Armut auch mit dem neuen Modell aus dem Kreis der formal Berechtigten ausscheiden17, rechnet der Gesetzentwurf selbst nur mit einem guten Drittel der Berechtigten (35 Prozent), die ihre Leistung auch tatsächlich erhalten werden (19/7504: 26). Die mit der vollen Anrechnung von Unterhaltsleistungen verbundene systematische Benachteiligung von Ein-Eltern-Familien (vor allem mit älteren Kindern) wird mit dem Gesetz nicht gelöst. Ebenso wird auf eine alters- und entwicklungsspezifische Verbrauchs- und Bedarfsdifferenzierung beim Kinderzuschlag weiterhin verzichtet. Beim Bildungs- und Teilhabepaket lassen sich zudem keine wirksamen Optimierungen für den nicht-schulischen Bildungs- und Teilhabebereich erkennen.

Fazit

Ein wirkliches Maßnahmenpaket gegen Kinderarmut wird daher weiterhin benötigt. Wie auch die Nationale Armutskonferenz angemahnt hat, lassen sich Kinder- und Familienarmut am besten durch drei Maßnahmen vermeiden. Neben einem armutsfesten Mindestlohn, wirklich aufgaben- und nicht ausgaben-orientierter Kinder- und Jugendhilfe und einer vollständigen Gebührenfreiheit für frühkindliche Bildung sowie einem kostenlosen gesunden Mittagessen, braucht es als Erstes eine Neuberechnung des Existenzminimums, da die momentane Ermittlung nachweislich nicht bedarfsgerecht ist. Zum Zweiten wird ein Abbau von Ungerechtigkeiten in der Familienförderung verlangt, da derzeit am meisten bekommt, wer am reichsten ist. Drittens muss der Zugang zu Sozialleistungen durch Bündelung an einer Stelle einfacher gestaltet werden, um Bürokratie, Stigmatisierung, Demütigung und Unkenntnis zu vermeiden.18

Wichtig ist bei allen Überlegungen - auch in Richtung Kindergrundsicherung -, dass Kinder und ihre Familien nach den anvisierten Maßnahmen auch wirklich aus Armut und Hilfsbedürftigkeit befreit werden. Dabei sollte man nicht der Illusion verfallen, Kinder als anscheinend "autonom" aus dem Familienkontext fiktiv herauszulösen und mit einer "eigenständigen Kindergrundsicherung" oder Ähnlichem scheinbar aus der Bedürftigkeit zu holen, während der Rest der Familie weiterhin in der Hilfsbedürftigkeit verbleibt. Arme Kinder sind in der Regel Kinder armer Eltern und sollten nicht gegen sie ausgespielt werden. Überdies sollte jede Konzeption, die pauschal allen und damit auch vielen nicht-bedürftigen Eltern und Kindern mit enormen Finanzmitteln unter die Arme greifen will, daraufhin kritisch unter die Lupe genommen werden, wie ihre effektiven Folgen für die Verhinderung und Verminderung von Kinderarmut aussehen. Das heißt, die Ziel-Mittel-Relation bedarf einer präzisen Analyse. Außerdem ist es auch und gerade für ein Eingreifen in politische Diskurse über soziale Polarisierung wichtig, die Primärverteilung des gewachsenen gesellschaftlichen Reichtums bei allen sinnvollen Forderungen von Maßnahmen gegen Kinderarmut im Blick zu behalten. Schließlich kann ein sich selbst arm machender Staat nur schwerlich Armut bekämpfen.19

Anmerkungen

1) Silke Tophoven, Torsten Lietzmann, Sabrina Reiter, Claudia Wenzig 2018: Aufwachsen in Armutslagen. Zentrale Einflussfaktoren und Folgen für die soziale Teilhabe. Studie vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh: 7.

2) Michael Klundt 2019: Gestohlenes Leben. Kinderarmut in Deutschland, Köln: 154f.

3) Vgl. Claudia Laubstein, Gerda Holz, Nadine Seddig 2016: Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischen Studien in Deutschland, Gütersloh: 24ff.

4) Silke Tophoven, Claudia Wenzig, Torsten Lietzmann 2016: Kinder in Armutslagen. Konzepte, aktuelle Zahlen und Forschungsstand (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung / Bertelsmann Stiftung). IAB-Forschungsbericht 11. Gütersloh: 18.

5) Studie zu Armut (2018): "Wie groß die Unterschiede ausfallen, das hat uns dann doch ein wenig überrascht". Interview mit Torsten Lietzmann und Claudia Wenzig, in: Nachdenkseiten.de v. 6.7.2018, in: https://www.nachdenkseiten.de/?p=44808.

6) BMAS Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017: Lebenslagen in Deutschland. Der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin: 252.

7) Siehe BMAS 2017: 267ff.

8) Holger Stichnoth, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) 2016: "Verteilungswirkungen ehe- und familienbezogener Leistungen und Maßnahmen. Kurzexpertise im Auftrag der Familienpolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung", in: E-Paper der Heinrich-Böll-Stiftung vom 17.6.2016 (Berlin): 1-43; hier: 3.

9) Elfter Menschenrechtsbericht 2014: 21.

10) Vgl. Der Paritätische Gesamtverband 2015: Gewinner und Verlierer. Paritätisches Jahresgutachten, Berlin: 33f.

11) CDU/CSU/SPD: Koalitionsvertrag 2018: 19.

12) Wolfgang Merkel 2016: "Ungleichheit als Krankheit der Demokratie", in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 6/2016: 14- 19, hier: 14.

13) Vgl. seine Verteidigung der "Motive und Grundkonstanten der Agenda 2010" noch im Jahre 2010 in: Wolfgang Merkel: "Falsche Pfade? Probleme sozialdemokratischer Reformpolitik", in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 7-8/2010: 74.

14) Zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 25.7.2013.

15) Hans-Ulrich Jörges, in: Stern vom 11.9.2003.

16) Zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 8.2.2010.

17) Vgl. Johannes Steffen 2019: "Auswirkungen auf Hartz-IV-Abhängigkeit und Haushalts-Einkommen. Die Reform des Kinderzuschlags im Rahmen des StaFamG", in: http://portal-sozialpolitik.de/uploads/sopo /pdf/2019/2019-01-29_Hintergrund_Kinderzuschlag_PS.pdf.

18) Vgl. Michael Klundt 2019: Gestohlenes Leben. Kinderarmut in Deutschland. Köln: 166f.

19) Vgl. ebd.: 173f.

Michael Klundt (Dr. päd.) lehrt als Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal und ist Koordinator des dortigen Master-Studiengangs "Kindheitswissenschaften und Kinderrechte". Vor wenigen Wochen erschien sein Buch "Gestohlenes Leben: Kinderarmut in Deutschland" (PapyRossa Verlag Köln, 197 Seiten, 14,90 €).