Wider den Gehorsam

Arno Gruens letztes Buch ist aktueller denn je

Wider den Gehorsam
by
Arno Gruen
Publisher:
Klett-Cotta
Published 2017 in
Stuttgart
102
pages
ISBN-13:
ISBN 978-3-608-94891-2
Price:
12 Euro

Rezension zu Arno Gruen, Wider den Gehorsam, Klett-Cotta, 10. Auflage, Stuttgart 2017, 102 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-608-94891-2

 

Der Psychotherapeut Arno Gruen kritisiert in seinem Buch „Wider den Gehorsam“ die vorherrschende Ideologie der Macht und des Herrschens. Den Prozess der Unterwerfung unter den Willen eines anderen, der in frühester Kindheit beginnt, „lange bevor Sprache und Denken sich ordnen“, nennt er ein Grundproblem unserer Zivilisation.

Der Säugling wird dazu gebracht, nicht den eigenen Bedürfnissen nachzugehen, sondern sich dem Willen der Eltern zu fügen. Der Wille des Kindes wird gebrochen und die Herrschaft der Eltern ausgeweitet, um sogenannten „wilden Trieben“ Einhalt zu gebieten. Man befürchtet, das Kind „habe nichts anderes im Sinn, als rücksichtslos seine Lüste zu befriedigen“. Es geht um Unsauberkeit, Unreinheit, Gier, Unstetigkeit und Zerstörungswut, Eigenschaften die nicht nur Kindern zugeschrieben werden, sondern auch den verhassten Fremden.

Allein ist ein Kind nicht lebensfähig, daher ist seine Angst vor Liebesverlust und Verlassenheit groß. Gruen spricht von „Todesangst, die das Kind heimsucht“. Damit die Eltern sich nicht von ihm abwenden, versucht es, ihren Erwartungen zu entsprechen. Es kann das eigene Selbst nicht wirklich entfalten und keine wahre Verantwortung für sich selbst entwickeln. Durch die Unterwerfung versucht das Kind an der Macht, die es unterdrückt, teilzuhaben. Gehorsam sein, bedeutet gut sein. Frei sein hingegen wäre Ungehorsam, und wer ungehorsam ist, riskiert den Schutz der Mächtigen zu verlieren. Das terrorisierte Kind, dessen autonome Wahrnehmungen „geradezu ausgelöscht“ werden, identifiziert sich mit dem, der es knechtet. Es sucht die Erlösung von den zugefügten Schmerzen paradoxerweise bei deren Verursachern. Heranwachsende oder junge Erwachsene müssen die Angst abspalten und Teile ihrer Psyche absondern. Die Umstände der frühkindlichen Entwicklung müssen unterdrückt werden, weil sonst Angst und Terror ausgelöst würden.

Die Schuld kann man nicht bewusst aushalten, sie untergräbt den Selbstwert und aus dem Minderwertigkeitsgefühl entstehen Wut, Aggressivität und Gewalttätigkeit.

Dieser Knechtschaft und dem kritiklosen Gehorsam können wir durch rationales Denken nicht beikommen, schreibt Gruen, weil wir die Macht der Eltern über uns nicht erkennen. Sie gelten als allwissend, wohlwollend und wünschen angeblich nur unser Bestes. Der reflexartige Gehorsam führt später zu Gruppendenken, der Unfähigkeit selbst zu denken und zu bestimmen, was dazu führt, dass in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche oder Krisen besonders häufig totalitäre Führer Macht erlangen.

Die Masse der Menschen will sich mit ihren Unterdrückern identifizieren, statt sich mit denen zu solidarisieren, die sich gegen die Mächtigen auflehnen.

Treue und Gehorsam wurzeln in der Autorität und erheben freiwillige Knechtschaft zu moralischen Werten und positiv gewerteten menschlichen Qualitäten.

In diesem Mechanismus wird das eigene Selbst zum „Unwert erklärt und der Wert des Unterdrückers zum Wert verklärt“.

Viele Menschen entwickeln keine eigene Identität und streben danach anderen Menschen ihre Identität zu nehmen, wie die Nazis, die „aus Rache“ das eigene Fremde im anderen Menschen töteten. Stanley Milgram brachte 1963 und 1975 in Experimenten Testpersonen dazu, Autoritäten Folge zu leisten und Personen in einem Nebenzimmer, das sie nicht einsehen konnten, Stromschläge zu versetzen. Fast alle Probanden gehorchten fraglos und ließen sich von den vorgetäuschten Schmerzensschreien eines Schauspielers nicht erweichen.

Vor unserem Bewusstsein werde ferngehalten, schreibt Gruen, dass Herrscher und Beherrschter, Unterdrücker und Unterdrückter in einen gemeinsamen Machtaustausch verwickelt sind, in dem Fürsorge zur Einschränkung der tatsächlichen Freiheit führt. In Wahlkampagnen wird erfolgreich der Tausch von Freiheitsrechten gegen eine vorgebliche Sicherheit propagiert.

Das Bedenkliche an der Anpassung ist nicht nur, dass wir nach dem Willen anderer leben, sondern auch, dass wir anfangen die Freiheit zu fürchten und ausgerechnet von der Macht, die unsere Bedürfnisse verneint, Anerkennung verlangen. Unsere eigene Lebendigkeit und die des anderen machen uns Angst. Wir haben Angst Verantwortung zu übernehmen, und fürchten uns ein eigenes Selbst zu haben.

Hannah Arendt charakterisiert Eichmann als normalen Menschen, der gehorsam seine Pflicht erfüllte und glaubte, jeder Eigenverantwortung ledig zu sein. Wilhelm Reich verortet den autoritären Charakter in der bürgerlichen Kleinfamilie, in der Gehorsam als Tugend gilt. Und als Norm auch in der Gesellschaft. Gruen, Reich und Fromm denken über den autoritären Charakter im Faschismus nach, aber gerade die gesellschaftlichen Entwicklungen in jüngster Zeit, das Erstarken autoritärer Kräfte, der Intoleranz, das Verlangen nach Entmündigung und einem rigiden Staat, machen es einfach, eine Verbindung herzustellen.

Letztendlich geht es darum, die Strukturen unserer Kultur, die den oben beschriebenen Gehorsam fördern, zu verändern.“

Arno Gruen wurde 1923 in Berlin geboren. 1936 musste er, auf der Flucht vor den Nazis, mit seiner Familie in die USA emigrieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg, an dem er als US-Soldat teilnahm, absolvierte er in den Vereinigten Staaten ein Psychologiestudium.

1951 promovierte er an der New York University. Seit den 1960er Jahren publizierte er zu den Themen Autonomie und Entwicklung des Selbst. Die Erstauflage von „Wider den Gehorsam“ erschien im Oktober 2014, ein Jahr vor Arno Gruens Tod.

 

zinkhund

 

Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 430, Sommer 2018, www.graswurzel.net