Fußball peripher. WM in Südafrika

Call for Papers

Die Fußballweltmeisterschaft soll 2010 zum ersten Mal auf dem afrikanischen Kontinent, in Südafrika ausgetragen werden. Der Westen schaut skeptisch hin, hat Sicherheitsbedenken wegen der hohen Kriminalitätsraten, stellt die organisatorischen Fähigkeiten der Gastgeber in Frage, zweifelt an der rechtzeitigen Fertigstellung der Wettkampfarenen oder fragt auch (etwas kritischer) nach den Belastungen, die der südafrikanischen Bevölkerung der WM wegen zugemutet werden. In Südafrika dürften die Gefühle gespalten sein: Der Freude und dem Stolz, Gastgeber eines der wichtigsten globalen Großereignisse zu sein, steht die Frage nach den gesellschaftlichen Prioritäten gegenüber. Auch 14 Jahre nach dem offiziellen Ende der Apartheid sind die sozialen Probleme, die mit diesem System verknüpft waren, nicht geringer geworden. Hinzu kommt die schwere Krise des politischen Systems: der Sturz des Präsidenten, möglicherweise die Spaltung des ANC. aber auch die Folgen dieser Entwicklungen für die wackelige Lösung in Zimbabwe beschäftigen die Öffentlichkeit anderthalb Jahre vor dem Kick-off weit mehr. Im übrigen Afrika dürfte die Ambivalenz ähnlich groß sein. Schließlich ist Südafrika als ungeliebter regionaler Hegemon, dessen Einzelhandelsketten beispielsweise zusehends sichtbar die Stadtbilder beherrschen, alles andere als ein unhinterfragter Repräsentant des Kontinents. Die Vergabe der Spiele an Südafrika lässt sich daher keineswegs ungebrochen als Symbol erfolgreichen Aufbegehrens gegen die politische, soziale und ökonomische Marginalisierung des Kontinents feiern. Gewiss, in Nachbarländern wie Moçambique oder Namibia wird darauf spekuliert, dass etwas vom erwarteten Tourismus-Boom überschwappt. Und sicherlich erhoffen sich viele Siege afrikanischer Mannschaften.

 

Fußball kann durchaus Symbolwirkung für nationales, vielleicht auch kontinentales Selbstbewusstsein ausüben. Ebenso kann er jedoch als Initialzünder für Manifestationen des Hasses und der Gewalt gegen Marginalisierte jedweder Art dienen. Er ist ein „Zugehörigkeitsgenerator" (Ulrich Bielefeld), der Gemeinschaft und Identität schafft, im gleichen Atemzug aber auch ausschließt und diskriminiert. Vergemeinschaftung heißt immer auch Grenzziehung; und sind die Gruppen erst geschieden, liegt es nahe, sie in eine Rangordnung zu bringen - „wir gut, ihr böse"; „we are the champions - no time for losers". Fußball tut all dies auf den unterschiedlichsten Ebenen. Er schafft reale Zusammengehörigkeit im physischen und psychischen Sinn (in den Vereinen, den Fanclubs, den Stadien), aber auch imaginäre Vergemeinschaftung etwa zwischen weltweit verstreuten Fernsehzuschauern. Die so erlebte Gemeinschaftlichkeit kann in all ihren Varianten als Ausgleich für anderwärts erfahrene Gefühlskälte dienen, und ebenso als Ventil für anderwärts angestaute Aggressivität - von rassistischen Beschimpfungen und Gesängen im Stadion bis hin zu Gewaltausbrüchen auf den Rängen und Schlachten zwischen Hooligans. Politisch genutzt werden vor allem die eher imaginären Formen der Vergemeinschaftung. Der für Nigerianer nur über die Medien mitvollziehbare Gewinn der olympischen Goldmedaille durch die Super Eagles 1996 spielt in den Nation-Buildings-Diskursen des Landes eine gewaltige Rolle; und für die in Turbulenzen geratene Diktatur von Abacha und seiner (bis heute die Fäden ziehenden) Kaduna-Mafia brachte sie eine Atempause. Das Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft 1954 in Bern ist in vieler Augen „die eigentliche Geburtsstunde" der Bundesrepublik Deutschland; „wir sind wieder wer", konnten sich nun auch und gerade die Underdogs wieder freuen und um den ehemaligen Reichs- und späteren Bundestrainer Herberger einen Personenkult aufbauen.

 

Aber nicht nur in die große Erzählung von der Nation, auch in die von der Rasse („Neger in den Busch!"), der Ethnie (Serben gegen Kroaten; Igbo gegen Haussa; Zulu gegen Xhosa), der Religion (evangelische Glasgow Rangers gegen katholisches Celtic), der Männlichkeit („echte Männer" gegen Weicheier, Schwule, Frauen und „crying babies", wie die deutschen Nationalspieler von 1972 von den englischen geschmäht wurden), ja sogar der Klasse - als schwacher Abklatsch des untergegangenen Arbeitersports „proletarische" Ruhrpott-Vereine gegen „elitäre" Münchner Bayern - kann der Fußball eingebunden sein. Auf der Ebene des Vereinsfußballs der weltweiten Spitzenklasse spielen solche Identitäten angesichts der Kommerzialisierung des Sports und der daraus folgenden weltweiten Austauschbarkeit und Migration der Spieler nur noch zum Schein eine Rolle. In der Selbstdarstellung kann man dennoch nicht ganz darauf verzichten, denn ein Minimum an Differenz, an Lokalkolorit, muss schon aus verkaufsstrategischen Gründen sein, anders blieben die Zuschauer weg, und die braucht man - weniger als Eintrittszahler denn als Fernsehkulisse. Ansonsten sind wir der 1974 von Alfred Behrens prognostizierten „Fernsehliga" schon sehr nahe gekommen. Dem entspricht die mediale Kommunikation: Selbst angesichts von Weltfinanzkrise und US-Präsidentschaftswahlkampf machen Verstimmungen und Verletzungen von Nationalspielern Schlagzeilen. Auf den niedrigklassigeren Ebenen und generell überall dort, wo nicht so viel Geld zu verdienen ist (hierhin gehören fast ganz Afrika und der größte Teil Lateinamerikas), aber auch auf der Ebene der Nationalmannschaften ist die Lage etwas anders. Austauschbar sind die Spieler zwar auch hier, aber doch in sehr viel geringerem Maß. Hier kann die Einbindung in jene Erzählungen in sehr viel kompletterer Weise gelingen. Wie die vom „klassischen" von Männern betriebenen Sport deutlich abweichende Entwicklungslinie und nach wie vor geringschätzige Behandlung des Frauenfußballs (sic) schlaglichtartig klarmacht, sind diese Erzählungen unauflöslich mit Konzepten der Männlichkeit verbunden, sei es der Stärke, Ausdauer und Geschicklichkeit, sei es der verfügbaren Zeit, wie etwa der Film „Fußball ist unser Leben" überzeugend deutlich gemacht hat - oder auch des demonstrativen Alkoholkonsums.

 

Entscheidend für die längerfristigen Konsequenzen der Weltmeisterschaft in Südafrika im Hinblick auf das soziale und ideologische Profil des Fußballs wird demnach sein, in welche Erzählungen die Spiele eingebunden werden. Dass dabei herrschafts- und ungleichheitslegitimierende Diskurse die Oberhand behalten werden, steht kaum in Frage - „[der Sport] unterhält und benebelt und verdummt die Massen; und vor allen Dingen die Diktatoren wissen, warum sie immer und in jedem Fall für den Sport sind", formuliert Thomas Bernhard 1970 anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises. Hoffnungsfroher stimmende Möglichkeiten sollte man dennoch nicht ganz ausschließen - Annäherung ehemaliger Bürgerkriegsgegner etwa (Hutu versus Tutsi vielleicht, oder „Dioula" versus Baoulé); oder eine (wenn auch vage) allgemeine Stimmung von Dritte-Welt-Solidarität wie anlässlich des „Schandspiels von Gijon" bei der WM 1982, als sich die deutsche und die österreichische Nationalmannschaft auf ein 1:0-Ergebnis verständigten, um Algerien aus dem Wettbewerb zu kegeln. Vor allem aber darf man die Unwägbarkeiten des Spiels selber nicht vergessen: wenn die Brasilianer schlechten Fußball-Samba tanzen, die Italiener bei ihrer Riegeltaktik Schlupflöcher lassen, die Deutschen ihre „deutschen Tugenden" von Disziplin und Härte vergessen und die Afrikaner trotz aller Akrobatikeinlagen verlieren, funktionieren die ganzen auf sie bezogenen Identifikations- und Legitimationsmechanismen nicht mehr.

 

In Südafrika freilich stehen noch ganz andere Fragen auf der Tagesordnung. Die vom Weltfußballverband FIFA diktierten Infrastrukturmaßnahmen verschlingen Unsummen, während die Eintrittsgelder von der FIFA kassiert werden. So hat der Flughafen Johannesburg in den letzten Jahren diverse Großereignisse verkraftet wie 2002 Rio +10. Ob die jetzt fast noch einmal verdoppelte Kapazität später von Nutzen sein wird, darf bezweifelt werden. In Kapstadt fallen noch zusätzliche Aufwendungen an, um die Wellblechhütten von Guguletu oder Mitchells Plain - einst Brennpunkte des Kampfes gegen Apartheid - vor den Augen der Gäste zu verbergen, die beim Überfliegen gerade noch den Anblick des Tafelberges genossen haben. Die Weltmeisterschaft findet in einem der Länder mit der höchsten sozialen Ungleichheit statt. Zweifelhafte Infrastrukturinvestitionen gewaltigen Ausmaßes bedeuten auch die Festlegung von Ressourcen, die für andere Zwecke fehlen. Es lässt sich durchaus argumentieren, dass die xenophoben Ausbrüche vom Mai 2008 eng mit der anhaltenden sozialen Krise verknüpft waren. Wenn die WM angepfiffen wird, sind die Zeltlager der „Internally Displaced Persons" vielleicht verschwunden, das Potential an Ressentiments, das hier zum Ausbruch kam, ist aber Anlass zur Sorge auch für die Sicherheitslage während der WM, vom bisherigen Scheitern der ANC-Regierung an der Lösung dieser Probleme einmal abgesehen. Nicht nur in Südafrika oder in Afrika generell, ganz gewiss aber in diesem Kontext wirft ein Großereignis wie die WM daher auch die Frage nach gesellschaftspolitischen Prioritätensetzungen und ihren Folgen ebenso wie nach der Opposition dagegen auf.

 

Die Faszination des Fußballs hängt für viele junge Straßenfußballer in Afrika und anderswo ganz entscheidend mit dieser sozialen Krise zusammen: Die winzige Chance, von einem europäischen Club rekrutiert zu werden, die noch geringere Möglichkeit, auf der Grundlage dieser „migration à la balle" Karriere zu machen oder die näher liegende Perspektive, sie zur Verankerung in Europa zu nutzen, verknüpfen den Fußball mit ganz konkreten, wenn auch oft genug illusorischen Hoffnungen auf Mobilität und Aufstieg.

 

Die Strahlkraft dieses Sports wird jedenfalls solange ungebrochen sein, wie es in der westlichen Welt viel Geld damit zu verdienen gibt. Dieser Anreiz erreicht noch jedes Ghetto und jede Favela und lässt hin und wieder einen einzelnen Traum wahr werden. Und trotz aller Ausverkäufe sind die Ligen in den südlichen Kontinenten bisher nicht untergegangen. Die Spiele ziehen immer noch ein beträchtliches Interesse auf sich und sind wie hier auch ein wichtiger Bestandteil der Alltagskultur.

 

Für ein Schwerpunktheft „Fußball peripher" wünschen wir uns z.B. Beiträge zu folgenden Themen:

- WM in Südafrika: Südafrikanische Diskussionen um die Vergabe und Organisation der Spiele einschließlich der Auswirkungen auf die südafrikanische Ökonomie und Gesellschaft, etwa infolge des Flughafenneubaus in Johannesburg, das Nebeneinander von Stadien und Slums, aber auch im gesamten Raum des südlichen Afrikas etwa durch Arbeitsmigration, Kapitalströme und Anstieg xenophober Tendenzen

- Fußball als Gruppenbildung: spezifische Prozesse der Vergemeinschaftung durch Fußball (insbesondere in Afrika, Asien, Lateinamerika) auf allen Ebenen (panafrikanistisch, nationalistisch, ethnisch, sexistisch, rassistisch und auf Grundlage von Klasse), und damit eng verbunden: spezifische Prozesse der Ausgrenzung/Exklusion durch Fußball (mit Schwergewicht wieder auf Afrika, Asien, Lateinamerika)

- Narrative des Fußball: welche Diskurse/Erzählungen produziert bzw. besetzt der Fußball? Gibt es so etwas wie eigene (lokale) Fußballkultur?

- Fußball und Politik: welche politische Wirkmächtigkeit entfalten diese Diskurse, wie wird mit Fußball (welche) Politik gemacht/begründet?

- Fußball und Medien, Vermarktung und Instrumentalisierung

- Fußball und Geschlechterverhältnisse, sowohl in den Narrativen als auch in der Struktur von Fußball in professionellen Ligen wie im Alltag

- Fußball und Migration: das weltweite Geschäft mit dem Fußball

- Der Mythos des Aufstiegs eines Fußballers, einer Fußballerin: Rückwirkung erfolgreicher Spieler im Ausland auf die Motivation des Nachwuchses, auf die Stabilisierung von systemischen Strukturen, mithin als Pazifizierung sozialer Konflikte in Slums. Die Gründung von Fußballschulen, z.B. durch zurückgekehrte erfolgreiche Fußballer, die den Nachschub sicherstellen sollen und/oder wichtige soziale Projekte darstellen.

- Professioneller Fußball in Afrika (Struktur nationaler Ligen usw.).

 

Redaktionsschluss: 14. 9. 2009