Von den Franzosen lernen?

Lionel Jospins Reformprojekt: links und sozialistisch - trotzdem erfolgreich

Horst Heimann beleuchtet die Grundüberlegungen der Politik Jospins.

Anders als der "moderne" Tony Blair werde die französische Linksregierung mit ihrem "antiquierten altsozialistischen" Programm bald an den ehernen objektiven Gesetzmäßigkeiten der globalisierten Marktwirtschaft scheitern und daher bald von den enttäuschten Wählern zu Recht wieder in die Opposition verbannt werden - so lauteten viele Prognosen nach dem Sieg des Sozialisten Jospin im Mai 1997.
Doch während die Wähler 1999 den "modernen" Parteien von Blair und Schröder herbe Niederlagen zufügten, gingen Jospins linke Traditionssozialisten in Frankreich gestärkt aus den Regionalwahlen 1998 und den Europa-Wahlen 1999 hervor.
Die guten Wahlergebnisse und die anhaltend hohen Popularitätswerte für Jospin erklären sich aus den eindrucksvollen Erfolgen seiner Politik: In den ersten zwei Jahren ging die Arbeitslosigkeit bereits um 700 000 zurück, von Mai 1999 bis Mai 2000 noch einmal um rund 500 000; 1997 noch bei 12,5% liegend, sank sie in diesem Frühjahr, erstmals seit 1991, mit 9,8% unter die psychologisch wichtige Grenze von 10%. Dieser beachtliche Rückgang ist nicht nur der günstigen weltwirtschaftlichen Entwicklung zu verdanken, sondern auch dem Beschäftigungsprogramm der Regierung für Jugendliche (je 350 000 Arbeitsplätze im öffentlichen und im privaten Sektor) und der schrittweisen Umsetzung des Gesetzes über die 35-Stunden-Woche. Rund 40% des Rückgangs der Arbeitslosigkeit werden auf die neue Arbeitsmarktpolitik zurückgeführt. (vgl. Le nouvel Observateur 01.06.2000, Le Monde, 1. 7. 2000)
Die aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik der pluralen Linksregierung hat dazu beigetragen, dass Frankreich heute mit 3,5% Wachstum an der Spitze der EU-Länder steht
Die ökonomischen Erfolge der französischen Linksregierung versucht man in Deutschland meist damit zu erklären, dass Jospin zwar eine linke altsozialistische Rhetorik pflege, praktisch aber fast eine "moderne" neoliberale Wirtschaftspolitik betreibe. Zwar ist tatsächlich zu beobachten, dass in Großbritannien und Deutschland die praktische Politik nicht so "rechts" ist wie die Rhetorik, in Frankreich dagegen die praktische Politik nicht ganz so "links" wie die Rhetorik. Aber es bleibt unerkannt, dass die "Rechtslastigkeit" der Rhetorik in Deutschland und ihre "Linkslastigkeit' in Frankreich die Ursache in einem grundlegenden Unterschied zwischen beiden Ländern haben: ln den intellektuellen Diskursen, also im Bereich der Interpretationen und der Bewertungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, hat in Frankreich in den 90er Jahren die Linke die geistige Hegemonie zurückgewonnen. In Deutschland dagegen, und auch in Großbritannien, hat die neoliberale Ideologie ihr Deutungsmonopol behauptet, zwar nicht in der Gesamtbevölkerung, aber bei den Machteliten, und ihren willigen Helfern, in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Medien.
Voraussetzung für die Rückgewinnung einer linken Hegemonie in Frankreich war auf der semantischen Ebene das selbstbewußte Festhalten an der klaren Unterscheidung zwischen Rechts und Links und am linken Leitbegriff Sozialismus. In Frankreich wissen daher nicht nur, wie auch in Deutschland, die Rechten, dass sie Rechte sind, dort wissen, anders als in Deutschland, auch die Linken, dass sie Linke sind. Wer aber nicht mehr zwischen Rechts und Links zu unterscheiden vermag, kann sich nicht einmal dafür interessieren, ob es noch irgendwo eine linke geistige Hegemonie gibt. Und er kann auch nicht wahrnehmen, dass die Sozialistische Partei Frankreichs seit 1995 unter Jospin eine theoretisch-programmatische Erneuerung vollzogen hat, die intellektuell anspruchsvoller und tiefgreifender ist als die vorwiegend medial inszenierte Modernisierung von New Labour unter Blair.
Nach ihren katastrophalen Wahlniederlagen 1999 (die Hälfte der Stimmen vom September 1998 verloren!) hat die SPD zwar ihre enge Bindung an Blairs Dritten Weg klammheimlich zu lockern versucht und demonstrativ die Nähe zum erfolgreichen Jospin gesucht, der Ende 1999 auf dem Parteitag in Berlin sprechen durfte. Doch die theoretischen Grundlagen der erfolgreichen Politik der französischen Linksregierung und die Argumente zur Abgrenzung vom Blair-Schröder-Papier wurden von den "ideologiefreien" Pragmatikern nicht zur Kenntnis genommen.
Auf das Angebot, das Blair-Schröder-Papier auch unterzeichnen zu dürfen, hatte Jospin nur mit dem Wort "non"' geantwortet. Auf der Sommeruniversität der Sozialistischen Partei am 29. August 1999 in La Rochelle begründete er seine Distanzierung von der Zielrichtung des britisch-deutschen Manifestes damit, dass die französischen Sozialisten auf die Herausforderungen der Globalisierung "als eine Kraft der Linken" antworten. "Wir machen nicht in 'Sozial-Liberalismus'. Unser Ansatz unterscheidet sich von dem, der im Manifest unserer Freunde Tony Blair und Gerhard Schröder sichtbar wird. Wir sind eine Linke der Erneuerung, die sich um einen modernen Sozialismus sammelt.'' (S. 98)
In seinem im September 1999 von der Fabian Society veröffentlichten Grundsatzbeitrag (hier zitiert aus der französischen Fassung in: Le socialisme moderne) betonte Jospin, dass die Debatte über das Selbstverständnis der Sozialdemokratie zwar auch auf europäischer Ebene geführt werden müsse, aber die nationalen Besonderheiten einzelner Länder nicht ignoriert werden dürfen. Beim Vergleich zwischen Großbritannien und Frankreich sei zu beachten, dass es einen großen Unterschied ausmache, ob man nach dem "Experiment Thatcher" oder nach Balladur und Juppé an die Regierung komme. Unter diesem Gesichtspunkt sei "Â’der Dritte Weg' die nationale Form, die im Vereinigten Königreich die Arbeit für die theoretische und politische Erneuerung" der europäischen Sozialdemokratie angenommen habe. (S. 30f.) (In Deutschland wäre zu fragen, wie hilfreich die spezifisch britische Form der Erneuerung für die SPD sein kann, die nach Kohl an die Macht gekommen ist, der ja selbst einen Dritten Weg zwischen Thatcher und sozialdemokratischer Politik gegangen war.)
Für das Festhalten an der klaren Unterscheidung zwischen Links und Rechts gibt Jospin eine schlicht empirische Begründung, die in Frankreich übrigens Konsens ist: "Die Linke und die Rechte existieren. Und auch die Trennlinien, die sie voneinander unterscheiden." (S. 85) Daher müsse sich die französische Linke allen Fragen der französischen Gesellschaft "unter Bezugnahme auf ihre Werte und ihre eigenen Ansprüche" stellen. Für die meisten dieser Fragen "gibt es linke und rechte Herangehensweisen". Bei vielen aktuellen politischen Streitfragen waren daher die Antworten der Linken gut von denen der Rechten zu unterscheiden. (S. 108)
Die linken Antworten waren nicht die Alternative zu den "modernen" Antworten. Den Begriff modern überläßt Jospin nicht den neoliberalen Ideologen, er beansprucht ihn zur Kennzeichnung seiner Position, "eine authentisch linke Politik, eine Politik, die entschieden modern ist". (S. 88) In seinem Engagement für die Erneuerung des französischen Sozialismus seit 1995 läßt er sich von dem Grundsatz leiten: "Die Treue zu unseren Prinzipien ist kein Hindernis, sondern eine Voraussetzung für die Modernisierung."
Die Unsicherheit des Blair-Schröder-Papiers gegenüber dem traditionellen Leitbegriff "links" wird von französischen Kritikern als besondere Schwachstelle hervorgehoben: "Warum soviel reumütige Zerknirschung? Warum quält die Autoren des Manifestes schon das Wort links so sehr, dass sie sich so eifrig um ungenaue Ersatzbegriffe bemühen, als ob das Erbe von Harold Wilson und Willy Brandt ebenso schwer zu ertragen wäre wie das von Stalin und Mao?" ( Jean Pisani-Ferry, Vérités, bravades et silence ..., in: Blair-Schröder - Le texte du "manifeste" - Les analyses critiques. Les Notes de la Fondation JeanJaurès, No. 13 août 1999, S. 70 f.)
Gegen Tendenzen des Dritten Weges unterstreicht Jospin, dass für die französischen Sozialisten mit ihrer linken Standortbestimmung die Idee des Sozialismus unauflöslich verbunden bleibt: "Wir sind also nicht 'Liberale von links'. Wir sind Sozialisten." (S. 24) Seiner Rede vor dem Kongreß der Sozialistischen Internationale in Paris am 8. November 1999, also 5 Monate nach Veröffentlichung des Blair-Schröder-Papiers, gab er den programmatischen Titel: "Sozialist sein." Als Sozialist stellte er rückblickend selbstbewusst fest: ''Der demokratische Sozialismus hat dazu beigetragen, dieses Jahrhundert zu gestalten." (S. 60) Und auf die Zukunft bezogen bekannte er: "Der demokratische Sozialismus bleibt eine fruchtbare Idee für unsere neue Welt." (S. 62)
Die Revision des marxistisch-revolutionären Sozialismuskonzepts ist allerdings eine Voraussetzung dafür, dass der Demokratische Sozialismus eine 'fruchtbare Idee" für die Zukunft bleiben kann. Eine Mehrheit der französischen Sozialisten hatte rhetorisch bis in die achtziger Jahre an jenem Konzept festgehalten, das dem Kapitalismus den Sozialismus als totale Systemalternative entgegensetzt. Und so kamen sie 1981 mit der revoIutionären Forderung nach "Bruch mit dem Kapitalismus" an die Regierung. Doch bereits nach 2 Jahren mußten sie den "Bruch mit diesem Sozialismuskonzept" vollziehen.
Erst nach diesem erzwungenen "praktischen Godesberg" im Jahre 1983 wurde die theoretische Revision ihres antiquierten Sozialismuskonzeptes mehrheitsfähig. Der moderne Sozialismus bedeutet nicht mehr die "kollektive Aneignung der Produktionsmittel" (S. 37), er ist "nicht mehr als 'System' zu definieren", das dem "kapitalistischen System ein System der Planwirtschaft" als Totalalternative gegenüberstellt. (S. 23)
Im Gegensatz zu dem in Frankreichs besonders langlebigen revolutionären Sozialismus bekennt sich Jospin ausdrücklich zum Reformsozialismus: "Die Reform ist unsere Methode der sozialen Transformation. ... Sie ist ein zentrales Element unserer politischen Identität: unser Sozialismus ist reformistisch. (S. 76) (Der moderne Sozialismus in Frankreich ist weitgehend identisch mit dem grundwerteorientierten Reformsozialismus des Godesberger Programms, das namentlich noch einigen bekannt ist, und dem Berliner Programm von 1989, von dem auch der Name vergessen ist. )
Im modernen Sozialismus bilden Werte den Kern der politischen Identität: "Wenn er nicht mehr ein System ist, ist der Sozialismus ein Ensemble von Werten, eine Vision der Geschichte, eine Zivilisation." (S. 62) Während die Werte in einer sich verändernden Welt unverändert bleiben müssen, können und müssen sich die Mittel verändern: "Es sind unsere Werte, die unsere politische Identität begründen, mehr als die einzusetzenden Mittel, um sie zu erreichen. Wenn die Ziele, die wir mit unserem Engagement verfolgen, unverändert bleiben müssen, so können doch die Mittel kritisch überprüft, angepaßt, also verändert werden, wenn es die Umstände erfordern." (S. 81 )
Die Berufung auf ein "Ensemble von Werten" bedeutet keineswegs, dass der moderne Sozialismus, wie der Kommunitarismus, auf Kapitalismuskritik verzichtet und nur noch moralische Appelle an die Bürger richtet: Wenn ihr alle im Sinne gemeinschaftsorientierter Werte besser werdet, wird alles gut werden.
Die Werte des Sozialismus, vor allem Freiheit, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, sind auf gesellschaftliche Strukturen bezogen. Sie sind nicht Ersatz für Kapitalismuskritik, sondern normative Grundlage sowohl für Analyse und Kritik als auch für die Begründung von Reformprogrammen zur Gestaltung und /Veränderung der Gesellschaft: "Sozialist sein heißt, eine gerechtere Gesellschaft zu bauen. Sozialist sein bedeutet also, sich zu bemühen, die Ungleichheiten zu reduzieren. ... Wir haben die Berufung, die Gesellschaft für die Schwachen weniger hart zu machen und von den Mächtigen mehr zu fordern." (S 47
Den Kern einer grundwerte- und praxisorientierten Kapitalismuskritik hat Jospin erstmals am 19. Juni 1998 in Washington und am 23. Juli in London in der einprägsamen Formel zusammengefaßt, die ein Jahr später - was viele übersehen haben - auch in das Blair-Schröder-Papier aufgenommen wurde: "Ja zur Marktwirtschaft, nein zur Marktgesellschaft." Der Markt, im Neoliberalismus ebenso exaltiert vergöttert wie im Marxismus-Leninismus verteufelt, wird im modernen Sozialismus ohne ideologische Scheuklappen einer nüchternen kritisch-rationalen Analyse unterzogen: "Was die Schaffung des Reichtums und die Zuteilung von Ressourcen betrifft, so ist die Überlegenheit des Marktes über die Planwirtschaft unbestritten bewiesen. Aber deshalb machen wir den Markt keineswegs zu einem Wert. Der Markt ist ein Instrument - effizient und wertvoll." (S. 63)
Aus der positiven Einschätzung des "Marktes als eine Technik der Produktion und der Ressourcenzuteilung" (S. 83) folgt das "Ja zur Marktwirtschaft". Doch so positiv die Rationalität des Marktes für das Wirtschaftssystem ist, so verheerend wäre es, sie auf die Gesamtgesellschaft und den Staat zu übertragen: "Wenn die Rationalität des Marktes über die des Staates triumphierte, hätte das zur Folge die Explosion der Ungleichheiten, die Auflösung des sozialen Zusammenhalts, die Gefährdung unserer Umwelt, die Schwächung unseres kulturellen Reichtums, den Verlust langfristiger Perspektiven, das Vergessen eines nationalen Projekts." (S. 84) Aus der Einsicht in die verhängnisvollen Wirkungen der Marktrationalität jenseits des Wirtschaftssystems folgt das entschiedene "Nein zur Marktgesellschaft."
Gegen das Vordringen der Marktgesellschaft ist der Sozialismus "als soziale Bewegung und als politische Praxis" eine "bestimmte Art, die Gesellschaft zu regulieren und die Wirtschaft in den Dienst der Menschen zu stellen." (S. 23) Sozialisten können sich nicht mit einer Marktgesellschaft abfinden, in der die Menschen in den Dienst der Wirtschaft gestellt werden und nur den "Wert" haben, den sie als Produktionsfaktor für die Wirtschaft haben. Denn für den Sozialismus als Humanismus ist der Mensch selbst Zweck und höchster Wert, der in einer menschlichen Gesellschaft nicht zum Mittel für den ''höheren" Wert des Profits degradiert werden darf.
"Eine menschliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die nicht durch den Markt beherrscht wird. Eine Gesellschaft, deren Werte nicht der Logik des Profits unterworfen werden, des 'immer mehrÂ’ für die, die schon viel haben. ... Wir wollen, dass die wirtschaftliche Öffnung einher geht mit der Berücksichtigung der sozialen Rechte, dem Schutz der Umwelt, der kulturellen Identitäten. Eine menschliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der nicht alles zur Ware gemacht wird. Die menschliche Arbeit ist keine Ware. Die Werke des menschlichen Geistes können nicht auf einfache Waren reduziert werden. ... Der menschliche Körper ist keine Ware. ... Die Gesundheit der Menschen ist keine Ware." (S. 103)
Die Informationen über die sozialen Folgen eines entfesselten Kapitalismus, auch die Bekenntnisse zu sozialer Gerechtigkeit und einer menschlichen Gesellschaft, sind auch bei uns täglich in fast allen Medien zu finden. Und es gibt auch bei uns deutliche Meinungsverschiedenheiten über die Bewertung dieses Prozesses, der von den einen begrüßt, von anderen beklagt wird. Doch in den intellektuellen Diskursen ist fast im gesamten Meinungsspektrum das deterministische Weltbild des Neoliberalismus vorherrschend, das strukturell mit dem dogmatischen Marxismus-Leninismus identisch ist: Die objektiven ökonomischen Naturgesetze determinieren global die gesellschaftliche Entwicklung und lassen den Menschen keinen Spielraum für bewußt gewählte alternative Zielsetzungen. Sie können nur diese objektiven Gesetzmäßigkeiten erkennen, um in Übereinstimmung mit ihnen moderne Politik zu machen. Niemand kann gegen die Wirtschaft regieren. Denn gegen die objektiven Gesetze der Wirtschaft ist jedes von einem demokratisch gewählten Parlament beschlossene Gesetz nur ohnmächtiger politischer Voluntarismus. Das, was im Marxismus-Leninismus nur Programm war, hat der Neoliberalismus verwirklicht: "Der Mensch ohne Alternative." (Kolakowski)
Fast im gesamten Meinungsspektrum in den intellektuellen Diskursen H E R R S C H T Konsens über eine "modernisierte" Formel des früheren marxistischen Geschichtsoptimismus: ''Den digitalen Kapitalismus (Glotz, bei Bebel Sozialismus) in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf!" Die Neoliberalen, die dies als objektive Entwicklung zum modernen" Endziel der Geschichte bejubeln, wissen sogar, wie man diesen sowieso unaufhaltsamen Lauf noch durch "moderne" Politik beschleunigen kann. Auf der anderen Seite wird dieser Lauf durchaus zwar heftig beklagt, aber zugleich darüber gejammert, dass man absolut nichts gegen diese Entwicklung in die soziale Katastrophe tun kann.
Exemplarisch für diesen intellektuellen Fatalismus ist ein Interview des amerikanischen Linksintellektuellen Richard Rorty in der Frankfurter Rundschau vom 1.8.2000; "Es besteht die Gefahr, dass wir den globalen Kapitalismus brutaler erleben werden als wir uns das je vorstellen konnten. Aber ich sehe niemanden, der eine Vorstellung davon hätte, wie das zu vermeiden wäre".
Diese fatalistische Haltung ist in den intellektuellen Diskursen HERRSCHENDER Konsens, gegen den niemand verstoßen darf, der als ernstzunehmender "moderner"' Denker akzeptiert werden möchte. (Da Günter Grass permanent und unbelehrbar gegen diesen Konsens verstoßen hat, wurde er in Deutschland aus diesen Diskursen ausgegrenzt)
Selbstverständlich erheben in den politischen Auseinandersetzungen auch in Deutschland alle Parteien den Anspruch, die Globalisierung gestalten zu wollen. Aber damit stellen sie das in den intellektuellen Diskursen vorHERRSCHENDE deterministische neoliberale Weltbild nicht in Frage.
In Frankreich dagegen stellt die Linke jenem neoliberalen Weltbild ein alternatives Paradigma für die Interpretation der Gesellschaft entgegen, das ausdrücklich die Möglichkeit von Handlungsalternativen anerkennt. (Übrigens: von Handeln überhaupt, also auch von politischem Handeln, kann man nur sprechen, wenn es Alternativen gibt, die in gesetzmäßigen Naturprozessen nicht vorhanden sind.)
Begünstigt durch die linke Hegemonie in den intellektuellen Diskursen kann Jospin sein sozialistisches Reformprogramm nicht nur politisch begründen, sondern auf der Grundlage einer alternativen Gesellschaftstheorie, die dem neoliberalen Paradigma grundsätzlich widerspricht: "Wir anerkennen und akzeptieren voll die Globalisierung. Aber sie ist für uns keine objektive Fatalität. Sie ist selbst Menschenwerk." (S. 41) Die Realität zur Kenntnis zu nehmen, darf nicht zu "Immobilismus oder Fatalismus" führen: "Sich an die Wirklichkeit anpassen: ja. Sich abfinden mit einem angeblich naturgegebenen kapitalistischen Modell: nein." (S. 43)
Dem Fatalismus oder auch einem Wunschdenken setzt Jospin "einen realistischen Voluntarismus" entgegen: "Wir wollen von der Wirklichkeit ausgehen, um sie besser transformieren zu können." (S. 85) Die kritische Analyse dieser Wirklichkeit hat immer das Ziel, Handlungsspielräume für ihre Veränderung im Sinne der sozialistischen Grundwerte zu erkennen: "Die Gesellschaft transformieren, um sie gerechter zu machen. Wir wollen das tun, indem wir die Modernität akzeptieren, aber auch gestalten." (S. 37) In Anspielung auf die 11. Feuerbach-These von Marx bekennt Jospin: ''Die Welt hat sich verändert, und sie hat uns verändert, aber wir haben nicht den Willen aufgegeben, die Welt zu verändern." (S. 88)
Die Sozialisten als Hauptkraft der französischen Linken halten also ausdrücklich an der gesellschaftsverändernden Zielsetzung der sozialistischen Arbeiterbewegung fest. Und ohne den beliebten Vorwurf des "Etatismus" zu fürchten, benennen sie den Staat als das entscheidende Instrument, um die gesellschaftliche Entwicklung nicht den Marktgesetzen auszuliefern, sondern durch sozialistische Reformpolitik bewußt zu gestalten.
Bereits im Wahlkampf für die vorgezogenen Parlamentswahlen im Frühjahr 1977 hatte Jospin die zentrale Zielsetzung einer linken Regierung formuliert: Die Autorität der politischen Macht wiederherstellen und den Bürgern zeigen, dass sich die politische Macht nicht mit der ökonomischen Macht identifiziert.
Allgemeines Ziel linker Politik gegen einen Siegeszug der Marktgesellschaft ist die Schaffung eines "neuen Gleichgewichts zwischen Staat und Markt". Zu diesem Zweck ist weiterhin ein starker öffentlicher Sektor und öffentlicher Dienst notwendig: "Für uns ist der öffentliche Dienst ein Wert. ... Er befindet sich im Zentrum des sozialen Zusammenhalts. Er ist einer der Garanten der Gleichheit zwischen den Staatsbürgern. Der öffentliche Dienst ist weder archaisch noch überholt." Ein starkes öffentliches Rundfunk- und Fernsehsystem "ist unverzichtbar, um die Qualität und Vielfalt der Programme zu garantieren, um die kulturellen Leistungen zu fördern. Es muß dazu beitragen, dass alle Zugang zum Wissen erhalten." (S. 83)
Um die Forderung nach einem neuen Gleichgewicht zwischen Staat und Markt zu rechtfertigen, präzisiert Jospin seinen Staatsbegriff: "In einem demokratischen Land wie dem unseren ist der Staat nicht in erster Linie eine Bürokratie, noch weniger ein Herrschaftsinstrument. Er ist, durch seine Regierung und sein gewähltes Parlament, das Ergebnis der demokratischen Debatte; ... er muß sich bemühen, das allgemeine Interesse zu verkörpern und die Forderungen der Staatsbürger umzusetzen." (S. 84)
Gegen den neoliberalen Schlachtruf "Deregulierung" fordert Jospin "die unverzichtbare Regulierung des Kapitalismus, die auf den politischen Willen und die öffentliche Gewalt angewiesen ist.". (S. 35) Diese politische Regulierung ist notwendig, weil "die Dynamik des Kapitalismus ... eine Kraft ist, die aus sich selbst heraus weder Zielrichtung noch Projekt oder Sinn produziert, also jene Elemente, die für eine Gesellschaft unverzichtbar sind. Der Kapitalismus ist eine Kraft, die fortschreitet, aber nicht weiß, wohin sie geht." (S. 39)
Besonders die für viele Länder verheerenden Finanzkrisen der letzten Jahre haben "die Notwendigkeit einer Regulierung des Kapitalismus" aufgezeigt. (S.40) Die Regulierung der Finanzmärkte ist notwendig, weil der Zusammenhang zwischen den "Finanztransaktionen und der eigentlichen Produktion bzw. der sozialen Wirklichkeit" unterbrochen worden ist. (S. 39)
Während die Linke zeitweilig die Umverteilung in den Mittelpunkt ihrer Politik stellte, müssen die Sozialisten jetzt sowohl durch aktive Industriepolitik der Produktion selbst als auch der Umverteilung im Sinne der Solidarität besondere Aufmerksamkeit widmen. Aus Schumpeters Theorie, dass Wachstum besonders durch Innovation und Unternehmertätigkeit gefördert wird, leitet Jospin die Schlußfolgerung ab, dass angesichts einer technologischen Revolution und der Globalisierung "Innovation auch zur Aufgabe des Staates wird". (S. 453
Ein "Staat als Stratege" richtet seine Anstrengungen auf künftige Wachstumsbereiche und gibt notwendige Impulse. Daher "hat unsere Regierung der Entwicklung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien entscheidende Unterstützung gewährt. Denn, in Frankreich, vollzog sich ihr Aufschwung nicht spontan. Die Unternehmen zögerten mit ihrem Engagement und der Rückstand unseres Landes vergrößerte sich. Durch unseren politischen Willen haben wir, ohne uns an die Stelle der eigentlichen Akteure zu setzen, die Produktion neuer Dienstleistungen, die Gründung von Unternehmen und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen ... erleichtert." (S. 45f.) Zu dieser Innovation und zum Wachstum hat auch beigetragen "ein Staat als Investor, der seine Verantwortung für die Verbesserung der Infrastrukturen, der Industrieanlagen, der Kommunikation, der Bildung, der Forschung wahrgenommen hat." (S. 46)
Eine weitere Notwendigkeit ist "der Staat, der Regeln setzt." Im Gegensatz zur Rechten, die diesen Aufgabenbereich reduzieren möchte, sind die Sozialisten der Meinung, dass die Befolgung der "notwendigen Regeln dem guten Funktionieren der Marktwirtschaft" und der "ökonomischen Effizienz" dient. (S. 46) Mit diesen Konzepten aktiver Wirtschaftspolitik erinnert der Staat daran, "dass die Wirtschaft vor allem im Dienst der gesamten menschlichen Gemeinschaft" steht. (S. 46)
Dem grundsätzlichen Ziel, die Wirtschaft stärker in den Dienst der gesamten menschlichen Gemeinschaft zu stellen, dient das Reformprogramm der Regierung. Indem sie "die Reform in den Dienst der sozialen Transformation stellt, rehabilitiert sie "die Idee der Reform, die von der Rechten verfälscht wurde. Für diese bedeutet Reform, den öffentlichen Dienst abbauen, das soziale Netz reduzieren, die Errungenschaften von Jahrzehnten des Fortschritts in Frage stellen. Für uns dagegen ... bleibt Reform identisch mit Fortschritt." (S. 38) Kriterium für eine "linke Wirtschaftspolitik" ist es unter diesem Gesichtspunkt, "der Schaffung von Arbeitsplätzen und dem Kampf gegen soziale Ungleichheiten Priorität zu verleihen". (S. 82) (Dagegen behauptet die neoliberale Ideologie, gerade die Vertiefung der sozialen Ungleichheiten und der Abbau des sozialen Schutzes dienten der Schaffung von Arbeitsplätzen.)
Im Gegensalz zur verschleiernden neoliberalen Ideologie. die in der Gesellschaft nur das Neben- und Gegeneinander gleichberechtigter Individuen sieht, gelangen die französischen Sozialisten auf der Grundlage empirischer Analysen zu einem anderen Bild von der Struktur der Gesellschaft: "Die französische Gesellschaft bleibt in Klassen strukturiert, selbst wenn ihre Grenzen oft weniger deutlich sind und sich verschieben." (S. 106) Auf diesem empirischen Hintergrund fragen die Sozialisten zunächst nicht, mit welchem Image und welcher Werbeagentur können wir auf dem Wählermarkt einen möglichst hohen Marktanteil für unser Warenangebot gewinnen. Sie fragen vielmehr nach der sozialen Lage und den Interessen der Menschen, mit deren Unterstützung und für die sie ein linkes Reformprogramm umsetzen wollen.
Da eine breite Wählerbasis nicht homogen ist und auch nicht a priori identische Interessen hat, muss erst durch die öffentliche Diskussion und Uberzeugungsarbeit eine Interessenkonvergenz zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen oder Klassen hergestellt werden, um "ein neues Bündnis" zu schaffen. Jospin will mit seinem Reformprogramm drei Klassen ansprechen und zusammenführen, und zwar "die Ausgegrenzten (les exclus), die breiten Volksschichten (les classes populaires) und die Mittelschichten (les classes moyennes ) (S. 106) obwohl sich die breiten Volksschichten verändert haben, "gibt es in Frankreich immer noch, auch wenn das Wort nicht mehr verwendet wird, eine 'Arbeiterklasse'. Früher im zweiten, industriellen Sektor konzentriert, befinden sich diese Schichten heute auch im Dienstleistungssektor. Es sind Menschen, die unter schlechten Bedingungen hart arbeiten und wenig verdienen." (S. 107) Gegenwärtig muß sich aber die Linke auch mehr als bisher um die Mittelschichten kümmern, "eine Gruppe von vorwiegend Gehaltsempfängern, in sich sehr differenziert, die eine wachsende Rolle in der französischen Gesellschaft spielt". (S. 107)
Diese drei Klassen, die durchaus jeweils spezifische, manchmal divergierende Interessen haben, haben auch gemeinsame Sorgen und Ziele: "Die Schaffung von Arbeitsplätzen, den Rückgang unsicherer Lebensverhältnisse, die Verbesserung des Bildungssystems, die Konsolidierung der sozialen Sicherheit. Sie können sich also in unserem Projekt der sozialen Transformation wiederfinden." (S. 1 07f.)
Für die "Ausgegrenzten" betreibt die Regierung eine "PoIitik der bewußten Integration", und zwar "durch die Schule, die Arbeit und die Beteiligung an der öffentlichen demokratischen Debatte", um aus Individuen "Bürger einer gleichen Gemeinschaft zu machen." (S. 106) Zur praktischen Umsetzung dieses Integrationszieles verweist Jospin auf die Erhöhung der Ausgaben für das Bildungssystem, die Schulreform, das "Gesetz gegen Ausgrenzungen", die Ausweitung des Krankenversicherungsschusses auf bisher benachteiligte Bevölkerungsgruppen. (Finanziert wird diese Ausweitung der sozialen Sicherheit nicht durch erhöhte Abgaben auf Arbeitseinkommen, sondern eine Erhöhung der allgemeinen Sozialabgaben auf alle Einkommen, also auch Unternehmergewinne.)
Für die breiten Volksschichten, "die hart arbeiten und wenig verdienen", hat die Linksregierung im Jahr 2000 die Steuern, die die Rechte kräftig erhöht hatte, reduziert. Dabei wurde die Besteuerung gerechter gestaltet, und zwar zugunsten der Einkommen für Arbeit und zu Lasten der Kapitaleinkommen. Das diente zugleich der Steigerung der "Kaufkraft und der sozialen Gerechtigkeit", (S. 109)
Wenn französische Sozialisten von ihren Erfolgen sprechen, betonen sie immer wieder, dass diese das Ergebnis eines politischen Willens und einer bestimmten Politik sind: Die nachfrageorientierte Politik zur Belebung der Binnennachfrage trug bei zu höherem Konsum, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen, zu höherer Investitionstätigkeit, zu höherem Wachstum und zu höheren Steuereinnahmen. So konnte die Regierung am 31. August "das größte Steuersenkungsprogramm in der Geschichte der Fünften Republik" (FAZ 1. 9. 2000) ankündigen, das die Bürger um rund 60 Milliarden DM entlastet.
Im wirtschaftlichen Erfolg Frankreichs, das höhere Wachstumsraten aufweist als die anderen großen europäischen Staaten, sieht Marisol Touraine, Abgeordnete und Nationale Sekretärin Für Solidarität der Sozialistischen Partei, einen Beweis "für die Gültigkeit eines erneuerten Keynesianismus." (Mansol Touraine, Un nouveau compromis socIal, in: ebd., S. 86 Ebd., S. 86) Um wirtschaftliche Aktivitäten und Unternehmergeist zu ermutigen, brauchen soziale Schutzrechte nicht abgebaut zu werden. "Kein 'ökonomisches Gesetz' zwingt dazu, die Lohnempfänger auf dem Altar der Effizienz zu opfern." (ebd. S. 86)
Das Ziel der Linksregierung, "ein neues Gleichgewicht zwischen Staat und Markt wiederherzustellen" ist identisch mit der Verteidigung des europäischen Sozialstaatsmodells gegen das Vordringen des neoamerikanischen asozialen Kapitalismus. Wenn das gelingt, auf europäischer Ebene, dann kann es nicht mehr heißen: Niemand kann gegen die Wirtschaft regieren, dann muß gelten: In einem demokratischen Staat muß die Wirtschaft den demokratischen Willen der Mehrheit respektieren, so dass sie nicht gegen die demokratisch legitimierte Politik "wirtschaften" kann. Die kleine Minderheit der ökonomischen Machtelite genießt zwar "Minderheitenschutz, aber kein Vetorecht gegen demokratische Mehrheitsentscheidungen.
Wegen der linken intellektuellen Hegemonie in Frankreich steht die Politik der Regierung unter Druck von links, während sie in Deutschland wegen der rechten intellektuellen Hegemonie unter Druck von rechts steht. Auf diesem Hintergrund läßt sich das Fazit begründen: Die Reformpolitik der französischen Regierung ist nicht erfolgreich, obwohl sie links und sozialistisch ist, sondern gerade weil sie sich selbstbewusst zu ihrer linken und sozialistischen Überzeugung bekennt.
Anmerkungen:

3}
4)
Die im laufenden Text in Klemmern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese 4 Beiträge Jospins in der oben angegebenen Publikation der Fondation Jean~Jaurös.
5) Jean Pisani-Ferry, Vérités, bravades et silence ..., in: Blair-Schröder - Le texte du "manifeste" - Les analyses critiques. Les Notes de la Fondation JeanJaurès, No. 13 août 1999, S. 70 f.
S) Mansol Touraine, Un nouveau compromis socIal, in: ebd., S. 86 Ebd., S. 86
Anders als der "moderne" Tony Blair werde die französische Linksregierung mit ihrem "antiquierten altsozialistischen" Programm bald an den ehernen objektiven Gesetzmäßigkeiten der globalisierten Marktwirtschaft scheitern und daher bald von den enttäuschten Wählern zu Recht wieder in die Opposition verbannt werden - lauteten viele Prognosen nach dem Sieg des Sozialisten Jospin im Mai 1997.
Doch während die Wähler 1999 den "modernen" Parteien von Blair und Schröder herbe Niederlagen zufügten, gingen Jospins linke Traditionssozialisten in Frankreich gestärkt aus den Regionalwahlen 1998 und den Europa-Wahlen 1999 hervor.
Die guten Wahlergebnisse und die anhaltend hohen Popularitätswerte für Jospin erklären sich aus den eindrucksvollen Erfolgen seiner Politik: In den ersten zwei Jahren ging die Arbeitslosigkeit bereits um 700 000 zurück, von Mai 1999 bis Mai 2000 noch einmal um rund 500 000; 1997 noch bei 12,5% liegend, sank sie in diesem Frühjahr, erstmals seit 1991, mit 9,8% unter die psychologisch wichtige Grenze von 10%. Dieser beachtliche Rückgang ist nicht nur der günstigen weltwirtschaftlichen Entwicklung zu verdanken, sondern auch dem Beschäftigungsprogramm der Regierung für Jugendliche (je 350 000 Arbeitsplätze im öffentlichen und im privaten Sektor) und der schrittweisen Umsetzung des Gesetzes über die 35-Stunden-Woche. Rund 40% des Rückgangs der Arbeitslosigkeit werden auf die neue Arbeitsmarktpolitik zurückgeführt. (vgl. Le nouvel Observateur 01.06.2000, Le Monde, 1. 7. 2000)
Die aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik der pluralen Linksregierung hat dazu beigetragen, dass Frankreich heute mit 3,5% Wachstum an der Spitze der EU-Länder steht
Die ökonomischen Erfolge der französischen Linksregierung versucht man in Deutschland meist damit zu erklären, dass Jospin zwar eine linke altsozialistische Rhetorik pflege, praktisch aber fast eine "moderne" neoliberale Wirtschaftspolitik betreibe. Zwar ist tatsächlich zu beobachten, dass in Großbritannien und Deutschland die praktische Politik nicht so "rechts" ist wie die Rhetorik, in Frankreich dagegen die praktische Politik nicht ganz so "links" wie die Rhetorik. Aber es bleibt unerkannt, dass die "Rechtslastigkeit" der Rhetorik in Deutschland und ihre "Linkslastigkeit' in Frankreich die Ursache in einem grundlegenden Unterschied zwischen beiden Ländern haben: ln den intellektuellen Diskursen, also im Bereich der Interpretationen und der Bewertungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, hat in Frankreich in den 90er Jahren die Linke die geistige Hegemonie zurückgewonnen. In Deutschland dagegen, und auch in Großbritannien, hat die neoliberale Ideologie ihr Deutungsmonopol behauptet, zwar nicht in der Gesamtbevölkerung, aber bei den Machteliten, und ihren willigen Helfern, in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Medien.
Voraussetzung für die Rückgewinnung einer linken Hegemonie in Frankreich war auf der semantischen Ebene das selbstbewußte Festhalten an der klaren Unterscheidung zwischen Rechts und Links und am linken Leitbegriff Sozialismus. In Frankreich wissen daher nicht nur, wie auch in Deutschland, die Rechten, dass sie Rechte sind, dort wissen, anders als in Deutschland, auch die Linken, dass sie Linke sind. Wer aber nicht mehr zwischen Rechts und Links zu unterscheiden vermag, kann sich nicht einmal dafür interessieren, ob es noch irgendwo eine linke geistige Hegemonie gibt. Und er kann auch nicht wahrnehmen, dass die Sozialistische Partei Frankreichs seit 1995 unter Jospin eine theoretisch-programmatische Erneuerung vollzogen hat, die intellektuell anspruchsvoller und tiefgreifender ist als die vorwiegend medial inszenierte Modernisierung von New Labour unter Blair.
Nach ihren katastrophalen Wahlniederlagen 1999 (die Hälfte der Stimmen vom September 1998 verloren!) hat die SPD zwar ihre enge Bindung an Blairs Dritten Weg klammheimlich zu lockern versucht und demonstrativ die Nähe zum erfolgreichen Jospin gesucht, der Ende 1999 auf dem Parteitag in Berlin sprechen durfte. Doch die theoretischen Grundlagen der erfolgreichen Politik der französischen Linksregierung und die Argumente zur Abgrenzung vom Blair-Schröder-Papier wurden von den "ideologiefreien" Pragmatikern nicht zur Kenntnis genommen.
Auf das Angebot, das Blair-Schröder-Papier auch unterzeichnen zu dürfen, hatte Jospin nur mit dem Wort "non"' geantwortet. Auf der Sommeruniversität der Sozialistischen Partei am 29. August 1999 in La Rochelle begründete er seine Distanzierung von der Zielrichtung des britisch-deutschen Manifestes damit, dass die französischen Sozialisten auf die Herausforderungen der Globalisierung "als eine Kraft der Linken" antworten. "Wir machen nicht in 'Sozial-Liberalismus'. Unser Ansatz unterscheidet sich von dem, der im Manifest unserer Freunde Tony Blair und Gerhard Schröder sichtbar wird. Wir sind eine Linke der Erneuerung, die sich um einen modernen Sozialismus sammelt.'' (S. 98)
In seinem im September 1999 von der Fabian Society veröffentlichten Grundsatzbeitrag (hier zitiert aus der französischen Fassung in: Le socialisme moderne) betonte Jospin, dass die Debatte über das Selbstverständnis der Sozialdemokratie zwar auch auf europäischer Ebene geführt werden müsse, aber die nationalen Besonderheiten einzelner Länder nicht ignoriert werden dürfen. Beim Vergleich zwischen Großbritannien und Frankreich sei zu beachten, dass es einen großen Unterschied ausmache, ob man nach dem "Experiment Thatcher" oder nach Balladur und Juppé an die Regierung komme. Unter diesem Gesichtspunkt sei "Â’der Dritte Weg' die nationale Form, die im Vereinigten Königreich die Arbeit für die theoretische und politische Erneuerung" der europäischen Sozialdemokratie angenommen habe. (S. 30f.) (In Deutschland wäre zu fragen, wie hilfreich die spezifisch britische Form der Erneuerung für die SPD sein kann, die nach Kohl an die Macht gekommen ist, der ja selbst einen Dritten Weg zwischen Thatcher und sozialdemokratischer Politik gegangen war.)
Für das Festhalten an der klaren Unterscheidung zwischen Links und Rechts gibt Jospin eine schlicht empirische Begründung, die in Frankreich übrigens Konsens ist: "Die Linke und die Rechte existieren. Und auch die Trennlinien, die sie voneinander unterscheiden." (S. 85) Daher müsse sich die französische Linke allen Fragen der französischen Gesellschaft "unter Bezugnahme auf ihre Werte und ihre eigenen Ansprüche" stellen. Für die meisten dieser Fragen "gibt es linke und rechte Herangehensweisen". Bei vielen aktuellen politischen Streitfragen waren daher die Antworten der Linken gut von denen der Rechten zu unterscheiden. (S. 108)
Die linken Antworten waren nicht die Alternative zu den "modernen" Antworten. Den Begriff modern überläßt Jospin nicht den neoliberalen Ideologen, er beansprucht ihn zur Kennzeichnung seiner Position, "eine authentisch linke Politik, eine Politik, die entschieden modern ist". (S. 88) In seinem Engagement für die Erneuerung des französischen Sozialismus seit 1995 läßt er sich von dem Grundsatz leiten: "Die Treue zu unseren Prinzipien ist kein Hindernis, sondern eine Voraussetzung für die Modernisierung."
Die Unsicherheit des Blair-Schröder-Papiers gegenüber dem traditionellen Leitbegriff "links" wird von französischen Kritikern als besondere Schwachstelle hervorgehoben: "Warum soviel reumütige Zerknirschung? Warum quält die Autoren des Manifestes schon das Wort links so sehr, dass sie sich so eifrig um ungenaue Ersatzbegriffe bemühen, als ob das Erbe von Harold Wilson und Willy Brandt ebenso schwer zu ertragen wäre wie das von Stalin und Mao?" ( Jean Pisani-Ferry, Vérités, bravades et silence ..., in: Blair-Schröder - Le texte du "manifeste" - Les analyses critiques. Les Notes de la Fondation JeanJaurès, No. 13 août 1999, S. 70 f.)
Gegen Tendenzen des Dritten Weges unterstreicht Jospin, dass für die französischen Sozialisten mit ihrer linken Standortbestimmung die Idee des Sozialismus unauflöslich verbunden bleibt: "Wir sind also nicht 'Liberale von links'. Wir sind Sozialisten." (S. 24) Seiner Rede vor dem Kongreß der Sozialistischen Internationale in Paris am 8. November 1999, also 5 Monate nach Veröffentlichung des Blair-Schröder-Papiers, gab er den programmatischen Titel: "Sozialist sein." Als Sozialist stellte er rückblickend selbstbewusst fest: ''Der demokratische Sozialismus hat dazu beigetragen, dieses Jahrhundert zu gestalten." (S. 60) Und auf die Zukunft bezogen bekannte er: "Der demokratische Sozialismus bleibt eine fruchtbare Idee für unsere neue Welt." (S. 62)
Die Revision des marxistisch-revolutionären Sozialismuskonzepts ist allerdings eine Voraussetzung dafür, dass der Demokratische Sozialismus eine 'fruchtbare Idee" für die Zukunft bleiben kann. Eine Mehrheit der französischen Sozialisten hatte rhetorisch bis in die achtziger Jahre an jenem Konzept festgehalten, das dem Kapitalismus den Sozialismus als totale Systemalternative entgegensetzt. Und so kamen sie 1981 mit der revoIutionären Forderung nach "Bruch mit dem Kapitalismus" an die Regierung. Doch bereits nach 2 Jahren mußten sie den "Bruch mit diesem Sozialismuskonzept" vollziehen.
Erst nach diesem erzwungenen "praktischen Godesberg" im Jahre 1983 wurde die theoretische Revision ihres antiquierten Sozialismuskonzeptes mehrheitsfähig. Der moderne Sozialismus bedeutet nicht mehr die "kollektive Aneignung der Produktionsmittel" (S. 37), er ist "nicht mehr als 'System' zu definieren", das dem "kapitalistischen System ein System der Planwirtschaft" als Totalalternative gegenüberstellt. (S. 23)
Im Gegensatz zu dem in Frankreichs besonders langlebigen revolutionären Sozialismus bekennt sich Jospin ausdrücklich zum Reformsozialismus: "Die Reform ist unsere Methode der sozialen Transformation. ... Sie ist ein zentrales Element unserer politischen Identität: unser Sozialismus ist reformistisch. (S. 76) (Der moderne Sozialismus in Frankreich ist weitgehend identisch mit dem grundwerteorientierten Reformsozialismus des Godesberger Programms, das namentlich noch einigen bekannt ist, und dem Berliner Programm von 1989, von dem auch der Name vergessen ist. )
Im modernen Sozialismus bilden Werte den Kern der politischen Identität: "Wenn er nicht mehr ein System ist, ist der Sozialismus ein Ensemble von Werten, eine Vision der Geschichte, eine Zivilisation." (S. 62) Während die Werte in einer sich verändernden Welt unverändert bleiben müssen, können und müssen sich die Mittel verändern: "Es sind unsere Werte, die unsere politische Identität begründen, mehr als die einzusetzenden Mittel, um sie zu erreichen. Wenn die Ziele, die wir mit unserem Engagement verfolgen, unverändert bleiben müssen, so können doch die Mittel kritisch überprüft, angepaßt, also verändert werden, wenn es die Umstände erfordern." (S. 81 )
Die Berufung auf ein "Ensemble von Werten" bedeutet keineswegs, dass der moderne Sozialismus, wie der Kommunitarismus, auf Kapitalismuskritik verzichtet und nur noch moralische Appelle an die Bürger richtet: Wenn ihr alle im Sinne gemeinschaftsorientierter Werte besser werdet, wird alles gut werden.
Die Werte des Sozialismus, vor allem Freiheit, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, sind auf gesellschaftliche Strukturen bezogen. Sie sind nicht Ersatz für Kapitalismuskritik, sondern normative Grundlage sowohl für Analyse und Kritik als auch für die Begründung von Reformprogrammen zur Gestaltung und /Veränderung der Gesellschaft: "Sozialist sein heißt, eine gerechtere Gesellschaft zu bauen. Sozialist sein bedeutet also, sich zu bemühen, die Ungleichheiten zu reduzieren. ... Wir haben die Berufung, die Gesellschaft für die Schwachen weniger hart zu machen und von den Mächtigen mehr zu fordern." (S 47
Den Kern einer grundwerte- und praxisorientierten Kapitalismuskritik hat Jospin erstmals am 19. Juni 1998 in Washington und am 23. Juli in London in der einprägsamen Formel zusammengefaßt, die ein Jahr später - was viele übersehen haben - auch in das Blair-Schröder-Papier aufgenommen wurde: "Ja zur Marktwirtschaft, nein zur Marktgesellschaft." Der Markt, im Neoliberalismus ebenso exaltiert vergöttert wie im Marxismus-Leninismus verteufelt, wird im modernen Sozialismus ohne ideologische Scheuklappen einer nüchternen kritisch-rationalen Analyse unterzogen: "Was die Schaffung des Reichtums und die Zuteilung von Ressourcen betrifft, so ist die Überlegenheit des Marktes über die Planwirtschaft unbestritten bewiesen. Aber deshalb machen wir den Markt keineswegs zu einem Wert. Der Markt ist ein Instrument - effizient und wertvoll." (S. 63)
Aus der positiven Einschätzung des "Marktes als eine Technik der Produktion und der Ressourcenzuteilung" (S. 83) folgt das "Ja zur Marktwirtschaft". Doch so positiv die Rationalität des Marktes für das Wirtschaftssystem ist, so verheerend wäre es, sie auf die Gesamtgesellschaft und den Staat zu übertragen: "Wenn die Rationalität des Marktes über die des Staates triumphierte, hätte das zur Folge die Explosion der Ungleichheiten, die Auflösung des sozialen Zusammenhalts, die Gefährdung unserer Umwelt, die Schwächung unseres kulturellen Reichtums, den Verlust langfristiger Perspektiven, das Vergessen eines nationalen Projekts." (S. 84) Aus der Einsicht in die verhängnisvollen Wirkungen der Marktrationalität jenseits des Wirtschaftssystems folgt das entschiedene "Nein zur Marktgesellschaft."
Gegen das Vordringen der Marktgesellschaft ist der Sozialismus "als soziale Bewegung und als politische Praxis" eine "bestimmte Art, die Gesellschaft zu regulieren und die Wirtschaft in den Dienst der Menschen zu stellen." (S. 23) Sozialisten können sich nicht mit einer Marktgesellschaft abfinden, in der die Menschen in den Dienst der Wirtschaft gestellt werden und nur den "Wert" haben, den sie als Produktionsfaktor für die Wirtschaft haben. Denn für den Sozialismus als Humanismus ist der Mensch selbst Zweck und höchster Wert, der in einer menschlichen Gesellschaft nicht zum Mittel für den ''höheren" Wert des Profits degradiert werden darf.
"Eine menschliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die nicht durch den Markt beherrscht wird. Eine Gesellschaft, deren Werte nicht der Logik des Profits unterworfen werden, des 'immer mehrÂ’ für die, die schon viel haben. ... Wir wollen, dass die wirtschaftliche Öffnung einher geht mit der Berücksichtigung der sozialen Rechte, dem Schutz der Umwelt, der kulturellen Identitäten. Eine menschliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der nicht alles zur Ware gemacht wird. Die menschliche Arbeit ist keine Ware. Die Werke des menschlichen Geistes können nicht auf einfache Waren reduziert werden. ... Der menschliche Körper ist keine Ware. ... Die Gesundheit der Menschen ist keine Ware." (S. 103)
Die Informationen über die sozialen Folgen eines entfesselten Kapitalismus, auch die Bekenntnisse zu sozialer Gerechtigkeit und einer menschlichen Gesellschaft, sind auch bei uns täglich in fast allen Medien zu finden. Und es gibt auch bei uns deutliche Meinungsverschiedenheiten über die Bewertung dieses Prozesses, der von den einen begrüßt, von anderen beklagt wird. Doch in den intellektuellen Diskursen ist fast im gesamten Meinungsspektrum das deterministische Weltbild des Neoliberalismus vorherrschend, das strukturell mit dem dogmatischen Marxismus-Leninismus identisch ist: Die objektiven ökonomischen Naturgesetze determinieren global die gesellschaftliche Entwicklung und lassen den Menschen keinen Spielraum für bewußt gewählte alternative Zielsetzungen. Sie können nur diese objektiven Gesetzmäßigkeiten erkennen, um in Übereinstimmung mit ihnen moderne Politik zu machen. Niemand kann gegen die Wirtschaft regieren. Denn gegen die objektiven Gesetze der Wirtschaft ist jedes von einem demokratisch gewählten Parlament beschlossene Gesetz nur ohnmächtiger politischer Voluntarismus. Das, was im Marxismus-Leninismus nur Programm war, hat der Neoliberalismus verwirklicht: "Der Mensch ohne Alternative." (Kolakowski)
Fast im gesamten Meinungsspektrum in den intellektuellen Diskursen H E R R S C H T Konsens über eine "modernisierte" Formel des früheren marxistischen Geschichtsoptimismus: ''Den digitalen Kapitalismus (Glotz, bei Bebel Sozialismus) in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf!" Die Neoliberalen, die dies als objektive Entwicklung zum modernen" Endziel der Geschichte bejubeln, wissen sogar, wie man diesen sowieso unaufhaltsamen Lauf noch durch "moderne" Politik beschleunigen kann. Auf der anderen Seite wird dieser Lauf durchaus zwar heftig beklagt, aber zugleich darüber gejammert, dass man absolut nichts gegen diese Entwicklung in die soziale Katastrophe tun kann.
Exemplarisch für diesen intellektuellen Fatalismus ist ein Interview des amerikanischen Linksintellektuellen Richard Rorty in der Frankfurter Rundschau vom 1.8.2000; "Es besteht die Gefahr, dass wir den globalen Kapitalismus brutaler erleben werden als wir uns das je vorstellen konnten. Aber ich sehe niemanden, der eine Vorstellung davon hätte, wie das zu vermeiden wäre".
Diese fatalistische Haltung ist in den intellektuellen Diskursen HERRSCHENDER Konsens, gegen den niemand verstoßen darf, der als ernstzunehmender "moderner"' Denker akzeptiert werden möchte. (Da Günter Grass permanent und unbelehrbar gegen diesen Konsens verstoßen hat, wurde er in Deutschland aus diesen Diskursen ausgegrenzt)
Selbstverständlich erheben in den politischen Auseinandersetzungen auch in Deutschland alle Parteien den Anspruch, die Globalisierung gestalten zu wollen. Aber damit stellen sie das in den intellektuellen Diskursen vorHERRSCHENDE deterministische neoliberale Weltbild nicht in Frage.
In Frankreich dagegen stellt die Linke jenem neoliberalen Weltbild ein alternatives Paradigma für die Interpretation der Gesellschaft entgegen, das ausdrücklich die Möglichkeit von Handlungsalternativen anerkennt. (Übrigens: von Handeln überhaupt, also auch von politischem Handeln, kann man nur sprechen, wenn es Alternativen gibt, die in gesetzmäßigen Naturprozessen nicht vorhanden sind.)
Begünstigt durch die linke Hegemonie in den intellektuellen Diskursen kann Jospin sein sozialistisches Reformprogramm nicht nur politisch begründen, sondern auf der Grundlage einer alternativen Gesellschaftstheorie, die dem neoliberalen Paradigma grundsätzlich widerspricht: "Wir anerkennen und akzeptieren voll die Globalisierung. Aber sie ist für uns keine objektive Fatalität. Sie ist selbst Menschenwerk." (S. 41) Die Realität zur Kenntnis zu nehmen, darf nicht zu "Immobilismus oder Fatalismus" führen: "Sich an die Wirklichkeit anpassen: ja. Sich abfinden mit einem angeblich naturgegebenen kapitalistischen Modell: nein." (S. 43)
Dem Fatalismus oder auch einem Wunschdenken setzt Jospin "einen realistischen Voluntarismus" entgegen: "Wir wollen von der Wirklichkeit ausgehen, um sie besser transformieren zu können." (S. 85) Die kritische Analyse dieser Wirklichkeit hat immer das Ziel, Handlungsspielräume für ihre Veränderung im Sinne der sozialistischen Grundwerte zu erkennen: "Die Gesellschaft transformieren, um sie gerechter zu machen. Wir wollen das tun, indem wir die Modernität akzeptieren, aber auch gestalten." (S. 37) In Anspielung auf die 11. Feuerbach-These von Marx bekennt Jospin: ''Die Welt hat sich verändert, und sie hat uns verändert, aber wir haben nicht den Willen aufgegeben, die Welt zu verändern." (S. 88)
Die Sozialisten als Hauptkraft der französischen Linken halten also ausdrücklich an der gesellschaftsverändernden Zielsetzung der sozialistischen Arbeiterbewegung fest. Und ohne den beliebten Vorwurf des "Etatismus" zu fürchten, benennen sie den Staat als das entscheidende Instrument, um die gesellschaftliche Entwicklung nicht den Marktgesetzen auszuliefern, sondern durch sozialistische Reformpolitik bewußt zu gestalten.
Bereits im Wahlkampf für die vorgezogenen Parlamentswahlen im Frühjahr 1977 hatte Jospin die zentrale Zielsetzung einer linken Regierung formuliert: Die Autorität der politischen Macht wiederherstellen und den Bürgern zeigen, dass sich die politische Macht nicht mit der ökonomischen Macht identifiziert.
Allgemeines Ziel linker Politik gegen einen Siegeszug der Marktgesellschaft ist die Schaffung eines "neuen Gleichgewichts zwischen Staat und Markt". Zu diesem Zweck ist weiterhin ein starker öffentlicher Sektor und öffentlicher Dienst notwendig: "Für uns ist der öffentliche Dienst ein Wert. ... Er befindet sich im Zentrum des sozialen Zusammenhalts. Er ist einer der Garanten der Gleichheit zwischen den Staatsbürgern. Der öffentliche Dienst ist weder archaisch noch überholt." Ein starkes öffentliches Rundfunk- und Fernsehsystem "ist unverzichtbar, um die Qualität und Vielfalt der Programme zu garantieren, um die kulturellen Leistungen zu fördern. Es muß dazu beitragen, dass alle Zugang zum Wissen erhalten." (S. 83)
Um die Forderung nach einem neuen Gleichgewicht zwischen Staat und Markt zu rechtfertigen, präzisiert Jospin seinen Staatsbegriff: "In einem demokratischen Land wie dem unseren ist der Staat nicht in erster Linie eine Bürokratie, noch weniger ein Herrschaftsinstrument. Er ist, durch seine Regierung und sein gewähltes Parlament, das Ergebnis der demokratischen Debatte; ... er muß sich bemühen, das allgemeine Interesse zu verkörpern und die Forderungen der Staatsbürger umzusetzen." (S. 84)
Gegen den neoliberalen Schlachtruf "Deregulierung" fordert Jospin "die unverzichtbare Regulierung des Kapitalismus, die auf den politischen Willen und die öffentliche Gewalt angewiesen ist.". (S. 35) Diese politische Regulierung ist notwendig, weil "die Dynamik des Kapitalismus ... eine Kraft ist, die aus sich selbst heraus weder Zielrichtung noch Projekt oder Sinn produziert, also jene Elemente, die für eine Gesellschaft unverzichtbar sind. Der Kapitalismus ist eine Kraft, die fortschreitet, aber nicht weiß, wohin sie geht." (S. 39)
Besonders die für viele Länder verheerenden Finanzkrisen der letzten Jahre haben "die Notwendigkeit einer Regulierung des Kapitalismus" aufgezeigt. (S.40) Die Regulierung der Finanzmärkte ist notwendig, weil der Zusammenhang zwischen den "Finanztransaktionen und der eigentlichen Produktion bzw. der sozialen Wirklichkeit" unterbrochen worden ist. (S. 39)
Während die Linke zeitweilig die Umverteilung in den Mittelpunkt ihrer Politik stellte, müssen die Sozialisten jetzt sowohl durch aktive Industriepolitik der Produktion selbst als auch der Umverteilung im Sinne der Solidarität besondere Aufmerksamkeit widmen. Aus Schumpeters Theorie, dass Wachstum besonders durch Innovation und Unternehmertätigkeit gefördert wird, leitet Jospin die Schlußfolgerung ab, dass angesichts einer technologischen Revolution und der Globalisierung "Innovation auch zur Aufgabe des Staates wird". (S. 453
Ein "Staat als Stratege" richtet seine Anstrengungen auf künftige Wachstumsbereiche und gibt notwendige Impulse. Daher "hat unsere Regierung der Entwicklung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien entscheidende Unterstützung gewährt. Denn, in Frankreich, vollzog sich ihr Aufschwung nicht spontan. Die Unternehmen zögerten mit ihrem Engagement und der Rückstand unseres Landes vergrößerte sich. Durch unseren politischen Willen haben wir, ohne uns an die Stelle der eigentlichen Akteure zu setzen, die Produktion neuer Dienstleistungen, die Gründung von Unternehmen und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen ... erleichtert." (S. 45f.) Zu dieser Innovation und zum Wachstum hat auch beigetragen "ein Staat als Investor, der seine Verantwortung für die Verbesserung der Infrastrukturen, der Industrieanlagen, der Kommunikation, der Bildung, der Forschung wahrgenommen hat." (S. 46)
Eine weitere Notwendigkeit ist "der Staat, der Regeln setzt." Im Gegensatz zur Rechten, die diesen Aufgabenbereich reduzieren möchte, sind die Sozialisten der Meinung, dass die Befolgung der "notwendigen Regeln dem guten Funktionieren der Marktwirtschaft" und der "ökonomischen Effizienz" dient. (S. 46) Mit diesen Konzepten aktiver Wirtschaftspolitik erinnert der Staat daran, "dass die Wirtschaft vor allem im Dienst der gesamten menschlichen Gemeinschaft" steht. (S. 46)
Dem grundsätzlichen Ziel, die Wirtschaft stärker in den Dienst der gesamten menschlichen Gemeinschaft zu stellen, dient das Reformprogramm der Regierung. Indem sie "die Reform in den Dienst der sozialen Transformation stellt, rehabilitiert sie "die Idee der Reform, die von der Rechten verfälscht wurde. Für diese bedeutet Reform, den öffentlichen Dienst abbauen, das soziale Netz reduzieren, die Errungenschaften von Jahrzehnten des Fortschritts in Frage stellen. Für uns dagegen ... bleibt Reform identisch mit Fortschritt." (S. 38) Kriterium für eine "linke Wirtschaftspolitik" ist es unter diesem Gesichtspunkt, "der Schaffung von Arbeitsplätzen und dem Kampf gegen soziale Ungleichheiten Priorität zu verleihen". (S. 82) (Dagegen behauptet die neoliberale Ideologie, gerade die Vertiefung der sozialen Ungleichheiten und der Abbau des sozialen Schutzes dienten der Schaffung von Arbeitsplätzen.)
Im Gegensalz zur verschleiernden neoliberalen Ideologie. die in der Gesellschaft nur das Neben- und Gegeneinander gleichberechtigter Individuen sieht, gelangen die französischen Sozialisten auf der Grundlage empirischer Analysen zu einem anderen Bild von der Struktur der Gesellschaft: "Die französische Gesellschaft bleibt in Klassen strukturiert, selbst wenn ihre Grenzen oft weniger deutlich sind und sich verschieben." (S. 106) Auf diesem empirischen Hintergrund fragen die Sozialisten zunächst nicht, mit welchem Image und welcher Werbeagentur können wir auf dem Wählermarkt einen möglichst hohen Marktanteil für unser Warenangebot gewinnen. Sie fragen vielmehr nach der sozialen Lage und den Interessen der Menschen, mit deren Unterstützung und für die sie ein linkes Reformprogramm umsetzen wollen.
Da eine breite Wählerbasis nicht homogen ist und auch nicht a priori identische Interessen hat, muss erst durch die öffentliche Diskussion und Uberzeugungsarbeit eine Interessenkonvergenz zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen oder Klassen hergestellt werden, um "ein neues Bündnis" zu schaffen. Jospin will mit seinem Reformprogramm drei Klassen ansprechen und zusammenführen, und zwar "die Ausgegrenzten (les exclus), die breiten Volksschichten (les classes populaires) und die Mittelschichten (les classes moyennes ) (S. 106) obwohl sich die breiten Volksschichten verändert haben, "gibt es in Frankreich immer noch, auch wenn das Wort nicht mehr verwendet wird, eine 'Arbeiterklasse'. Früher im zweiten, industriellen Sektor konzentriert, befinden sich diese Schichten heute auch im Dienstleistungssektor. Es sind Menschen, die unter schlechten Bedingungen hart arbeiten und wenig verdienen." (S. 107) Gegenwärtig muß sich aber die Linke auch mehr als bisher um die Mittelschichten kümmern, "eine Gruppe von vorwiegend Gehaltsempfängern, in sich sehr differenziert, die eine wachsende Rolle in der französischen Gesellschaft spielt". (S. 107)
Diese drei Klassen, die durchaus jeweils spezifische, manchmal divergierende Interessen haben, haben auch gemeinsame Sorgen und Ziele: "Die Schaffung von Arbeitsplätzen, den Rückgang unsicherer Lebensverhältnisse, die Verbesserung des Bildungssystems, die Konsolidierung der sozialen Sicherheit. Sie können sich also in unserem Projekt der sozialen Transformation wiederfinden." (S. 1 07f.)
Für die "Ausgegrenzten" betreibt die Regierung eine "PoIitik der bewußten Integration", und zwar "durch die Schule, die Arbeit und die Beteiligung an der öffentlichen demokratischen Debatte", um aus Individuen "Bürger einer gleichen Gemeinschaft zu machen." (S. 106) Zur praktischen Umsetzung dieses Integrationszieles verweist Jospin auf die Erhöhung der Ausgaben für das Bildungssystem, die Schulreform, das "Gesetz gegen Ausgrenzungen", die Ausweitung des Krankenversicherungsschusses auf bisher benachteiligte Bevölkerungsgruppen. (Finanziert wird diese Ausweitung der sozialen Sicherheit nicht durch erhöhte Abgaben auf Arbeitseinkommen, sondern eine Erhöhung der allgemeinen Sozialabgaben auf alle Einkommen, also auch Unternehmergewinne.)
Für die breiten Volksschichten, "die hart arbeiten und wenig verdienen", hat die Linksregierung im Jahr 2000 die Steuern, die die Rechte kräftig erhöht hatte, reduziert. Dabei wurde die Besteuerung gerechter gestaltet, und zwar zugunsten der Einkommen für Arbeit und zu Lasten der Kapitaleinkommen. Das diente zugleich der Steigerung der "Kaufkraft und der sozialen Gerechtigkeit", (S. 109)
Wenn französische Sozialisten von ihren Erfolgen sprechen, betonen sie immer wieder, dass diese das Ergebnis eines politischen Willens und einer bestimmten Politik sind: Die nachfrageorientierte Politik zur Belebung der Binnennachfrage trug bei zu höherem Konsum, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen, zu höherer Investitionstätigkeit, zu höherem Wachstum und zu höheren Steuereinnahmen. So konnte die Regierung am 31. August "das größte Steuersenkungsprogramm in der Geschichte der Fünften Republik" (FAZ 1. 9. 2000) ankündigen, das die Bürger um rund 60 Milliarden DM entlastet.
Im wirtschaftlichen Erfolg Frankreichs, das höhere Wachstumsraten aufweist als die anderen großen europäischen Staaten, sieht Marisol Touraine, Abgeordnete und Nationale Sekretärin Für Solidarität der Sozialistischen Partei, einen Beweis "für die Gültigkeit eines erneuerten Keynesianismus." (Mansol Touraine, Un nouveau compromis socIal, in: ebd., S. 86 Ebd., S. 86) Um wirtschaftliche Aktivitäten und Unternehmergeist zu ermutigen, brauchen soziale Schutzrechte nicht abgebaut zu werden. "Kein 'ökonomisches Gesetz' zwingt dazu, die Lohnempfänger auf dem Altar der Effizienz zu opfern." (ebd. S. 86)
Das Ziel der Linksregierung, "ein neues Gleichgewicht zwischen Staat und Markt wiederherzustellen" ist identisch mit der Verteidigung des europäischen Sozialstaatsmodells gegen das Vordringen des neoamerikanischen asozialen Kapitalismus. Wenn das gelingt, auf europäischer Ebene, dann kann es nicht mehr heißen: Niemand kann gegen die Wirtschaft regieren, dann muß gelten: In einem demokratischen Staat muß die Wirtschaft den demokratischen Willen der Mehrheit respektieren, so dass sie nicht gegen die demokratisch legitimierte Politik "wirtschaften" kann. Die kleine Minderheit der ökonomischen Machtelite genießt zwar "Minderheitenschutz, aber kein Vetorecht gegen demokratische Mehrheitsentscheidungen.
Wegen der linken intellektuellen Hegemonie in Frankreich steht die Politik der Regierung unter Druck von links, während sie in Deutschland wegen der rechten intellektuellen Hegemonie unter Druck von rechts steht. Auf diesem Hintergrund läßt sich das Fazit begründen: Die Reformpolitik der französischen Regierung ist nicht erfolgreich, obwohl sie links und sozialistisch ist, sondern gerade weil sie sich selbstbewusst zu ihrer linken und sozialistischen Überzeugung bekennt.
Anmerkungen:

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4)
Die im laufenden Text in Klemmern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese 4 Beiträge Jospins in der oben angegebenen Publikation der Fondation Jean~Jaurös.
5) Jean Pisani-Ferry, Vérités, bravades et silence ..., in: Blair-Schröder - Le texte du "manifeste" - Les analyses critiques. Les Notes de la Fondation JeanJaurès, No. 13 août 1999, S. 70 f.
S) Mansol Touraine, Un nouveau compromis socIal, in: ebd., S. 86 Ebd., S. 86