Oben und unten

Die gesamtdeutsche Linke formiert sich. Siebzehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges wird die große Auseinandersetzung der vorigen Jahrhunderthälfte nun auch hier beendet. Angesichts der - beinah

genetisch bedingt anmutenden - Rechthaberei zwischen Linken ganz gleich welchen Glaubensbekenntnisses (marxistisch, anarchistisch, reformistisch, marxistisch-leninistisch, trotzkistisch, demokratisch-sozialistisch, maoistisch, Sozialismus à la Che und Fidel oder - nun neu im Angebot - à la Hugo Chavez) ist das zweifellos ein bemerkenswerter Vorgang.

Doch letztlich wird hier ein altes Stück aufgeführt: Diese nachholende Modernisierung bleibt dem Denken in Rechts-Links-Kategorien verpflichtet. Der Großen Revolution der Franzosen entsprungen, widerspiegelten sie etwa bis zum Ersten Weltkrieg die Wirklichkeit. Die Rechte stand für Kirche, Adel, Militär, Staatsbürokratie und das große Kapital, die Linke für diejenigen, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben mußten und Gütern mit ihrer Arbeit mehr Wert hinzufügten, als ihre Arbeitskraft wert war.

Die Reaktionen der SPD-Klientel auf die - eindeutig rechte - Entscheidung der Reichstagsfraktion vom 4. August 1914, den Kriegskrediten zuzustimmen, offenbarte, daß die Rechts-Links-Konstellation aufhörte, signifikante Konstellationen in der Gesellschaft widerzuspiegeln. Denn Umbrüche in ihren Tiefen hatten Umorientierungen bewirkt. Nicht nur in Deutschland: Pilsudski, Mussolini und die ersten Nationalsozialisten - sie agierten im mährischen Iglau - kamen nicht zufällig von der Linken.

Die Revolutionen von 1776 und 1789 hatten den individuellen Menschenrechten - vom Recht auf Eigentum und unlizensierten Handel über die Meinungsfreiheit bis hin zum unbedingten Recht auf Assoziation - zum Durchbruch verholfen. Doch den linken Kritikern - beginnend mit Jacques Roux - genügte die süße Schale der formalen Gleichheit nicht, sie wollten den herben Kern der sozialen Ungleichheit beseitigt sehen (Rosa Luxemburg). Marx fundierte dieses Programm theoretisch. Und die Bolschewiki verrieten es - mit Notwendigkeit. Denn als aktivistische Minderheit - als Avantgarde - konnten sie auf Dauer über eine Mehrheit nur herrschen, wenn sie die individuellen Menschenrechte bis zur Unkenntlichkeit beschnitten - und die Ersetzung des Marktes durch den Willen von Partei und Staat als den Beginn eines Goldenen Zeitalters sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit postulierten. Das Ergebnis, der Stalinismus, ist bekannt. Seinen Anhängern gilt er heute noch als links.

Dabei passen weder er noch der Faschismus ins Rechts-Links-Schema der bürgerlichen Revolutionäre. Deshalb wurde - etwas hilflos - dieses Schema "weiterentwickelt"; rechts und links wurden Extreme angeklebt. Sowohl in den USA ("Demokraten" versus "Republikaner") als auch in Europa wird seit Jahrzehnten von den Eliten mit Vorsatz die Fortschreibung der Rechts-Links-Konstellation betrieben - gerade weil sie mit den Verhältnissen, die heute in der Gesellschaft herrschen, kaum noch etwas zu tun hat und deshalb für "die oben" ungefährlich ist. Politik in der Rechts-Links-Konstellation bildet eine Nebelwand, die den Blick auf die Gesellschaft in Schleier legt. Und die - oft naive - Linke spielt überall mit.

Links, ursprünglich ein Ehrentitel für jene, die gewillt waren, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein beleidigtes, erniedrigtes und verlassenes Wesen ist, hat sich längst in ein goldenes Gehäuse verwandelt. Die Taue, mit denen die Linke einst in der Gesellschaft verankert war, sind zu unscheinbaren Fädchen zerschlissen. In den alten Kostümen werden immer traurigere Stücke gegeben.

Etwa die Hälfte der deutschen Wähler kann sich heute schon nicht mehr im Rechts-Links-Schema wiederfinden, denn diese Konstellation hat mit ihrer Lebenswirklichkeit kaum noch etwas zu tun. Diese Wähler haben sich jahrzehntelang immer wieder überzeugen lassen, an diesem Rechts-Links-Spiel, das SPD und CDU mit nicht erlahmender Chuzpe simulierten, zu beteiligen. Bis sie irgendwann begriffen, daß es schon seit langem nicht mehr um links oder rechts, sondern um unten oder oben geht - beides aber nicht zur Abstimmung gestellt wird.

Die Linke aus West und Ost, alles andere als unschuldig und morgenschön, wird im Moment von der Ohnmacht eines abzusehenden Scheiterns aufs gemeinsame Lager gezwungen. Die einen sind erst gar nicht auf die Beine gekommen, die anderen können sich kaum noch auf ihnen halten. Doch Vernunftehen sind manchmal ganz erfolgreich. Denn trotz aller Probleme kann das gemeinsame Kind gesund zur Welt kommen; vorausgesetzt man beabsichtigt, eins zu zeugen und nicht, sich auf den Stufen des Reichstages - gemeinsam - zur letzten Ruhe zu betten. Dafür haben de Eliten schon alles vorbereitet: Die Falle - die Ablösung der SPD durch die gesamtdeutsche Linke - steht weit geöffnet im Raum.

Längst wird nicht mehr nur der Lohnarbeiter ausgebeutet. Neben die Gewinne, die aus der Ware Arbeitskraft geschöpft werden, treten immer häufiger Gewinne, die auf Monopolen beruhen. Energie, Wasser, Bildung, Gesundheit, Altern et cetera sind zu Quellen von Profit pervertiert worden.
Eine ganze Gesellschaft steht einer parasitären Oligarchie gegenüber.

Nur wenn sich diese Gesellschaft - das "Unten" - gemeinsam wehrt und dafür einen politischen Ausdruck findet, der individuelle und soziale Emanzipation untrennbar und gleichberechtigt verfolgt, wird sich ein Weg zu einem menschenwürdigen Leben für alle freilegen lassen. Die Linke hätte dann noch einmal eine Funktion: aus dem Rechts-Links-Spiel auszusteigen, um diese neue politische Kraft zu entbinden.

in: Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 16. April 2007, Heft 8