Das Verhältnis zwischen den USA und Lateinamerika ist seit dem Amtsantritt Obamas auf dem Prüfstand
In der neuen US-amerikanischen Lateinamerikapolitik werden neue Töne angeschlagen. Wird es einen change geben? Dazu eine chronologische Betrachtung der neuen US-Lateinamerikapolitik Obamas, eine Einschätzung des Verhältnisses von Worten und Taten und die Wahrnehmung unterschiedlicher AkteurInnen.
Begonnen hatte alles
mit vielversprechenden Ankündigungen. Noch vor dem Amtsantritt ihres
Chefs im Weißen Haus am 19. Januar 2009 versprach die designierte
Außenministerin Hillary Clinton gegenüber Lateinamerika „direkte
Diplomatie“, basierend auf „intelligenter Macht“. Aber bereits hier
zeigte sich auch die andere Hauptlinie: „Wir müssen eine positive
Agenda für die Hemisphäre haben – als Antwort auf die Angst machende
Propaganda von Chávez und Evo Morales.“ Ein halbes Jahr später, Ende
Juli, präzisierte Clinton die US-Außenpolitik als smart power vor dem
gleichen Ausschuss: Darunter sei zu verstehen, dass die USA ihre
Instrumente intelligent einsetzen und dabei weiterhin auf ihre
Führungsstärke setzen wolle. Dabei war die Wortwahl von Vizepräsident
Biden auf dem Amerika-Gipfel von Viña del Mar Ende März 2009 noch eine
andere: „Die Epoche, in der wir Befehle gaben, ist vorbei“.
Welchen Stellenwert die oberste US-Außenpolitikerin dann vier Monate
später Lateinamerika zumaß, erschloss sich aus der Agenda: Nach Europa
und vielen anderen Regionen tauchte Lateinamerika unter den Stichworten
Guantánamo und Drogenkrieg erst am Ende auf. Abraham F. Lowenthal,
Professor für Internationale Beziehungen der University of Southern
California, sieht das anders. In einem umfangreichen Beitrag in der
August Ausgabe der Zeitschrift „Nueva Sociedad“ nennt er vier Gründe,
warum die Lateinamerika-Politik für die USA besonders wichtig ist: Mit
der zunehmenden Migration sind die amerikanischen Staaten näher
zueinander gerückt; die Hälfte der Energie-Importe der USA kommen aus
Lateinamerika; internationale Probleme wie die globale Erwärmung oder
die Verbrechensbekämpfung sind nur überregional zu lösen, und es gibt
gemeinsame Werte wie die grundlegenden Menschenrechte. Insofern sei die
westliche Hemisphäre der natürliche Rahmen der USA in einer Welt, die
immer unübersichtlicher werde und immer weniger attraktiv sei.
Lowenthal macht zudem drei Prinzipien der Obama-Politik gegenüber
Lateinamerika aus: Den Versuch, verloren gegangenes Vertrauen wieder
zurück zu gewinnen; die Fokussierung auf einige wenige Probleme wie
Energie, Umwelt und öffentliche Sicherheit sowie die Anerkennung von
Unterschieden in Lateinamerika. Insofern sei die US-Politik auch eher
bilateral ausgerichtet. Brasilien, Mexiko, aber auch Kuba stünden hier
im Vordergrund. Dass die US-Politik in den kommenden Monaten oder
Jahren in Missklang oder Schweigen enden könne, will Lowenthal nicht
ausschließen. Auch Widersprüche sieht er. Etwa, wenn Hillary Clinton
das propagierte Recht der Völker Amerikas auf Selbstbestimmung mit der
Aussage konterkariert, dass die zunehmende Präsenz Chinas auf dem
Kontinent für die US-Regierung Grund zur Besorgnis sei. Was Lowenthal
allerdings zuversichtlich stimmt, ist die relative Schwächung von
Lobby-Gruppen, die gegen den eingeschlagenen Kurs sind: die Exilkubaner
in Florida etwa oder die US-Waffenlobby. Das könnte der Regierung mehr
Handlungsspielräume eröffnen. Eine strategische Vision für
Lateinamerika habe die US-Regierung jedenfalls.
Die Reaktion in Lateinamerika war von Beginn an mehrheitlich von
kritischer Distanz geprägt. Emir Sader, brasilianischer
Linksintellektueller, sprach bereits im Januar vom „schlechten Anfang
Hillary Clintons“ und konstatierte, sie spreche, als ob sie sich im
leeren, a-historischen Raum bewege. Er verlangte zuerst eine
Selbstkritik der Politik unter Bill Clinton und Bush. Frau Clinton
solle sich zunächst darüber bewusst werden, dass Amerika nicht mehr der
gleiche Kontinent sei wie zur Regierungszeit ihres Mannes, als noch der
Neoliberalismus und der amerikanische Freihandelsvertrag „regierten“.
Im Februar präzisierte er: Wenn Obama den minimalen Respekt der
lateinamerikanischen Länder erreichen wolle, müsse er nur dafür sorgen,
dass Nordamerika sich einfach so verhalte wie all die anderen Staaten,
die es auf der Welt gibt. In Saders Forderungskatalog finden sich:
Einfrieren der Liste der Länder, die nicht mit den USA oder der
Antidrogenbehörde DEA kooperieren sowie der Liste der als
„terroristisch“ eingestuften Länder oder politischen Kräfte, sofortiger
Rückzug der US-Truppen aus Guantánamo und Rückgabe des Territoriums an
die kubanische Regierung. Atilio Borón, Soziologe an der Universität in
Buenos Aires, sah in Obama einen „tío (Onkel) Tom: Ein deklassierter
Schwarzer, der die Seinen verrät und sich in den Dienst der Herren
stellt.“ Statt mit den Wall Street-Machern zu kungeln, hätte Obama sich
mit den Führungspersonen der sozialen Bewegungen treffen sollen, die
ihn überhaupt erst ins Weiße Haus katapultiert hätten.
Gleich nach dem Amtsantritt verkündete Obama sein Ziel, Guantánamo zu
schließen, Reiseerleichterungen für ExilkubanerInnen und eine Lockerung
der Bestimmungen zum privaten Geldtransfer (remesas) einzuführen. Borón
war dies einen Applaus wert. Doch auf dem OAS-Gipfel in Trinidad und
Tobago vom April machten lateinamerikanische Betrachter die
Beobachtung, dass sich die großen Orientierungspunkte der Außenpolitik
der Ära Bush „bester Gesundheit erfreuten“: Krieg und Ökonomie. Die
Weichen hinter dem change scheinen auf Kontinuität gestellt, so Borón,
der jenseits der Gesten wie dem Händedruck mit Chávez oder dem
Gesprächsangebot an Kuba als ersten konkreten Schritt die Aufhebung des
Embargos gegenüber der Karibikinsel verlangte. Das Verhalten der USA
gegenüber Kuba könnte zu einer Nagelprobe seiner Lateinamerika-Politik
werden. Obama dürfte es daran gespürt haben, dass ausgerechnet der
erklärte USA-Bewunderer Álvaro Uribe, Kolumbiens konservativer
Staatspräsident, formulierte: „Kolumbien spürt, dass die kubanische
Regierung für den Frieden in der Region arbeitet.“
Ende Juni kam dann die nächste Nagelprobe für die
US-Lateinamerika-Politik: der Putsch in Honduras. Von Beginn an
kursierten Gerüchte, wonach die CIA daran beteiligt gewesen sei und die
Vermutung, die honduranischen Militärs hätten niemals ohne „Rückfrage“
in Washington gehandelt. Die konkreten Schritte der US-Administration
geben jedenfalls ein uneindeutiges Bild ab. Einerseits wurde der Putsch
verurteilt, Zelaya als rechtmäßiger Präsident anerkannt, einigen
Putschisten die Einreise in die USA verweigert, die aktuelle
Militärhilfe in Höhe von 16,5 Millionen Dollar eingefroren und mit
Costa Ricas Präsident Arias eine diplomatische Vermittlungsoffensive
gestartet. Andererseits wird letzterer in Lateinamerika auch als
„Sprecher des Imperiums“ (Borón) wahrgenommen und den USA
Doppelzüngigkeit vorgeworfen. Die mehr als zehnmal höhere
Wirtschaftshilfe für Honduras laufe weiter, zur andauernden Repression
gegen Demonstranten, zu Ausgangssperren und Pressezensur schwiegen die
USA. Obama habe noch ganz andere Waffen in der Hand, etwa die
bürokratische Behinderung von remesas der Exil-Honduraner oder die
Bitte an die europäischen Freunde, die Beziehungen mit der
Putschisten-Regierung in Tegucigalpa einzufrieren. Unbestritten war
Honduras die erste Krise in den US-lateinamerikanischen Beziehungen in
der Obama-Ära. Emir Sader sah im Verhalten der USA die Handschrift
Hillary Clintons, die durch die Vermittlung Arias einen einzigartigen
Weg gefunden habe: Ohne Wahlmanipulation und ohne sich selbst die Hände
schmutzig zu machen, in die inneren Angelegenheiten eines Landes
einzugreifen. Noam Chomsky hatte bereits im März – also noch vor dem
Putsch – an die Domino-Theorie der US-Lateinamerikapolitik ab den 50er
Jahren erinnert. „Die Bedrohung durch das gute Beispiel“ zwingt dazu,
jedes Abfallen eines lateinamerikanischen Staates vom US-dominierten
Weg zu verhindern, da sonst weitere wie Domino-Steine fallen würden.
Viele Staaten hatten geglaubt, dass so etwas im 21. Jahrhundert in
Lateinamerika nicht mehr passieren könne – und wenn, dann eben nur
unter tatkräftiger Mithilfe der USA. Obama verteidigte sich gegen die
Kritiker, die ein Eingreifen Washingtons zugunsten Zelayas forderten,
mit dem Argument: „Das sind dieselben, die sonst immer sagen, wir
intervenieren immer, und dass die Yankees Lateinamerika verlassen
sollen.“
Als Uribe im Juli ankündigte, er werde in seinem Land sieben
US-Militärbasen zur Verfügung stellen, waren die Flitterwochen zwischen
der neuen US-Regierung und Lateinamerika endgültig vorbei. Selbst
gemäßigte Linke wie Brasiliens Lula da Silva reagierten arg reserviert.
Auf dem Treffen der UNASUR (südamerikanisches Staatenbündnis)
artikulierten denn auch nahezu alle Staatschefs – Uribe hatte
kurzfristig abgesagt – ihre Kritik an der kolumbianisch-amerikanischen
Kooperation. Zu sehen ist sie im Kontext des bereits unter Bill Clinton
im Jahr 2000 initiierten „Plan Colombia“, der Drogenproduktion und
Drogenhandel unterbinden sollte. Viele Regierungen in Lateinamerika
sahen darin von Anfang an einen Deckmantel zur Sicherung der US-Präsenz
in der Region. Daher kam bald der Gedanke auf, die USA verfolgten
andere Ziele: geostrategische Sicherung des Zugangs zum Erdöl der
Andenregion, Ausbau Kolumbiens als Brückenkopf in Südamerika, Ersatz
für die bisherige Militärbasis im ecuadorianischen Manta, die die neue
linke Regierung nicht verlängert hatte. Befürchtet wird nun eine
Rüstungsspirale. Immerhin ist Kolumbien nach Israel bzw. Ägypten der
größte Empfänger US-amerikanischer Militärhilfe. Andererseits zeigte
sich Hillary Clinton im September besorgt über die Waffenkäufe
Venezuelas in Russland: immerhin 92 russische Panzer im Wert von 1,5
Milliarden Euro – als Reaktion auf die Bedrohung durch Kolumbien, hieß
es aus Caracas. Brasilien hatte bereits zuvor durch eine „strategische
Rüstungs- und Atompartnerschaft mit Frankreich“ für Aufsehen gesorgt:
36 Kampfflugzeuge für 5 Milliarden Euro. Man muss dies allerdings auch
als Ausdruck des Anspruchs einer Regionalmacht auf einen ständigen Sitz
im UN-Sicherheitsrat sehen. Die BBC wiegelte daher auch ab: „Washington
weiß, sobald es Brasiliens Anspruch auf die regionale Führungsrolle
akzeptiert, wird viel von Chávez´ Donnern verschwinden.“ Allerdings
rücken sich zwei Hauptkontrahenten in der westlichen Hemisphäre durch
die geplante US-Stationierung bedrohlich nahe. So sieht es auch Fidel
Castro, der sich am 6. November 2009 dazu unter dem Titel „Die Annexion
Kolumbiens durch die USA“ publizistisch äußerte. Er habe den
kolumbianisch-amerikanischen Vertrag gelesen und darin keine glaubhafte
Begründung für diesen Kontrakt gefunden. Erinnert fühle er sich an die
von den USA mit vorbereitete und unterstützte Invasion in der
kubanischen Playa de Girón. Die B-26 Bomber operierten von Nicaragua
aus. Heute stehe das US-Kriegsgerät in Kolumbien und bedrohe nicht nur
Venezuela, sondern alle Mittel- und Südamerikanischen Staaten. Es hat
den Anschein, dass in Amerika aktuell wieder alles beim Alten ist:
dieselben Kontrahenten, dieselben Argumentationsmuster.
Interessanterweise hatten schon Condoleezza Rice und Noam Chomsky – aus
zwei politisch total gegensätzlichen Positionen – das Gleiche
prophezeit: Obamas Außenpolitik werde sich kaum von der zweiten
Amtsperiode George Walker Bushs unterscheiden.
Das militärische Auftreten der USA nach dem Erdbeben in Haiti
untermauert die Richtigkeit dieser Einschätzung. Von vielen in
Lateinamerika wird die US-Militärpräsenz nach dem Beben bereits als
„kalte Intervention“ gesehen, die gegen eine stärkere Rolle Kubas in
der Karibik und gegen Brasilien – als Führungsmacht der
UN-Friedensmission auf der Insel – gerichtet sei.
Ausgabe: Nummer 428 - Februar 2010