Wie gerade die jüngere Geschichte der Moderne zeigt, können zwei
Gangarten gesellschaftlicher Entwicklung unterschieden werden: Sozialer
Wandel innerhalb eines sozioökonomischen, soziokulturellen
Entwicklungsmodells und Übergangs- beziehungsweise Umbruchphasen, in
denen sich Wirtschafts- und Lebensweisen grundlegend ändern. Soziologen
sprechen deshalb von „Gesellschaft im Wandel" als dem Normalfall
sozialen Wandels und von „Gesellschaft im Umbruch" als einer Ausnahme
sozialen Wandels.
Der gegenwärtige historische und gesellschaftliche Prozess ist nun eher
als „Übergang" und „Umbruch" zu verstehen und zu deuten. Form, Struktur
und Gestalt dieses gesellschaftlichen Übergangs und Umbruchs heißen für
mich heute „Transformation". Transformation als spezifischer Typ
intendierter und eigendynamischer, langfristiger und offener
Wandlungsprozesse.
Lange wurde „historischer Prozess als Übergang", „Gesellschaft im
Umbruch" und damit „Transformation" allein mit den Umbrüchen in den
ehemals staatssozialistischen Ländern identifiziert. Im Mainstream
wurden diese als „nachholende Modernisierung und Modellübernahme" (W.
Zapf), als „Ende der großen Gesellschaftsalternativen" (D. Bell), ja als
„Ende der Geschichte" (F. Fukuyama) interpretiert.
Was 1989/90 nur wenige vermuteten und aussprachen („doppelte Transformation"), beginnt seit einiger Zeit deutlicher zu werden. Zum einen:
Die postsozialistische Transformation ist nicht das Ende der
grundlegenden Wandlungsprozesse in Europa und der Welt, sondern nur
deren markanter Auftakt. Zum anderen: Die eigentliche Zäsur
dieses Übergangs und Umbruchs beginnt früher und ihre Ursachen liegen
tiefer. Genau genommen beginnt diese historische Zäsur schon
Anfang/Mitte der 70er Jahre mit der „einsetzenden systemübergreifenden
Krise europäischer Industriegesellschaften" (A. Steiner) und der damit
verbundenen Bewältigung eines „fundamentalen gesellschaftlichen
Strukturwandels" und einer „strukturellen Transformation" (K. Jarausch)
in Ost und West. Notwendig wurde ein neuer Typ wirtschaftlicher
Entwicklung, sozialer Teilhabe und demokratischer Bürgerbeteiligung.
Die staatssozialistischen Länder fanden darauf keine überzeugende
Antwort. Die Erosion und letztlich Implosion ihres Wirtschafts- und
Gesellschaftsmodells waren die Folge.
Im Westen setzte sich in einem längeren Prozess gesellschaftlicher
Auseinandersetzung schließlich die „Neoliberale Antwort" durch. Der
Traum, erweiterte Kapitalverwertung könne auf Kosten von Lohnarbeit,
Natur, Sozialstaat und gegen Gemeinwohl und Öffentlichkeit auf Dauer
gewährleistet werden, zerplatzte jedoch - spätestens mit der 2007/2008
einsetzenden tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise. Der seit den
siebziger Jahren notwendige Umbau des Produktions-, Sozial- und
Kulturmodells wurde nun noch drängender. Der „Westen" taugt also nicht
mehr -wie 1989/90 gedeutet - als die Bezugsfolie und das Vorbild von
Gesellschafts-Transformation, sondern ist nun selbst deren Objekt und
Subjekt.
Auf die historische Agenda rückt nach der ersten, rund 300 Jahre
währenden Großen Transformation (Herausbildung, Entwicklung und
„Entbettung" kapitalistischer Marktwirtschaften), die Karl Polanyi in
seinem Werk „The Great Transformation" (1944) grundlegend analysierte,
die „Zweite Große Transformation" (R. Reißig). Das westliche
Modernisierungsmodell, das einst beachtlichen wirtschaftlichen,
gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt bewirkte, wird mit seinen
weltweiten Folgen zu einem „Weltuntergangsmodell" (U. Beck) - vom
ungebremsten Ressourcenverbrauch über den fortschreitenden Klimawandel
bis zur weltweiten Verschärfung der sozialen Ungleichheit und sozialen
Spaltung. Notwendig ist daher der Übergang zu einem sozialökologischen
(energie- und ressourceneffizienten sowie umweltkonsistenten) und
solidarischen Entwicklungspfad. Dies sind die beiden Säulen dieser
Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert. Für diese Große
Transformation gibt es keine geltenden Gewissheiten, keinen fertigen
Masterplan. Es handelt sich vielmehr um einen Such- und Lernprozess
unterschiedlicher Akteure. Einige Eckpunkte dieser notwendigen
Gesellschafts-Transformation können dennoch benannt werden:
- nachhaltiges, statt, destruktives und regressives Wachstum;
- gleichberechtigter Zugang und gleiche Teilhabe aller an
Arbeit, Bildung, Gesundheit, Daseinsvorsorge, Kultur und öffentlichem
Leben statt zunehmender sozialer Exklusion und Ausschluss großer
sozialer Gruppen und Regionen;
- friedliches und kooperatives Zusammenwirken und -leben der
Menschheit statt Konfrontation, marktradikaler Konkurrenz und globaler
Ausbeutung.
Moderne Gestalten, die eine solche sozialökologische und solidarische
Entwicklung ermöglichen können, sind: Demokratische politische
Verhältnisse, Regulation der Märkte und ihre Einbindung in die
gesellschaftlichen und natürlichen Kreisläufe, Soziale Demokratie,
entwickelte Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung.
Alles hängt letztlich davon ab, ob eine demokratische Gesellschaft
wieder den Primat erlangt und die allgemeine wirtschaftliche und soziale
Entwicklungsrichtung bestimmt. Gesellschafts-Transformation ist in
diesem Sinne also weder Abschaffung der Basisinstitutionen moderner
Gesellschaften durch einfachen Systembruch und Revolution noch Anpassung
und Fortschreibung der fordistischen oder gar marktradikalen
Entwicklungsmuster.
Die „Solidarische Teilhabegesellschaft" ist mithin weder eine Neuauflage
der historisch gescheiterten (realsozialistischen)
„Einheitsgesellschaft" noch eine Wiederauflebung des (fordistischen)
„Teilhabekapitalismus", aber auch kein neuer „Dritter Weg". Sie ist eine
plurale, sozialökologisch und solidarisch geprägte Gesellschaftsform
modernen Typs, die nur auf demokratische Art und Weise und im Konsens
breiter gesellschaftlicher und politischer Akteurskoalitionen entstehen
und sich entwickeln kann.
Ob sich ein solches Entwicklungs- und Gesellschaftsmodell im
Transformationsprozess des 21. Jahrhunderts durchsetzen wird, ist heute
keineswegs sicher. Hat sich doch selbst in der gegenwärtigen
einschneidenden Finanz- und Wirtschaftskrise die Wandlungsresistenz
moderner bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften gezeigt. Zudem ist
der Widerstand konservativ-restaurativer Kräfte gegen progressive
Transformation enorm. Aber die Moderne enthält, wie Geschichte und
Gegenwart ebenfalls zeigen, durchaus gestaltbare und auch alternative
Entwicklungspfade (zum Beispiel New Deal, Deutsches Modell,
Skandinavisches Modell; gegenwärtige Entwicklungsmodelle in
Lateinamerika, China). Und eine aktuelle Studie von Richard Wilkinson
und Kate Pickett als Vergleich von 23 entwickelten Industrieländern und
den 50 amerikanischen Bundesstaaten zeigt, dass eher egalitär und
gerechter strukturierte Gesellschaften besser funktionieren und die
Menschen zufriedener machen als Gesellschaften mit immenser sozialer
Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung. Auch belegen die Forschungen zum
Wandel der Werte- und Milieustrukturen, dass es in der Tiefe der
Gesellschaft sehr wohl Potenziale und Präferenzen für einen neuen, einen
sozialökologischen und solidarischen Entwicklungspfad gibt. Es stellt
sich deshalb die Frage, ob und wie diese gesellschaftlich und politisch
mobilisiert und umgesetzt werden können und ob und wie ein neuer
gesellschaftlicher Diskurs als Voraussetzung für eine neue kulturelle
Hegemonie entsteht. Notwendig sind heute konkrete Alternativen,
Bausteine, Insellösungen von unten, die bei den Beteiligten die
Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen erlebbar machen. Weg und
Ziel fallen hier nicht länger auseinander, sondern bedingen sich
wechselseitig. Das Neue entsteht zunächst im oder neben dem Alten oder
gar nicht. Eine solche Transformation im 21. Jahrhundert ist also nicht
nur notwendig, sondern auch möglich.
Die Transformationsforschung ist deshalb mit dem postsozialistischen
Fall keineswegs abgeschlossen, sondern gerade erst eröffnet. Ein
modernes, zeitgemäßes Transformationskonzept bleibt unverzichtbar.
Anm. der Red.: Ausführlicher behandelt der Autor dieses Thema in seinem kürzlich veröffentlichten Buch - Rolf Reißig, Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert. Ein neues Konzept sozialen Wandels, VS-Verlag,Wiesbaden 2010, 220 S., 29,90 €.