Stalinismus - eine Jahrhundertfrage

Editorial

Stalinismus ist eine der wesentlichen Gesellschaftsprägungen des 20. Jahrhunderts.

In den Krisen, Bedrohungen und Richtungskonflikten der aus der Oktoberrevolution in Russland 1917 hervor gegangenen Sowjetmacht wurde er schließlich zur bestimmenden Form derjenigen Gesellschaftsordnung, die sich Sozialismus nannte, zutiefst verändernd in das Leben von Hunderten Millionen Menschen eingriff, Verlauf und Resultat des Zweiten Weltkrieges entscheidend beeinflusste, Ursache und Akteur des darauf folgenden weitere vier Jahrzehnte andauernden weltweiten Systemkonflikts wurde und in ihrer sowjetischen und – von dort ausgegangenen – osteuropäischen Gestalt 1989/90 unterging. Er ist keine ›Abweichung‹ von ›eigentlich gut Gemeintem‹, sondern dieser konkrete Staats-Sozialismus einer ganzen Epoche.

Dies freilich in vielen historisch, strukturell und national sehr stark voneinander unterschiedenen Erscheinungsweisen. Welch bedeutenden Bruch markierte in der Sowjetunion der 20. Parteitag der KPdSU 1956! Und um wie unvergleichlich besser, freier, offener, emanzipierter lebte es sich in der DDR der 1970er/1980er als in der Sowjetunion des »Großen Terrors« der 1930er Jahre. Man sollte, schlug Thomas Marxhausen vor, »statt von einem ›Stalinismus‹ von Stalinismen« sprechen, vielleicht auch von Stalinismus »in den Farben« der einzelnen Länder (2009, 14), und er hatte dabei nicht nur die unterschiedlichen Entwicklungsetappen des Gesellschaftssystems in der Sowjetunion und später auch in den osteuropäischen Ländern im Auge, sondern zugleich die erhebliche politische Wirkung der Verbreitung der Idee über die Grenzen des Systems hinaus: »die Durchsetzung stalinistischer Grundsätze, Dogmen und Richtlinien« in den Komintern-Parteien in den 1920er und 1930er Jahren wie auch »die politisch-ideologischen Orientierungen und innerparteilichadministrativen Praktiken der kommunistischen Parteien des Westens nach 1945« (14f).1 Und noch einen Grund machte er für die Mehrzahlbildung geltend: Würden der »reale Sozialismus« oder die kommunistische Bewegung »pauschal mit dem Etikett ›Stalinismus‹« versehen, werde »der Begriff dermaßen überdehnt, dass er der Beliebigkeit anheim fällt« (15).

Den Stalinismus in seiner Vielheit zu denken und ausdrücklich nicht der Beliebigkeit anheim fallen zu lassen ist Anliegen des vorliegenden Bandes. Zu seinem Entstehen gibt es äußeren Anstoß – den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs – und ›inneren‹: die mit dem zeitlichen Abstand nicht abnehmende, sondern deutlich zunehmende Forschung zum Thema.

Der 100. Jahrestag: Es ist der Jahrestag des Krieges, mit dem alles begann.

Ohne ihn keine Oktoberrevolution, kein Sowjetrussland, keine Sowjetunion; kein ›Außer-Kraft-Setzen‹ der Überzeugung von Marx und Engels, wonach die neue Gesellschaftsordnung dort siegen werde, wo die Produktivkraftentwicklung den Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise sprengt; durch ihn die Revolution »Fortsetzung des Krieges mit ähnlichen Mitteln, nur in veränderten Frontstellungen, ein Bürgerkrieg Klasse gegen Klasse statt ein Krieg von Nation zu Nation« und »weniger eine Arbeiterrevolution als eine Soldatenrevolution«: »Nicht Marx, sondern Mars war ihr Vater.« (Fleischer 1993, 18) Und ohne ihn auch: kein Faschismus und Nazismus. Ist letzterer die Antwort auf die Oktoberrevolution? »souvarines niederdrückendes buch über stalin gelesen«, notierte Bertolt Brecht 1943. »die umwandlung des berufsrevolutionärs in den bürokraten, einer ganzen revolutionären partei in einen beamtenkörper gewinnt durch das auftreten des faschismus tatsächlich eine neue beleuchtung. Das deutsche kleinbürgertum borgt sich für seinen versuch, einen staatskapitalismus zu schaffen, gewisse institutionen (samt ideologischem material) vom russischen proletariat, das versucht, einen staatssozialismus zu schaffen. Im faschismus erblickt der sozialismus sein verzerrtes spiegelbild. Mit keiner seiner tugenden, aber allen seinen lastern.« (Arbeitsjournal, 19.7.43)

Der ›innere‹ Anstoß: die »Archivrevolution« in Russland seit den 1990er Jahren (siehe Samuelson). Endlich ist wirklich Einblick möglich; endlich liegen nicht nur die Entscheidungswege Stalins offen und die Beschlussstrukturen der Führung um ihn herum, sondern es kann auch der Alltag genauer betrachtet werden, die verstörende Gleichzeitigkeit von »Terror und Traum« (Schlögel 2008). Die Ergebnisse sind vielfältig: Deutlich wird die bizarre Gründlichkeit, mit der Stalin persönlich den Terror plante und kontrollierte, ihn ›bei Bedarf‹ – im Verteidigungskrieg gegen das faschistische Deutschland 1941-45, den er, um die eben noch Bekämpften unter einem gemeinsamen Ziel zu vereinigen, in kalkulierter Beschwörung des Sieges über Napoleon zum Großen Vaterländischen Krieg erhob – weit ›zurück fuhr‹, aber kurz nach dem Krieg wieder fortsetzte. Und möglich wird eine Entdämonisierung.

Das Bild wird präziser, lässt sich aus penibel geführten und gesammelten Dokumenten rekonstruieren. An die Stelle von Schätzungen der Zahl der Terroropfer treten die unbegreiflichen, aber von Kalte-Kriegs-Instrumentalisierung freien Daten. Und es entsteht Einsicht in die Lebensfähigkeit des Systems, in Strukturen und Entscheidungsverläufe, ins Spannungsverhältnis von Zentrale und Regionen (siehe Kangaspuro) – und vor allem: in die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Menschen.

Stalinismus in seiner Vielheit denken heißt im vorliegenden Band auch: den unterschiedlichen Bewertungen Raum zu geben; nicht Ultimatives herbeiführen zu wollen, wo es nicht herbei zu führen ist. Für Jörg Baberowski bleibt der Stalinismus begrenzt auf die in der Herrschaftszeit Stalins bestimmende Form von Machtausübung, Terror und Gewalt. Dass nach Stalins Tod 1953 die gleiche kommunistische Partei, die gerade noch die von Stalin geführte war, den Terror zu beenden vermochte, gilt ihm als Beweis dafür, dass von dessen Systemimmanenz nicht die Rede sein kann. In anderen Beiträgen ist ein Gestus vorherrschend, wonach Stalinismus nicht nur als »historische Erscheinung« begriffen wird, sondern auch als eine »spezifische Art des politischen Denkens und Handelns«, das sich »von der Person Stalins und vom sowjetrussischen Beispiel vollkommen ablösen kann« (Jünke 2008, 993). Es ist die Literatur, und es sind die Debatten von Intellektuellen, in denen dies früh erkannt und auf schmerzhafte Weise thematisiert worden ist (siehe Oittinen, Frigga Haug, Pistiak, Apitzsch/Kammerer).

Von größter Bedeutung bleibt für die Linke, zu verstehen, wie Stalin sich zur ideologischen Befestigung seiner anti-marxistischen und anti-humanistischen Politik der Popularität und Autorität von Marx, Engels und Lenin bediente – und wie lange dies im »Realsozialismus«, aber auch in wichtigen Strömungen der kommunistischen Bewegung im Westen als positive »Weiterentwicklung des Marxismus« galt. Viele Fragen bleiben. So wirkungsvoll der Bruch des 20. Parteitages mit Stalins Terror für das Leben in der Sowjetunion und in den osteuropäischen Ländern war und so energisch der Name Stalin aus der Ahnengalerie der Arbeiterbewegung entfernt wurde: Der Marxismus-Leninismus, von Stalin geschöpft und kanonisiert, blieb von diesem Bruch weitgehend unbehelligt. Dabei stand auch an seiner Wiege ein Terrorakt: die Zerschlagung des Marx-Engels-Instituts (siehe Röhr). Es war ein Vernichtungsakt in doppelter Gestalt: gerichtet gegen die führenden und viele weitere Köpfe der sowjetischen und internationalen Marx- und Engelsforschung und zugleich gegen die marxsche Methode überhaupt. Es bleibt ein nur schwer zu begreifender Zusammenhang: Mit dem scheinbar ganz Anderes verheißenden Marxismus-Leninismus und seinem Dialektischen Materialismus mit dem Status einer der materialistischen Geschichtsauffassung vorgesetzten Ersten Philosophie wurde die Dialektik als Methode der Selbst-Infragestellung und Selbst-Erneuerung außer Kraft gesetzt. Es blieb bis zum Ende des »Realsozialismus« unmöglich, die »Aufgabe der Emanzipation«, wie sie gegenüber der zuvor herrschenden Klasse gelöst worden war, nun auch »innerhalb der Emanzipationsbewegung selbst« zu lösen (Fleischer 1973, 83).

War das so? Immer? In allen Entwicklungsphasen? Oder gab es – und wenn ja: welche? – Unterschiede? Detlef Kannapin diskutiert dies mit Blick auf den »sozialistischen Realismus« als »gesellschaftspolitischem Organisationsprogramm«, zeigt zunächst die zeitgenössisch von vielen als zukunftsträchtig begriffenen Entwicklungen in der Sowjetunion der 1930er Jahre und dann das Scheitern der Restitution dieser Ansätze nach dem Zweiten Weltkrieg, das seinen Grund hatte in eben dieser Unfähigkeit zu »sinnvoller Modernisierung«, sprich: den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung tragender Erneuerung. Zugleich geht er der immer wieder aktuellen Frage nach, warum Ansatz und Wirkungsweise sozialistischer Gesellschaftskonzepte sich dem Begreifen durch bürgerliches Bewusstsein fortdauernd entziehen.

Stalinismus als verspielte Zukunft. Die scharfen gesellschaftlichen Konflikte am Beginn des 21. Jahrhunderts; die realen, von ›sicherem‹ Ort aus fern und ›klein‹ erscheinenden Kriege wie auch die ›plötzlich‹ wieder möglich werdenden großen: Sie haben auch mit dieser verspielten Zukunft zu tun. Die wachsende zeitliche Distanz zum Untergang des »Realsozialismus« schärft den Blick dafür. Die Herausforderung für die Linke ist eine doppelte. Sie muss mit Marx gegen den Stalinismus antreten, und sie muss mit der stalinistischen Erfahrung Marx auf den Prüfstand stellen. Mit dem vorliegenden Band werden Debatten fortgesetzt, die im ARGUMENT-Zusammenhang schon mehrfach geführt worden sind. Wolfgang Fritz Haug griff 1990 (212) und 1993 (136ff) den im Projekt »Moderner Sozialismus« in den letzten Jahren der DDR von Michael Brie, Rainer Land, Rosie Will u.a. diskutierten Begriff »Unmittelbarkeitskommunismus« auf, um einen »Schwachpunkt« im Denken von Marx deutlich zu machen, der »im Lichte der historischen Erfahrung unübersehbar« geworden sei: Marx habe seine Forderung nach »Unterordnung des ökonomischen Prozesses unter allgemein menschliche Zwecke« nicht mit einer ausreichenden Erklärung dessen verbunden, wie diese Unterordnung zu erreichen sei; habe »das Ensemble der Institutionen zur Konfliktbearbeitung und Entscheidungsfindung wenn nicht negiert, so doch systematisch unterbelichtet« (Haug 2005, 149). In welchem Maße wurde damit die Zerstörung eben dieser Vermittlungsinstitutionen legitimiert? Und dann, wie daraus Terror und direkte Herrschaft erwuchsen? Markku Kangaspuro zeigt am Fallbeispiel Karelien den Ablauf solcher Vorgänge – und öffnet ein Fenster zu künftiger Debatte jener spezifischen Dialektik des Stalinismus, die darin besteht, dass der unmittelbare Griff nach Kommunismus statt zur Ermächtigung der Gesellschaft zu führen in deren absolute Staatsunterwerfung umschlug.

Künftige Debatte braucht aber auch den wiederholten – und durch die aktuellen Erfahrungen mit dem geopolitisch motivierten Bestreben des Westens nach Isolierung Russlands bereicherten – Blick auf die internationalen, die globalen Verhältnisse, unter denen der Stalinismus zu gedeihen vermochte. Über den Stalinismus reden heißt daher immer auch über das ganze 20. Jahrhundert reden.

 

Literatur

Brecht, Bertolt, Arbeitsjournal, Bd. 2, Frankfurt/M 1973
Fleischer, Helmut, Sozialphilosophische Studien. Kritik der marxistisch-leninistischen Schulphilosophie, Berlin/W 1973
ders., Epochenphänomen Marxismus, Frankfurt/M 1993
Haug, Wolfgang Fritz, Versuch beim Verlieren des Bodens unter den Füßen neuen Grund zu gewinnen. Das Perestrojka-Journal, Hamburg 1990
ders., »Muss man den Stalinismus von Marx her denken?«, in: ders., Determinanten der postkommunistischen Situation, Hamburg 1993, 119-40
ders., Dreizehn Versuche marxistisches Denken zu erneuern, gefolgt von Sondierungen zu Marx, Lenin, Luxemburg, Hamburg 2005
Jünke, Christoph, »Sechs Thesen zum langen Schatten des Stalinismus«, in: UTOPIE kreativ, H. 217, Nov. 2008, 989-96
Marxhausen, Thomas, Stalin, Stalinismus, Stalinismen. Ein Beitrag zur Sozialismusdebatte, Philosophische Gespräche, H. 13, Helle Panke e.V., Berlin 2009

 

1 Vgl. Heinz Niemanns Artikel »epigonaler Stalinismus« in: HKWM 3, 1997, 620-4.

 

© DAS ARGUMENT 306/2014, S. 7-10