Graswurzelbewegung gegen die Klimakatastrophe

Millionen Menschen beteiligten sich weltweit an den gewaltfreien Protestaktionen der Klimagerechtigkeitsbewegung

Sydney, Hong Kong, Kabul, Mumbai, New York, Kassel,... überall auf der Welt haben am 20. September 2019 insgesamt mehr als vier Millionen Menschen an dem von der Schüler*innenstreikbewegung „Fridays for Future“ (FFF) ausgerufenen Global Climate Strike teilgenommen.

 

Ziel dieser generationenübergreifenden Graswurzelbewegung war und ist es, „für konsequente Klimapolitik und die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels zu demonstrieren“, so FFF. In mindestens 163 Ländern und 2.900 Städten beteiligten sich die Menschen unter dem Motto #AlleFürsKlima an den Protesten und direkten gewaltfreien Aktionen gegen die katastrophale Klimapolitik. In Deutschland demonstrierten laut tagesschau.de über 1,4 Millionen Menschen in über 600 Städten. In Berlin gingen Hunderttausende auf die Straße, in Köln über 70.000, in Hamburg über 100.000, in München über 40.000. Auch in kleineren Städten beteiligten sich viele Menschen von jung bis alt am globalen Klimastreik. In der 310.000 Einwohner*innen-Stadt Münster, dem Redaktionssitz der Graswurzelrevolution, gingen 25.000 Menschen auf die Straße, so viele wie noch nie und doppelt so viele wie zuletzt bei den großen lokalen Demos gegen Nazis und AfD.

In Freiburg beteiligten sich nach Angaben von GWR Abo & Vertrieb sogar 30.000 der 230.000 Freiburger*innen an der lokalen Demo. Auch in vielen anderen Städten fanden am 20. September die größten Demonstrationen seit Jahrzehnten statt. Großartig!

Umso grotesker wirken die „Antworten“, die die Bundesregierung noch am gleichen Tag der Öffentlichkeit in Form eines „Klimapaketes“ als angeblichen „Durchbruch“ präsentierte. Auf tagesschau.de kommentierte der Klimaforscher Mojib Latif das „Klimapaket“ treffend: „Mein Urteil fällt vernichtend aus. Also, das ist weit hinter dem zurückgeblieben, was ich mir vorgestellt habe. Man muss es so deutlich sagen: Das ist fast eine Nullnummer. (…) Mit solchen Mini-Schritten wird man die Klimaziele, die Deutschland angekündigt hat, niemals erreichen.“

Tatsächlich hat sicher kaum jemand damit gerechnet, dass die von Auto-, Kohle- und anderen kapitalistischen Lobbyist*innen dominierte Bundesregierung ein „Klimapaket“ schnürt, das zur Milderung der Klimakatastrophe beitragen kann. Deutschland ist der weltweit größte Braunkohleförderer, noch vor China. Sieben der zehn dreckigsten Kraftwerke Europas stehen in der Bundesrepublik. Allein das Kohlekraftwerk Neurath stößt im Jahr so viele Abgase aus wie der gesamte innerdeutsche Flugverkehr in zwölf Jahren. „Braunkohle ist nicht nur die ineffizienteste Form der fossilen Energiegewinnung, sondern auch die, die am stärksten zum Klimawandel beiträgt“, so heißt es in einer lesenswerten Sonderbeilage der Monatszeitung „analyse & Kritik“ (ak) vom Herbst 2019.

Die Bundesregierung fördert den Braunkohleabbau durch Steuererleichterungen und andere Vergünstigungen. Zwischen einer Milliarde Euro (Gutachten im Auftrag des Bundesumweltamtes von 2004) und 15 Milliarden Euro (Gutachten im Auftrag von Greenpeace) beträgt die verdeckte Subvention der Braunkohle jährlich. Deshalb kommt immer noch mehr als ein Drittel des Stroms in Deutschland aus Kohlekraftwerken, 60 Prozent davon aus Braunkohle.

„Mit der Braunkohleförderung belastet Deutschland auch die Nachbarländer. Wegen der enormen Stromüberschüsse exportiert die Bundesrepublik Strom billig oder sogar kostenlos. Das führt dazu, dass in anderen Ländern sauberere Gaskraftwerke abgeschaltet werden und Windräder nicht ans Netz gehen“, so die Kolleg*innen von ak.

Die Kohleförderung befeuert die Klimakatastrophe. Trotzdem hat die Bundesregierung im „Kohlekompromiss“ festgelegt, erst 2038 aus der Kohleförderung auszusteigen. Das ist Klimakillerpolitik! Was ist von dem „Klimapaket“ einer Regierung zu erwarten, die den Kohleabbau weiter fördert?

„Was die Regierung da jetzt vorgelegt hat, kann angesichts der Dramatik der Klimakatastrophe und angesichts der Forderungen aus der Gesellschaft nur blankes Entsetzen hervorrufen“, so Dr. Rüdiger Haude, der sich unter anderem bei den Scientists for Future engagiert.

Der Aachener Wissenschaftler und Aktivist erwähnt im Gespräch mit der Graswurzelrevolution-Redaktion drei Maßnahmen, die das Kabinett „allen Ernstes als Klimaschutzmaßnahmen“ anbiete: Erhöhung der Pendlerpauschale, Senkung des Strompreises und verschärfte Abstandsregelungen für Windkraftanlagen. „Die beiden ersten Maßnahmen haben die Wirkung, den Energieverbrauch zu erhöhen, der doch drastisch gesenkt werden müsste. Die dritte Maßnahme verhindert, dass die Stromerzeugung erneuerbar werden kann, denn mit der neuen Regelung werden sich kaum noch Flächen finden lassen, auf denen neue Anlagen errichtet werden können – außer im Wald, wo die Akzeptanzproblematik ja eher größer als anderswo ist. Der ganze Rest ist – um das Wort der Kanzlerin zu bemühen – Pillepalle“, so Haude. Das Versagen der Bundesregierung zeige sich bereits darin, dass sie ständig „die Klimaziele“ beschwöre, als handele es sich um eine naturgegebene Größe: „Gemeint sind die völlig veralteten Pläne der Bundesregierung und der EU, wonach selbst 2050 immer noch große Mengen CO2 emittiert werden sollen. Die aus dem Pariser Klimaübereinkommen resultierenden Notwendigkeiten werden ignoriert.“ Selbst diese äußerst mutlosen Ziele müssten mit dem Armutszeugnis des „Klimakabinetts“ notwendig verfehlt werden.

Wie viele andere Menschen auch, fragt sich Haude, ob die Bundesregierung am 20. September den Protestierenden auf den Straßen in Deutschland einfach den Stinkefinger zeigen wollte oder zu politischem Handeln inzwischen völlig unfähig sei.

Ähnlich perplex reagierten die jungen Aktivist*innen von Fridays for Future auf das „Klimapaket“. In ihrer Presseerklärung vom 21. September heißt es: „Auch 24 Stunden später scheint das, was wir gestern erleben durften, immer noch surreal. Es ist ein klares Signal nach Berlin, ein klares Signal an die Politik: Ihr werdet eurer Verantwortung den zukünftigen Generationen gegenüber nicht gerecht! Doch in der Politik ist das wohl nicht angekommen. Zumindest erhält man diesen Eindruck, wenn man einen Blick auf die Maßnahmen wirft, die man dort als ‚Durchbruch‘ zu deklarieren versucht.“ Das 1,5-Grad-Ziel werde Deutschland mit diesen Maßnahmen verfehlen. Für die heutigen sowie die nachfolgenden Generationen bedeute das eine instabile Zukunft, sogar eine existentielle Bedrohung.

„Wir werden nicht länger dabei zusehen, wie die Menschheit weiterhin an dem Ast sägt, auf dem sie sitzt. Das hier ist noch lange nicht das Ende. Wenn überhaupt, ist es erst der Anfang. Wir lassen uns mit Pseudo-Klimaschutzmaßnahmen wie diesen nicht abspeisen! We are unstoppable!“, so die klare Ansage von FFF.

Passend dazu warnt der Weltklimarat IPCC in einem neuen Bericht am 24. September 2019 vor einem weiteren Anstieg des Meeresspiegels (siehe tagesschau.de). Wenn der Ausstoß von Treibhausgasen nicht drastisch reduziert werde, drohten Küsten und Inseln unterzugehen. Fakten!

Wie viele Warnungen und Forschungsergebnisse muss es noch geben, damit sich endlich etwas ändert?!

 

„System Change not Climate Change“

 

„Die Demos der Klima-Gerechtigkeits-Bewegung, die sozialen Kämpfe für Seenotrettung und gegen höhere Mieten, die Hausbesetzungen und Aktionen gegen die AfD, das muss alles zusammen gesehen werden. Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktion sind jetzt wichtig, um mehr Druck zu machen. Dafür wäre es gut, wenn die Bewegung tiefer inhaltlich reflektiert, wie es teilweise beim FFF-Kongress in Dortmund auch schon lief. Ich finde es toll, wie breit die Bewegung schon ist: Es gab in diesem Jahr schon so viele Aktionen und Camps zum Klimathema überall auf der Welt, dass selbst ich langsam den Überblick verliere. Jetzt gerade wird das Kunstdünger-Werk von Yara bei Brunsbüttel blockiert (1)“, so der Umweltaktivist und Graswurzelrevolutionär Heinz Wittmer im Gespräch mit der GWR.

 

Toxische Männlichkeit

 

Anders als die vielen begeisterten Menschen aus den neuen sozialen Bewegungen, ereiferten sich nach den phänomenalen Demos und der bewegenden Wutrede der 16jährigen Klimaaktivistin Greta Thunberg am 22. September vor der UNO (siehe Seite 2) die Vertreter der Misogynie. Dieter Bohlen, Friedrich Merz und weniger prominente Vertreter der toxischen Männlichkeit schleuderten ihre Hassbotschaften in den „sozialen Medien“ gegen das „psychisch kranke Kind“ und die von ihr mitinspirierte FFF-Bewegung.

Auf was für einen rechten Dammbruch wir uns nach dem bevorstehenden Abgang von Angela Merkel einstellen können, deuten die Botschaften des Multimillionärs und Möchtegernkanzlerkandidaten Friedrich Merz hin. Der CDU-Rechtsaußen polterte am 22. September mit Bezug auf die FFF-Demos und Greta Thunbergs Rede im AfD-Stil auf Twitter: „Hinter den Forderungen nach radikalen Lösungen steckt nicht der Wunsch nach mehr #Klimaschutz. Der eine oder die andere spricht es ja auch ganz offen aus: Es geht gegen unsere freiheitliche Lebensweise, um die Zerstörung der marktwirtschaftlichen Ordnung.“

In gewisser Weise liegt Merz gar nicht so falsch. Wenn die Menschheit überleben und die Klimakatastrophe und das Artensterben eindämmen will, muss sie sich von der „freiheitlichen Lebensweise“ des Vielprivatjetfliegers Merz verabschieden. Es ist höchste Zeit Zucker in den Kerosintank zu kippen und Abscheid vom wachstumsorientierten Denken zu nehmen, das uns bisher alle mehr oder weniger geprägt hat. Ein Überleben der Menschheit und echte Klimagerechtigkeit ist letztlich nur durch eine Graswurzelrevolution und ein Überwinden des Kapitalismus möglich.

Ein System, das auf Ausbeutung der Natur und des Menschen durch den Menschen beruht, gehört auf den Misthaufen der Geschichte. Wir brauchen eine menschen- und klimagerechte, ökologisch verträgliche und solidarische Gesellschaft. Eine gerechtere Welt, gewaltfrei und herrschaftslos, in der die Bedürfnisse von allen Menschen zählen und nicht die Gier von wenigen, ist möglich. Wer, wenn nicht die neuen globalen, gewaltfreien Massenbewegungen sollte das durchsetzen können? Von unten.

 

Bernd Drücke

 

Anmerkung:

1) Siehe: https://freethesoil.org/  https://twitter.com/hashtag/FreeTheSoil?src=hashtag_click&f=live

 

Lesetipps:

„All Days for Future“, Klima-Aktionsblatt der Graswurzelrevolution. Supplement zur GWR 441, September 2019:  https://www.graswurzel.net/gwr/wp-content/uploads/2019/09/gwr441_2-1.pdf

Climate Resistance Handbook der Peace News, Londoner Schwesterzeitung der Graswurzelrevolution (beide Zeitungen sind assoziiert in der War Resisters' International): https://peacenews.info/node/9461/1-x-copy-climate-resistance-handbook-or-i-was-part-climate-action-now-what

 

Termine:

Aktionen in Berlin im Oktober 2019: https://extinctionrebellion.de/

Ende-Gelände im November 2019: https://www.ende-gelaende.org/press-release/pressemitteilung-vom-23-09-2019/

Freitag, 4.10.2019, 9:30 Uhr, Aktion des Zivilen Ungehorsams im Hamburger Hafen - S-Wilhelmsburg. Infos: https://decoalonize-europe.net/

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 442, Oktober 2019, www.graswurzel.net

 

 

 

BILDTEXT:

Demonstration als Teil des Global Climate Strike am 20. September 2019 in Sydney. Foto: Crisp Aerial Imagery CC BY 2.0 / Wikipedia