"Too much time to think, too little to do?"

Ein Gespräch mit Barbara Nohr über Hochschulreform, Bildung als Humankapital und die Studierendenproteste

in (05.11.2002)

Verschiedene Bundesländer sind bei der Festsetzung von Gebühren für Studierende aktiv geworden. In manchen geht es "nur" um Gebühren für ein Zweitstudium, in anderen mittlerweile auch ums Erststu

... In NRW protestierten im Juni mehr als 30000 Studierende dagegen. Der express fragte die "Zweit"-Studentin Barbara Nohr, Mitglied im Bundesvorstand des BdWi (Bund demokratischer WissenschaftlerInnen) und Redakteurin der Zeitschrift Forum Wissenschaft, nach den Hintergründen und der gewerkschaftlichen Bedeutung dieser Proteste.

Warum ist das Hochschulrahmengesetz ins Gerede gekommen?

Nur durch eine bundesgesetzliche Regelung im HRG können Studiengebühren verboten oder eingeschränkt werden; nur so kann die Kalkulierbarkeit von Bildungschancen und Studienbedingungen verbindlich garantiert werden. Dafür kämpft der studentische Dachverband freier zusammenschluss der studierendenschaften (fzs), aber auch der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi). Auf parlamentarischer Ebene hält derzeit leider allein die PDS-Fraktion die Forderung nach einem generellen Verbot von Studiengebühren hoch.

Welche Position haben die Regierungsparteien vor 1998 vertreten, und was hat sie veranlasst, von dieser Auffassung abzugehen?

Das Wahlkampfversprechen beider Parteien war das "Verbot von Studiengebühren" ohne Wenn und Aber. Damit wollten sie zweifellos die Dynamik der 1997er-Streikbewegung an den Hochschulen wahlpolitisch abschöpfen. Seit dem Regierungsantritt wurde dann ständig zurückgerudert. Auf einmal hieß es nur noch "Studiengebührenfreiheit für das Erststudium", als sei nie von etwas anderem die Rede gewesen. Last not least wurde "Erststudium" dann als eine begrenzte Semesterzahl definiert, um so genannte Langzeitgebühren zu legitimieren. Die Ursachen? Vermutlich eine Mischung aus Konfliktscheu hinsichtlich der CDU-regierten Bundesländer, aus Einknicken gegenüber dem neoliberalen Meinungsdruck und - nicht zu unterschätzen - einer schleichenden "Modernisierung" der SPD nach britischem Vorbild.

Die SPD ist da gegenwärtig noch nicht einheitlich. Deren Jugendorganisation, die Jusos, fordern immer wieder ein generelles Studiengebührenverbot, die Partei wackelt, und unter den FunktionsträgerInnen gibt es massive Befürworter von Studiengebühren. So z.B. der niedersächsische Wissenschaftsminister Thomas Opperman, der bereits vor einem Jahr Studiengebühren für so genannte Langzeitstudierende und für das Zweitstudium durchgedrückt hat.

Warum sind Studiengebühren Deines Erachtens grundsätzlich abzulehnen?

Dafür gibt es zahlreiche Gründe! Zum einen natürlich soziale Gründe, d.h. die berechtigte Befürchtung, dass ein Hochschulstudium noch mehr zum Privileg von Menschen aus finanziell gutem Hause wird. Zum anderen symbolisiert die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Studiengebühren jedoch auch eine Richtungsentscheidung hinsichtlich des Stellenwertes von Bildung generell. Studiengebühren bilden ein zentrales Kettenglied auf dem Weg, den Bildungsbereich als einen der größten staatlich-gesellschaftlich verfassten Sektoren Marktprinzipien zu unterwerfen. Sie sind quasi der Einstieg in die (Teil-)Privatisierung aller weiterführenden Bildungswege und würden einen entsprechenden Schneeballeffekt auslösen. Das haben leider viele Gewerkschaften noch nicht verstanden, die meinen, Studiengebühren seien für ihre Klientel kein zentrales Thema.

Das entscheidende Motiv bei der Privatisierung ist es, ein Herrschaftsregime des Marktes und des Wettbewerbs und der Verinnerlichung ökonomischer Zwänge durchzusetzen. Es geht, alles in allem, um eine Verkoppelung von individuellem Bildungsverhalten und Arbeitsmarkt, und zwar - das ist das Entscheidende! - als individuelles Risiko. Der "return of investment" von Studiengebühren ist schließlich die Verwertbarkeit des eigenen Arbeitsvermögens.

Weshalb wenden sich die Studentenproteste gegen solche Gebühren für "Langzeitstudenten" oder Zweitstudierende?

Bereits im Begriff "Langzeitstudent" schwingt eine moralische Wertung mit, die irreführend ist. Bei der jetzt in NRW beschlossenen Regelung werden etwa Gebühren schon zu einem Zeitpunkt fällig, der in zahlreichen Fächern der Durchschnittsstudienzeit entspricht. Man hat also kaum eine Chance, kein "Langzeitstudent" zu werden. Betroffen von der Regelung sind fast ein Drittel aller NRW-StudentInnen, von denen, so ist zu befürchten, sehr viele ihr Studium abbrechen müssen.

Mithilfe dieser permanenten Kampagnen gegen so genannte Langzeitstudierende soll schließlich in der Öffentlichkeit das Bewusstsein verankert werden, Bildung sei ein knappes Gut, das nicht uneingeschränkt zur Verfügung gestellt werden könne. Selbst wenn jetzt - wie in NRW geschehen - "nur" Gebühren für so genannte Langzeitstudierende und Zweitstudierende eingeführt werden, wird das einen Gewöhnungseffekt mit sich bringen und langfristig die Vorstellung unterstützen, dass Bildung eine Dienstleistung ist, die bezahlt werden müsse.

Zum zweiten ist diese ganze Debatte um die "faulen" und "teuren" "Bummelstudierenden" komplett an den Haaren herbeigezogen. Die Verweildauer an einer Hochschule sagt ja überhaupt nichts über den Verbrauch von Ressourcen aus. Diejenigen, die ihren Abschluss nicht in der Regelstudienzeit absolvieren, besuchen ja nicht mehr Veranstaltungen als diejenigen, die in acht Semestern fertig sind. Sie besuchen die Veranstaltungen nur innerhalb eines längeren Zeitraumes. In der Regel finanzieren sich die "Langzeitstudierenden" durch Berufstätigkeit selbst. Indem sie immatrikuliert sind, ist ihnen der Weg zum Sozial- bzw. Arbeitsamt verwehrt, so dass man auch sagen könnte, dass ein Verweilen an der Hochschule derzeit sogar eine für den Staat recht kostengünstige Variante darstellt.

Und schließlich ist diese Diffamierungskampagne gegen alle, die "länger" studieren, schlichtweg unverschämt und ungerecht. Zahlreiche Umfragen und Erhebungen haben gezeigt, dass die Ursachen für ein längeres Studium meist außerhalb des Einflusses der Studierenden liegen. Meist liegen die Gründe in der Notwendigkeit zu Erwerbsarbeit, in schlechter Betreuung durch Lehrende, Wartezeiten auf Praktika u.ä. Nach einer Erhebung des Deutschen Studentenwerkes waren im Sommersemester 2000 67 Prozent aller deutschen Studierenden erwerbstätig. Und davon arbeiten wohl die wenigsten deswegen, weil sie nach New York zum Shopping möchten oder ihre Penthouse-Wohnung nicht anders finanzieren können. Solange die finanzielle Ausstattung der Studierenden dermaßen schlecht ist, ist es schlichtweg zynisch, diejenigen, die zur Erwerbsarbeit gezwungen sind, auch noch mit Studiengebühren zu "bestrafen" bzw. deren Studienabbruch zu erzwingen. Denn das wird bei den finanzschwachen Studierenden die Konsequenz sein. Eigentlich sollte man andersherum argumentieren: Diejenigen, die im 14. Semester sind, sollten eine Gebühr erhalten, damit sie - vom Zwang zur Erwerbsarbeit befreit - ihr Studium abschließen können.

Und wie sieht es bei denjenigen aus, die ein Zweitstudium absolvieren?

Die sind zunächst einmal auch Opfer der Gebühren, das ist klar. In der öffentlichen Debatte wird allerdings weniger auf ihnen herum gehackt - Vorwürfe wie "faul" und "bummeln" gingen ja auch ins Leere. Nichtsdestotrotz ist die Gebührenpflicht beim Zweitstudium bildungsökonomisch konsequent: Nach dem Kostenmodell ist Bildung nun einmal ein Kostenfaktor und der Staat ist (noch) so großzügig, studierwilligen und -fähigen Menschen eine Chance zu finanzieren. Das soll dann aber auch reichen - wer mehr will (Zweitstudium), muss eben zahlen, genauso wie diejenigen, die diese Chance vertändeln (Langzeitstudierende). Das ist im Übrigen auch die grundlegende Idee der Bildungsgutscheine, wo ja schon rein begrifflich suggeriert wird, hier ginge es um ein tolles Geschenk und nicht um die Wahrnehmung eines Rechtes.

Ist nach Deiner Meinung die Abwehr von Studiengebühren auch eine gewerkschaftliche Frage?

Ja, auf jeden Fall. Denn die Privatisierung von Bildung ist in höchstem Maße sozial ungerecht und wird die ohnehin schon bestehenden Ungleichheiten weiter verschärfen. Die Parole "Bildung für alle" bedeutet ja vor allem die Forderung nach Bildungschancen für diejenigen, deren Eltern nicht über hohes Geldkapital und/oder kulturelles Kapital verfügen.

Die Debatte um Studiengebühren darf auf keinen Fall daraufhin verkürzt werden, Klientelpolitik für Studierende machen zu wollen. Es geht vielmehr um den Stellenwert von Bildung insgesamt innerhalb einer demokratisch verfassten und auf Gleichheit abzielenden Gesellschaft. Solange soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und die gleichberechtigte Teilhabe aller hier lebenden Menschen gewerkschaftliche Forderungen sind, muss auch der Kampf gegen Studiengebühren ein Thema für die Gewerkschaften sein.

In welcher Richtung müssten Hochschulrahmengesetz und weitere Gesetze verändert werden, um eine gleiche Teilhabe an der studentischen Ausbildung zu sichern?

Tja, das ist eine gute Frage. Also zunächst einmal müssten Studiengebühren generell durch das Hochschulrahmengesetz ausgeschlossen werden. Daneben gibt es aber noch viele andere Faktoren, die eine Rolle spielen - es ist ja nicht so, dass das Problem der Ungleichheit an der Hochschule erst mit der Diskussion um Studiengebühren entstanden wäre. Auch ohne Studiengebühren ist der Anteil Studierender aus weniger komfortabel ausgestatteten Elternhäusern in den vergangenen Jahren weiter zurückgegangen. Vergleicht man die Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerkes von 1997 mit denen vom vergangenen Jahr, so zeigt sich, dass die statusabhängigen Unterschiede in der Bildungsbeteiligung größer geworden sind. So ist ein deutlicher Zuwachs bei Kindern von Beamten und Selbstständigen zu beobachten, während die Quote der Arbeiterkinder auf niedrigem Niveau stagniert. Fast drei Viertel der Kinder, deren Vater Beamter ist, beginnen ein Studium, Kinder von Selbstständigen oder FreiberuflerInnen studieren zu 60 Prozent. Die Bildungsbeteiligung des Nachwuchses aus Angestelltenhaushalten liegt mit 37 Prozent deutlich darunter, und nur eine Minderheit der Arbeiterkinder gelangt an eine Hochschule: 12 Prozent. Das ist kaum verwunderlich, wenn das Bafög immer mehr zusammengestrichen wird. In meinem Bekanntenkreis quälen sich einige immer noch mit den Rückzahlungen ab - es ist ja leider schon lange nicht mehr so, dass ein Hochschulabschluss die Garantie für einen gut bezahlten Job darstellt. Die Bafög-Schulden, die sich ganz fix schon mal auf mehr als 10000 Euro belaufen können, sind für Menschen, die von Haus aus ohnehin nicht über finanzielle Puffer verfügen, ziemlich abschreckend. Da können die Ministerin Bulmahn und ihr Bafög-Beauftragter Guildo Horn noch so keck an die Jugendlichen aus Arbeiterfamilien appellieren, ein Studium aufzunehmen, ohne eine grundlegende Reform der Studienfinanzierung wird sich da nichts ändern - im Gegenteil. Vorschläge dazu gibt es genügend, die sind allerdings nicht "kostenneutral" und damit auch für Rot-Grün trotz des Geschreis nach "Bildung als wichtigem Standortfaktor für Deutschland" nicht diskutabel.

Zur Sicherung, oder besser: Herstellung gleicher Teilhaberechte an der studentischen Ausbildung könnte oder muss man natürlich auch noch viel früher ansetzen. ich denke da an die durch die PISA-Studie losgetretene Kritik am dreigliedrigen Schulsystem. PISA hat gezeigt, dass die Schulsysteme im Vorteil sind, an denen integrierter Unterricht gegeben wird und wo die Förderung des persönlichen Lernverhaltens im Mittelpunkt steht - und nicht das Einstufen, Klassifizieren und Messen an äußerlichen, formalen Kriterien. Daher gaben die Konservativen sofort die Losung aus "Bloß keine Strukturdebatte!", weil die Ursprungsidee der Integrierten Gesamthochschule natürlich objektiv auf der Tagesordnung steht. Um so trauriger ist es, dass sich die SPD diesen Vorgaben anpasst und eben die notwendige "Strukturdebatte" ihrerseits ängstlich vermeidet - obwohl PISA eine Steilvorlage für eine Diskussionsoffensive in Richtung Zweite Bildungsreform hätte sein können, mittelbar natürlich auch für den Bundestagswahlkampf.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/02