Deutschland versucht die Opfer von NS-Kriegsverbrechen abzuspeisen

und hat dabei die Hilfe des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag.

(übersetzt von Marianne Wienemann)

Im Februar 2012 verkündete der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) sein Urteil im Verfahren Deutschland gegen Italien. Aus unserer Sicht ist es ein krasses Fehlurteil. Es ging in diesem Prozess um die Frage, was rechtlich schwerer wiegt: die Immunität von Staaten, deren Soldaten schwerste Kriegsverbrechen begangen haben oder das Recht der Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf Entschädigung. Die deutsche Regierung weigerte sich, die von italienischen Gerichten gegen die BRD verhängten Entschädigungen an Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zahlen und berief sich dabei auf die Staatenimmunität. Die Richter des IGH gaben der BRD Recht: das Recht der Mächtigen, die Demütigung der ohnmächtigen Opfer.

Nicht thematisiert wurden die konkreten Kriegsverbrechen: Allein in Italien wurden mehr als 10.000 Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder von Waffen-SS- und Wehrmachts-Einheiten willkürlich und oft auf grausame Weise ermordet, vergewaltigt und gefoltert. Ganze Dörfer wurden entsprechend der militärischen Strategie der verbrannten Erde zerstört und die überlebenden Menschen aller Lebensgrundlagen beraubt. Hunderttausende von Frauen und Männern wurden zur Zwangsarbeit mit oft tödlichen Folgen verschleppt.

Montevarchi (Italien) im Juli 1944: Beerdigung von zwei Partisanen, die durch sich zurückziehende Einheiten der Panzerdivision »Hermann Göring« getötet worden waren. Foto: Archivio Digitale Della MemoriaMontevarchi (Italien) im Juli 1944: Beerdigung von zwei Partisanen, die durch sich zurückziehende Einheiten der Panzerdivision »Hermann Göring« getötet worden waren. Foto: Archivio Digitale Della MemoriaIch lebe in der Gemeinde Fivizzano, in deren Weilern und Dörfern vom 17. bis zum 27. August 1944 etwa 400 Menschen massakriert wurden, vor allem Frauen und Kinder jeden Alters, vom (noch ungeborenen) Baby angefangen bis zur Greisin. Hunderte von Männern wurden zur Zwangsarbeit deportiert, 20 Dörfer, 32 Bauernhöfe und selbst eine Kirche in Schutt und Asche gelegt. Mein Vater war Wirt eines Gasthauses im Dorf San Terenzo. Er wurde am 19. August 1944 mit vorgehaltener Waffe gezwungen, ein Mittagessen für den Kommandanten der Waffen-SS, Sturmbannführer Walter Reder, und seine Offiziere zu servieren. Während dieser Zeit wurde das ganze Dorf von den Soldaten der Aufklärungsabteilung der 16. SS-Panzergrenadier-Division »Reichsführer SS« systematisch durchkämmt. Außerhalb des Dorfes im Bauernhof Valla stießen sie auf zahlreiche Frauen, Kinder und einige alte Männer, die hier Zuflucht gesucht hatten. In der Zwischenzeit planten Reder und seine Offiziere bei gebratenen Hähnchen, edlen Weinen und süßem Wermuth das Massaker an den Gefangenen. Am Ende der opulenten Mahlzeit wurde ein Bote mit dem Befehl der Ermordung aller Gefangenen nach Valla geschickt. An diesem Tag wurden in unserem Dorf 160 Menschen umgebracht, darunter meine fünf Geschwister – zwei Brüder und drei Schwestern, der Älteste 19, der Jüngste drei Jahre alt. Reders Soldaten raubten alles, was sie wegtragen konnten und zündeten dann das Gasthaus und alle anderen Häuser des Dorfes an.

Es kann sein, dass man sich in der deutschen Öffentlichkeit fragt, warum die Täter erst so spät zur Rechenschaft gezogen wurden, sie, die nebenbei bemerkt nie ein Wort des Bedauerns oder gar der Reue über die begangenen grausamen Taten zum Ausdruck gebracht haben. Vielleicht fragt man sich in Deutschland auch, welchen Sinn es hat, diese Prozesse nach so vielen Jahren gegen greise Männer zu führen. Aus dem einfachen Grund, weil Prozesse zu einem früheren Zeitpunkt verhindert wurden.

Die Aufarbeitung dieser Kriegsverbrechen wurde aus Gründen der internationalen Diplomatie in der Zeit des Kalten Krieges ausgebremst. Im Zusammenhang mit der von der Nato gewünschten deutschen Wiederbewaffnung war es nicht opportun, gegen deutsche Kriegsverbrecher des letzten Krieges zu prozessieren. Und so verschwanden die Ermittlungsakten für mehr als 50 Jahre in den Archiven der italienischen Militärstaatsanwaltschaft. Aus diesen Gründen hat es nie Gerechtigkeit für unsere Schwestern und Brüder, unsere Eltern und sonstigen Verwandten gegeben, die unschuldig und wehrlos von deutschen Militäreinheiten niedergemetzelt wurden. Niemand kümmerte sich darum, wie die Überlebenden und die Familien der Ermordeten die erlebte Katastrophe und die erlittenen Traumata würden bewältigen können. Sie wurden in absoluter Gleichgültigkeit allein gelassen, nur begleitet von ihrem Schmerz und einer Verzweiflung, die entsetzlicher nicht sein konnte, ohne Schuld an dem Verlust ihrer Familienangehörigen und all dessen, was sie besaßen. Die furchtbaren Erlebnisse der Überlebenden haben Spuren nicht nur im Leben der einzelnen Personen, sondern auch in den Familien und den gemeinschaftlichen Zusammenhängen hinterlassen: Narben, die ein Leben lang bleiben.

Die Täter indessen konnten in aller Ruhe nach Hause zurückkehren. Sie konnten sich ein gutbürgerliches, ruhiges Leben aufbauen und ohne schlechtes Gewissen Haus, Familie, Kinder und Enkel genießen. All das hatten sie hingegen ihren Opfern unmöglich gemacht.

Im vergangenen Jahrzehnt haben mutige Staatsanwälte die Spuren dieser Nazisoldaten erneut aufgenommen. Die Prozesse in Italien führten überwiegend zu Verurteilungen wegen Mordes und zu lebenslänglicher Haft. So auch in unserem Fall: Im Jahr 2009 wurden im Prozess vor dem Militärgericht in Rom neun ehemalige SS-Soldaten wegen der Teilnahme an den Massakern in unserem Dorf und dem Nachbarort Vinca u.a. zu lebenslanger Haft und die BRD zur Zahlung von Entschädigungen verurteilt. Für die Überlebenden und die Familienangehörigen der Opfer waren und sind diese Prozesse eine Gelegenheit, ihre Geschichte öffentlich zu machen und darzustellen, dass sie ohne Schuld Opfer von geplanten und systematisch durchgeführten Kriegsverbrechen geworden sind und nicht von zufälligen Kriegsereignissen. Wir wollen keine Rache, aber Gerechtigkeit. Wir wollen, dass sich die deutsche und italienische Gesellschaft mit diesen Verbrechen auseinandersetzt – mit ihren Ursachen und mit ihren Folgen. Wer dazu bereit ist, findet bei uns ein offenes Ohr.

Die Zeit heilt eben nicht automatisch alle Wunden, Traumata wie diese benötigen zur Heilung der Gerechtigkeit. Mit den Verurteilungen ist ein erster, wichtiger Schritt zur juristischen Gerechtigkeit getan, die nächsten Schritte bestünden in der Vollstreckung der Urteile, darin, dass die Verurteilten zur Rechenschaft gezogen würden und in der Zahlung von Entschädigungen. Stattdessen erleben wir, dass die Täter in Deutschland weiterhin als Biedermänner in Freiheit leben können, unbehelligt von der deutschen Justiz (mit Ausnahme von Josef Scheungraber). Die Täter sind nicht vor italienischen Gerichten erschienen, die deutschen Gesetze haben sie davor geschützt. Wir hätten uns dafür interessiert zu sehen, wie sie heute reagieren, wenn sie mit ihren schrecklichen Gewalttaten konfrontiert würden.

Der IGH hat Deutschland aufgefordert, mit Italien zu verhandeln, um sich über die Entschädigungsfrage zu einigen. Gleichzeitig hat er aber die Verhandlungsposition der Opfer geschwächt. So hat am 30. Mai 2012 der Cassazionsgerichtshof, das höchste italienische Gericht, die positiven Urteile der Vorinstanzen zu den Entschädigungen in unserem Falle infolge des Urteils des IGH aufgehoben. Es ist also sehr zweifelhaft, dass die BRD eine finanzielle Entschädigung an die Opfer zu zahlen bereit sein wird. Das aktuelle Angebot der BRD-Regierung geht in Richtung der Schaffung von Symbolen: Bauen eines Denkmals für die zivilen Opfer in Berlin, Straßen- und Platzbenennungen, eine Institution o.ä. gründen. Die Vertreter_innen der privaten Opfer haben diese Offerten abgelehnt. Mit Symbolik ist die deutsche Schuld nicht getilgt und den Opfern nicht geholfen, auch nicht mit schönen Worten und dem Vergießen von Krokodilstränen seitens deutscher Politiker_innen, die schon in der Vergangenheit folgenlos blieben.

Roberto Oligeris fünf Geschwister wurden von der Waffen-SS im August 1944 bei einem Massaker in der italienischen Gemeinde Fivizzano, Provinz Massa-Carrara, umgebracht.