Deutschland – fest auf der schiefen Ebene?

Mit der Staatsmacht lassen wir nicht spielen.

Egon Krenz,
bei der letztmaligen Ordensverleihung
an Offiziere der Volkspolizei anlässlich deren Ehrentages

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es unter Artikel 20, Absatz zwei: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Aber wo geht sie hin? Das fragte schon Tucholsky. Eine Antwort gibt das Grundgesetz selbst, in Absatz vier desselben Artikels: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Üblicherweise hat fast jeder moderne Staat dafür Schutz- und Sicherheitsorgane, die in der Regel als Verfassungsschutzorgane firmieren. Was aber, wenn die Obrigkeit dabei nicht nur die Grenze der Verhältnismäßigkeit beim Kampf gegen Verfassungsfeinde überschreitet, sondern auch in der veröffentlichten Meinung eine Stimmung schafft, die solchen, mitunter zweifelhaften Aktionen entlastende Billigung gewährt?

Aus der immer noch andauernden Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit ist Hitlers Rezept bekannt: Er habe nicht den Krieg als solchen gefordert, aber eine Atmosphäre geschaffen, in der Volkes Stimme ihn ersuchte, „wenn es keine anderen Lösungen gibt“, sich auf den Krieg vorzubereiten und ihn mit allen Weiterungen zu beginnen. Hitler mit der Absicht, bei dieser Gelegenheit seine Vorstellung vom „europäischen Haus“ zu realisieren: Großdeutschland in einem dafür organisierten, vornehmlich europäischen Verbund, geo-räumlich hauptsächlich zu Lasten slawischer Siedlungsgebiete und bisheriger Staaten im Osten Europas.

Solches war den Autoren und Stichwortgebern beim Verfassen des Grundgesetzes bewusst, und so trafen sie auch Festlegungen gegen staatliche Willkür und Allmacht.

Versuche, unmittelbar gegen das Grundgesetz zu verstoßen, oder für laxen Umgang mit demselben, gab es immer wieder: „Die Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“. So am 18. September 1963 Hermann Höcherl; das Pikante daran, er war Bundesinnenminister, dem wie allen seinen Vor- und Nachfolgern im Amt bekanntlich der Verfassungsschutz unterstellt war. Anlass für die damalige Affäre war, dass das „Bundesamt für Verfassungsschutz unter Verstoß gegen das Telefongeheimnis des Grundgesetzes Telefonabhörmaßnahmen durch alliierte Dienststellen hatte vornehmen lassen“. So die Vorgangsbeschreibung bei Wikipedia.

Als im Bundestag am 8. November 1962, also schon knapp ein Jahr zuvor, gefragt worden war, wer mit welcher Legitimation im Zuge der Spiegel-Affäre veranlasst hatte, dass die spanische Polizei den Spiegel-Redakteur Ahlers an seinem Urlaubsort hatte festnehmen lassen, umschrieb der Verfassungsminister den Vorgang so: „Das ist, ich möchte einmal sagen, etwas außerhalb der Legalität, aber wir alle sind der Meinung: Wenn nun die Polizei versucht haben sollte […], einen Landesverräter vielleicht auch auf diesem kurzgeschlossenen Wege zu bekommen, dann könnte man sagen: Es ist außerhalb der Bestimmungen, aber moralische Vorwürfe möchte ich deswegen niemanden machen.“ Man beachte bei dieser Antwort die gern genutzte Floskel zur Einvernahme: „wir alle“. Wer möchte davon schon gerne ausgeschlossen sein?

Die Rückblende erleichtert den Übergang auf die aktuelle Situation der bundesdeutschen Verfassungswirklichkeit im Allgemeinen sowie auf die Position und Rolle der amtierenden Innenministerin im Besonderen.

Am 13. Februar 2024 passierte bei einer offenbar zwecks – auch optischer – Demonstration der geballten Staatsmacht gemeinsamen Pressekonferenz von Nancy Faeser und ihren Sachwaltern, dem Präsidenten des BfV und dem BKA-Chef, folgendes. Eigentlich als Auftakt einer neuen, verbesserten Auflage des Kampfes gegen den Rechtsextremismus gedacht, enthüllte die Verfassungsschutz-Ministerin ein Konzept, das – mild bewertet – von Unkenntnis zeugte: „Diejenigen, die den Staat verhöhnen, müssen es mit einem starken Staat zu tun bekommen“.

Dieser Verkündung folgte in der FAZ – online, sinnigerweise am 1. April 2024 – ein Gastbeitrag von Thomas Haldenwang, des BfV-Präsidenten, mit dem Tenor, die Meinungsfreiheit sei kein Freibrief für Verfassungsfeinde. Zugleich beklagte der Präsident, dass seine Behörde „im öffentlichen Diskurs immer wieder […] infrage gestellt“ werde – als „Gesinnungspolizei“ oder „Regierungsschutz“.

Dies wiederum veranlasste den Vizepräsidenten des Bundestags und prominenten FDP-Politiker Wolfgang Kubicki zu dem Kommentar (FAZ, online, 04.04.2024), dass „die Einmischung in eine öffentliche Debatte durch den Chef eines Nachrichtendienstes ein merkwürdiger Schritt“ sei. Und zur Person Haldewang: „Wer allerdings erklärt, auch der Verfassungsschutz sei dafür zuständig, die Umfragewerte der AfD zu senken, der muss sich selbstverständlich Fragen nach seinem Amtsverständnis gefallen lassen.“ Eine deutliche Anspielung auf die rechtsstaatlich gebotene Neutralität von dessen Behörde.

An anderer Stelle wandte sich Kubicki der Verkündigung der Ministerin zu: „Ich halte Frau Faeser für eine größere Gefahr für die Demokratie als diejenigen, die sie damit meint“. Und dezidiert zum emotionalen Begriff „Verhöhnung“: „Es ist das Recht eines jeden Menschen, den Staat zu verhöhnen“.

Am 9. April kam – wiederum in der FAZ, online – der namhafte Journalist Peter Voß (2009 nach 35 Jahren Mitgliedschaft aus der CDU ausgetreten) zu Wort. „Der Präsident des Verfassungsschutzes macht sich anstellig, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Das müsste Journalisten auf den Plan rufen. Tut es aber kaum“. So wurde der Beitrag von der Redaktion zugeleitet; dann Voß: „Wo bleibt der Aufschrei unserer Mediengrößen, allen voran der Meinungsmacher im öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Als da sind: Moderatoren, Kommentatoren, Magazinmacher, Chefredakteure und einige mehr. Was muss Journalisten alarmieren, wenn nicht das Gebaren eines wahrscheinlich rechtlich, gewiss aber ordnungspolitisch und moralisch seine Zuständigkeit überdehnenden Geheimdienstchefs, der offenbar nicht nur die Kompetenz beansprucht, die ‚mündigen Bürger‘ zu belehren, sondern nach eigenem Ermessen überwachen zu lassen und in ihren Grundrechten einzuschränken?“

Am 13. April 2024 schließlich befragte die Berliner Zeitung Kubicki: „[…] nur noch 40 Prozent der Deutschen glauben […], dass sie ihre Meinung frei äußern dürfen. So wenige waren es noch nie. Sie selbst sind als meinungsstark bekannt. Wer oder was schüchtert die Menschen ein?“. Antwort: „[…] Das hat auch aus meiner Beobachtung bedenklich abgenommen. Aber nicht, weil der Staat, zumindest bisher nicht, die Meinungsfreiheit einschränkt. Sondern weil viele Menschen die Erfahrung machen, dass auf abweichende Meinungen gesellschaftliche Sanktionen folgen“.

Dieser Zustand rührt auch daher, dass die Staatsmacht in jüngerer Zeit verstärkt außergewöhnliche innere Notstände (Pandemie) und außenpolitische Spannungsfälle (mittelbare Kriegsbeteiligung in der Ukraine und in Nahost) benutzt, um die rechtsstaatlichen Grenzen für das Wirken des Verfassungsschutzes auszuweiten – mit der Tendenz, sie de facto aufzuheben. Dies geht einher mit konzertierter Beeinflussung der Staatsbürger durch Politik und Medien, um die praktische Machtausübung jeweils als unbedingte Konsequenz der Umstände erscheinen zu lassen. Da bestätigt sich, zeitgerecht interpretiert, was in dem Marx/Engels-Aufsatz „Die deutsche Ideologie“ so formuliert ist: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht“.

Fazit: Wieder eine neue Facette unserer Wirklichkeit, die insgesamt von emsiger Geschäftigkeit der politischen Klasse geprägt ist, während die Zivilgesellschaft antriebsschwach – wie unter Mehltau – dahinlebt. Die deutsche Geschichte freilich lehrt, dass den gefühlten bleiernen Ewigkeiten aufs Ende hin real häufig nur kurze Verfallszeiten beschieden waren. Dem folgten regelgemäß Aus- und Aufbrüche.
Wir leben in bewegten Zeiten!