Die nächsten Wochen werden zeigen, ob der neuen Regierung ein Aufbruch gelingt oder nicht
Am 15. August trat Fernando Lugo Méndez offiziell das Amt des Staatspräsidenten Paraguays an. In seiner ersten offiziellen Rede bezog er klar Position für die sozial Schwachen und Ausgeschlossenen. Doch ein rascher, tiefgreifender sozialer Wandel ist mit dem neuen Regierungschef noch lange nicht gesichert. Die alten Eliten haben insbesondere auf die Judikative weiterhin großen Einfluss.
Eine klare Linie sieht anders aus. In den ersten Tagen seiner
Regierung positionierte sich Präsident Fernando Lugo Méndez zunächst an
der Seite von Venezuela, Bolivien und Ecuador. Direkt nach seiner
Amtseinführung empfing er seinen venezolanischen Amtskollegen Hugo
Chávez. Doch inzwischen hat er mehrfach abgewiegelt und sich auf Chile
und Uruguay als Vorbilder berufen. Je nachdem, woher der Druck kommt,
gibt er – zumindest in seinen Reden – nach.
Die größte Kraft der Regierung ist die Unterstützung und das Vertrauen
vieler gesellschaftlicher Sektoren, die ihre Hoffnungen in Lugo setzen.
Nach der jahrzehntelangen Herrschaft der Colorado-Partei hoffen die
bisher vom politischen System Ausgeschlossenen auf einen grundlegenden
Wandel. Doch deshalb steht die Regierung auch unter einem enormen
Druck: Wenn sie es nicht schafft, schnell spürbare Lösungen für die
drängendsten sozialen Probleme zu finden, könnte es mit dieser
Unterstützung schnell wieder vorbei sein.
Die Regierung wird es nicht leicht haben, die Erwartungen zu erfüllen.
Das größte Problem sind die Altlasten des vorhergehenden Systems. Die
Colorado-Partei und die mit ihr verbündeten AgrarunternehmerInnen
besitzen weiterhin Einfluss auf die Legislative und Judikative des
Landes. Im Parlament haben die Abgeordneten der Opposition eine
Mehrheit.
Und auch innerhalb der staatlichen Institutionen sind die alten Mächte
noch präsent. In den Ministerien wurden nur die Führungskader
ausgewechselt. Das bedeutet, dass der größte Teil der alten
MitarbeiterInnen übernommen wurde. Diese werden wohl innerhalb der
betreffenden Institutionen mindestens passiven Widerstand leisten.
Aus diesem Grund vermochte es die neue Regierung bisher nicht, einen
strukturellen Wandel einzuleiten. Vielmehr handelt es sich um einen
Übergangsprozess, der verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren
Möglichkeiten bietet, sich zu organisieren und Kräfte zu akkumulieren.
Wichtigste Plattform der „neuen“ politischen Akteure ist die
Sozial-Populäre Front (FSP). Die FSP wurde nach dem Wahlsieg vom 20.
April von verschiedenen Basisorganisationen als Instanz gegründet,
welche die Debatten, Analysen und Vorschläge der sozialen Bewegungen
bündeln und der neuen Regierung vortragen soll. Damit wollen die
beteiligten Organisationen eine Politik der öffentlichen Hand
erreichen, die auch wirklich für die Interessen der Armen und
Ausgeschlossenen arbeitet. In der FSP sind über 100 Organisationen
vereinigt. Darunter sind Kleinbauern und -bäuerinnen, Indígenas,
Gewerkschaften, Frauenorganisationen, Obdachlose, arbeitende Kinder,
KünstlerInnen, StudentInnen, RentnerInnen, kleine und mittlere
Unternehmen und die Sozialpastorale der katholischen Kirche. Dabei
betont die FSP, von der neuen Regierung unabhängig zu sein. Wichtigstes
Ergebnis der Arbeit ist ein so genannter agrarischer Notstandsplan. Er
zielt darauf ab, die bäuerliche Familienlandwirtschaft wieder zu
beleben und zu stärken.
Das Landwirtschaftsministerium hat diesen Plan aber bislang nicht
akzeptiert. Der neue Landwirtschaftsminister Cándido Vera Bejarano ist
ein Mann ohne neue Visionen. Er will mit Gentechnologie die Welt vor
dem Hunger retten. Andererseits ist die FSP bei der Agrarreformbehörde
INDERT auf offene Ohren gestoßen. In der obersten Hierarchie der
Behörde sitzen seit Lugos Regierungsantritt Vertrauensleute der FSP.
Auch im Gesundheitsministerium oder der Indigenenbehörde INDI sitzen
nun Leute aus den sozialen Bewegungen oder wenigstens solche, die deren
Vertrauen genießen, auf verantwortungsvollen Posten.
Ein anderes Problem ist, dass es die Regierung bis heute nicht
geschafft hat, materielle Antworten auf die Klagen der Bevölkerung zu
finden. Dies hat seine Gründe auch in der fünfmonatigen Übergangszeit
zwischen April und August, also dem Wahlsieg Lugos und seiner
Amtsübernahme. In dieser Zeit plünderten die Mitglieder der früheren
Regierung regelrecht die Institutionen des Staates: Gelder landeten in
den Taschen der PolitikerInnen und etliche Archive wurden zerstört, um
Spuren zu vernichten. Der damalige Präsident Nicanor Duarte Frutos
sabotierte alle Versuche, derartige Exzesse zu kontrollieren oder
einzudämmen.
Um diese von Korruption geprägte Situation zu beenden, wären
juristische Schritte und Gerichtsverfahren nötig. Die Justiz liegt
jedoch weiterhin in den Händen der Mafia aus GroßgrundbesitzerInnen
sowie Drogen- und Waffenschmugglern um den ehemaligen Präsidenten
Nicanor Duarte Frutos. Das Justizsystem ist das Bollwerk der
Colorado-Partei. Sämtliche Mitglieder des Obersten Gerichtshofes wurden
auf Fingerzeig Duarte Frutos‘ ernannt. Eine unabhängige Justiz
existiert nicht einmal in Ansätzen. Auch die Staatsanwaltschaft wird
von der Colorado-Partei kontrolliert.
Doch langsam bekommt die Hegemonie der Colorados und ihrer Verbündeten
Risse. Auf dem Land mobilisieren derzeit Landlose, Indigene sowie
Kleinbäuerinnen und -bauern in 130 Zeltlagern gegen die mechanisierte
und gentechnische Landwirtschaft in Monokulturen. Sie fordern, dass der
Großgrundbesitz neu vermessen wird, um irregulär angeeignetes
Staatsland zu identifizieren. Dazu legte die Agrarreformbehörde INDERT
kürzlich einen Bericht vor, wonach fast acht Millionen Hektar
Staatsland illegal an die Parteielite, Militärs und UnternehmerInnen
verteilt wurde. Die Landlosen fordern die Enteignung und Neuverteilung
dieser illegal angeeigneten Ländereien.
Auf der anderen Seite mobilisieren die Landlosen, Indigenen und
Kleinbäuerinnen und -bauern gegen Umweltverschmutzung und Zerstörung
ihrer Lebensgrundlagen. Dabei geht es vor allem um die massive
Besprühung von Sojamonokulturen mit Pestiziden, von denen die Gemeinden
betroffen sind, die neben den Latifundien liegen. Dabei erhalten sie
auch Unterstützung vom Gesundheitsministerium, das immer stärker die
negativen Folgen des massiven Pestizideinsatzes für die Bevölkerung in
Paraguay thematisiert. Ebenfalls wenden sich die Menschen in den
Protestcamps gegen die Vernichtung von Sumpflandschaften und den
letzten Wäldern.
Obwohl sich die Camps nicht auf Privatland befinden, geht die
Staatsanwaltschaft repressiv gegen die Mobilisierungen vor. Seit dem
15. August räumte die Polizei bereits 27 Protestcamps. Dabei wurden
viele Leute verhaftet und verletzt. Doch die Repression der
GroßgrundbesitzerInnen und der mit ihnen verbündeten Staatsanwaltschaft
beschränkt sich nicht auf Räumungen. Am 4. August wurde in Paraguarí
Sindulfo Britez, ein Anführer der paraguayischen Bauernbewegung MCP, in
seinem eigenen Haus ermordet. Mutmaßlich waren die TäterInnen
AuftragsmörderInnen, die von GroßgrundbesitzerInnen bezahlt wurden. Am
3. Oktober wurde Bienvenido Melgarejo ermordet, diesmal waren die Täter
PolizistInnen. Es gibt Berichte, dass sich um die 800 brasilianische
Paramilitärs in Paraguay befinden, die im Auftrag der
GroßgrundbesitzerInnen die anstehende Soja-Aussaat schützen sollen.
In der Provinz San Pedro stoppten Kleinbäuerinnen und -bauern schon
einige Traktoren der Sojabauern und wurden dafür kriminalisiert. Die
Spannung steigt täglich. Die Systemfrage in der Landwirtschaft wird
sich in Paraguay in den nächsten Wochen noch dringlicher stellen, denn
für die Kleinbäuerinnen und Landlosen geht es ums Überleben. Wenn sie
es nicht schaffen, in diesem Jahr die Sojaexpansion zu bremsen, sind
sie zum Untergang verurteilt.
Die alten Eliten aus Colorado-PolitikerInnen, Militärs,
UnternehmerInnen und GroßgrundbesitzerInnen, die seit Jahrzehnten daran
gewöhnt sind, die praktischen AlleinherrscherInnen Paraguays zu sein,
versuchten noch aggressiver, ihre Macht zu bewahren. Anfang September
machte Präsident Fernando Lugo im Fernsehen eine Putschverschwörung
öffentlich. Dabei handelte es sich um ein Treffen im Haus des
Ex-Generals Lino César Oviedo mit Ex-Präsident Nicanor Duarte Frutos,
Generalstaatsanwalt Rubén Candia Amarilla und Juan Manuel Morales vom
Obersten Wahlgericht. Zu ihrem Treffen luden sie General Máximo Díaz
ein, Verbindungsmann zwischen Parlament und Streitkräften. Von ihm
wollten sie wissen, was das Heer von der Krise im Senat hält, wo die
Regierung kaum über Rückhalt verfügt. Der General antwortete, dass dies
ein politisches Problem sei und er sich als Militär dazu nicht äußern
könne. Am nächsten Morgen berichtete er dem Präsidenten von dem
Treffen. Wegen General Díaz‘ Warnungen konnte dieser Putschversuch im
Keim erstickt werden. Doch zeigt sich, dass der Konflikt um die Zukunft
Paraguays noch viel Sprengstoff birgt.
Der soziale Prozess, den Lugo auf den Präsidentensitz gehievt hat, ist
von seiner Schwäche und Improvisation gekennzeichnet. Keinesfalls kann
man den Prozess in Paraguay mit dem in Bolivien vergleichen, wo die
sozialen Bewegungen der Motor der Veränderung waren.
Die nächsten Wochen werden wegweisend sein. Der Wille von Lugo, die
Familien der Kleinbäuerinnen und -bauern vor der Vergiftungen durch
Pestizide zu schützen, scheint da zu sein. Doch der Druck der
SojaproduzentInnen ist enorm. Es bleibt zu hoffen, dass sich die neue
Regierung in diesem Spannungsfeld geschickt und strategisch verhält und
Paraguay eine weitere Eskalation der Gewalt erspart bleibt.
Text: Reto Sonderegger
Ausgabe: Nummer 413 - November 2008