Kritik und Betroffenheit

Identität im Antirassismus

Antirassistische Strömungen fordern seit den 1970er-Jahren, eine aus den eigenen Rassismuserfahrungen abgeleitete Identität ins Zentrum von Politik zu stellen. Doch der alleinige Bezug auf die eigene Unterdrückungserfahrung kommt an seine Grenzen, wenn universelle Werte verhandelt werden.

von Ulrike Marz

»Wir glauben, dass eine tiefgreifendste und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht.« Im Jahr 1977 veröffentlichte das Combahee River Collective eine Analyse, die für eine Linke, die sich zuvor vor allem auf den Begriff der Klasse gestützt hatte, neu war. Das Kollektiv aus Boston proklamierte, dass die eigene Unterdrückungserfahrung, die sie als afroamerikanische lesbische Frauen erlebten, am wirksamsten unter Rückgriff auf eben diese Lebenssituation intersektional begriffen und bekämpft werden müsse. Diese Argumentation ist sinnbildlich für eine Entwicklung, die ab den 1970er-Jahren vor allem in Bewegungen gegen Rassismus und Homophobie erfolgt. Man begann die eigene Identität in den Mittelpunkt der politischen Mobilisierung zu stellen.

Theorie braucht Erfahrung

Neu an diesem Politikverständnis war der Verweis auf die Bedeutung der eigenen Diskriminierungserfahrung und der Fokus auf die Selbsttätigkeit der betroffenen Gruppen, die sich von einer mehrheitlich weißen und männlichen Linken übergangen fühlten. Gleichzeitig birgt der positive Bezug auf kollektive Identität aber auch erhebliche Probleme für Theorie und Praxis des Antirassismus.

In den 1980er-Jahren entstand in Anlehnung an die Forderung, die eigene Unterdrückungserfahrung ins Zentrum zu stellen, eine kritische Rassismusforschung, die von den Betroffenen selbst ausgehen wollte. In welchem Zusammenhang dabei aber akademische Theorie und persönliche Erfahrung stehen, ist in diesem Zusammenhang ein erster, kontrovers diskutierter Punkt. Können nur Menschen, die selbst Rassismus erfahren haben, diesen radikal und schonungslos kritisieren? Wenn kritische Rassismusforscher*innen mit eigener Diskriminierungserfahrung die Bedeutung persönlicher Betroffenheit für die Forschung betonen, dann nicht nur, weil Betroffenheit historisch betrachtet, Auslöser für wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Thema war. Sie betonen darüber hinaus den Wert der Erfahrungen von Rassismusbetroffenen, um Veränderungen des Rassismus im Alltag und im Agieren von Institutionen aufzuspüren, die einer rein akademischen Auseinandersetzung mit dem Thema verborgen bleiben können. So lässt sich sagen, dass Erfahrungen das Fundament der Kritik sind. Eine Rassismuskritik, die die Erfahrungen der Betroffenen übergeht, verdient ihren Namen nicht. Aber um Erfahrungen in Theorie zu verwandeln, bedarf es theoretischen Vorwissens. Manches, was die Betroffenen wissen, können Gesellschaftskritiker*innen, die selbst nie Rassismus erleben mussten, nicht wissen – und manches, was die Soziologie weiß, können Betroffene jenseits der akademischen Welt nicht wissen. Eine generelle Berufung auf institutionalisierte oder erfahrungsbezogene Autorität kann es nicht geben: Wer in welcher Situation, in Hinblick auf welchen Aspekt der Rassismuskritik mit ‚überlegenem‘ Wissen aufwarten kann, ist nicht pauschal festzulegen.

Gleichmacher Identität

Identitätspolitik ist von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt: Identität wird zunächst als etwas Zugeschriebenes zurückgewiesen, aber zugleich affirmiert. Sie bezieht sich auf die stigmatisierende Kategorie, die dann zum Träger der Kollektivierung wird: etwa »black« oder »queer«. Sie ist damit von einem Widerspruch geprägt: nämlich die Kategorie in ihrer negativen Konnotation abgeschafft und in ihrer positiven Aneignung anerkannt wissen zu wollen. Als gewichtiges Problem von Identitätspolitik gilt daher deren Tendenz zu Re-Essentialisierung von Menschen. Identitätspolitiken tendieren verstärkt zu einer Homogenisierung von Identitätskategorien. So können auch antirassistische Widerstandspolitiken einen essentialisierenden Gruppenbegriff verwenden, wenn sie die negativen Zuschreibungen der Rassist*innen einfach positiv umwenden, Schwarzen eine positive, besondere oder privilegierte Stellung zusprechen oder eine Kultur essentialistisch vor ‚westlich-imperialen‘ Zugriffen zu schützen meinen – wie bei Debatten um kulturelle Aneignung.

Angesichts des bemerkenswerten Umstandes, dass auf den Begriff der kollektiven Identität sowohl im rechten Spektrum (Identitäre Bewegung) wie in linken Kreisen positiv Bezug genommen wird, sollten Ansätze, die sich in emanzipatorischer Absicht auf Identität beziehen, besonders sensibel sein für das Spezifische, Individuelle, das durch kollektive Identität tendenziell entqualifiziert wird. Das Regressive, das insbesondere in der rechten Identitätssehnsucht steckt, folgt der Tendenz zur Gleichmacherei, dem Drang des Einzelnen zur blinden Identifikation mit einem Kollektiv, wie der ‚Rasse‘, dem ‚Volk‘, der ‚Nation‘, der ‚Ethnie‘. Nicht nur ist daher das Identitätsbedürfnis zurückzuweisen, das sich rassistisch oder nationalistisch begründet. Auch jene Identitätspolitiken, die sich im Prozess der Selbstermächtigung von rassifizierten Menschen gebildet haben, setzen sich der Gefahr aus, das Individuelle und Besondere zu übergehen. Die indische postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak versuchte mit dem Konzept des »strategischen Essentialismus« ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass kollektive Selbstrepräsentation zugleich notwendig und problematisch ist. Kollektive Identität wäre demnach eine notwendige, strategische politische Lüge auf dem Weg zur Emanzipation der unterdrückten Gruppe, wobei es gälte, die damit zwingend verbundenen Homogenisierungen der Menschen in diesen Kollektiven zu minimieren. Doch auch der strategische Essentialismus läuft Gefahr, rassistische und damit stets auch ahistorische Vorstellungen von rassifizierten Gruppen zu übernehmen.

Ein weiterer Einwand gegen Identitätspolitik betrifft die Annahme, dass diese per se nicht an der Abschaffung sozialer Ungleichheit interessiert sei. Die existierende strukturelle soziale Ungleichheit kann jedoch nicht allein durch den Begriff der ökonomischen Klasse beschrieben werden. Denn auch die identitäre Abwertung bestimmter Lebensformen stehen im Zusammenhang mit dem Ausschluss von Ressourcen und der Beschränkung politischer Teilhabe. So bilden Identitäts- und Klassenpolitik vielmehr zwei Seiten der gleichen Anstrengung, soziale Ungleichheit abzuschaffen. Dennoch trifft der Vorwurf zu, mit dem Fokus auf Identität klassenpolitische Aspekte zu übergehen: Identitätspolitik zielt auf Anerkennung, die Sichtbarmachung und Wertschätzung einer Kategorie; Klassenpolitik hingegen geht es um die Abschaffung der Differenz. Denn keinem armen Menschen ist damit geholfen, wenn dessen Armut anerkannt wird. Insofern deutet sich zwar kein Primat, aber doch eine Sonderstellung von Klasse an. Aber auch hier taucht das identitätspolitische Problem wieder auf. Während die radikalsten Strömungen der Arbeiterbewegung die Lebensform »Arbeiter*in« abschaffen wollten, erfolgte in den Mehrheitsströmungen der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien eine identitätspolitische Fetischisierung der ‚Arbeitenden‘.

Politik jenseits von Identität

Eine identitätspolitische Wende, wie sie sich in vielen intersektionalen Ansätzen durchgesetzt hat, läuft Gefahr, Identität, die letztlich Produkt von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung ist, zu idealisieren. Identitätspolitik geht es zunächst um die Sichtbarkeit und Stärkung der Würde einer Gruppe. Doch ein Antirassismus, der Identitäten festschreibt und fördert, statt für ihre Aufhebung einzutreten, wird den Rassismus, der kognitiv, psychologisch und kulturell durch solche Trennungen getrieben ist, nicht angreifen.

Bei aller berechtigten Kritik an auch linken Identitätspolitiken dürfen jedoch auch die Unterschiede zur rechten Identitätspolitik nicht vergessen werden: Rechte Identitätspolitik will Gemeinschaft homogenisieren und damit schließen; linke Identitätspolitik will hingegen perspektivisch gerade das gleichberechtigte Nebeneinander des Heterogenen.

Was also tun? Politische Bewegungen gegen Rassismus sollten Verteilungs- nicht durch Identitätskämpfe ersetzen; sie sollten die abgewerteten Kategorien nicht affirmieren, sondern für ihre Aufhebung streiten; sie sollten sich auf kollektive Identität allein strategisch beziehen – im Sinne eines »situierten Universalismus« nach Sina Arnold – und damit vorübergehend instrumentalisieren und partikulare Interessen an universalistische emanzipatorische Ideen und Ziele anschließen. Eine solche Kritik würde zeigen, dass als partikulare Diskriminierungen erscheinende Phänomene – wie Rassismus, Sexismus, Transfeindlichkeit, Homophobie, aber auch Armut und Ausbeutung – auf dem gleichen gesellschaftlichen Fundament einer kapitalistischen Gesellschaft gedeihen. Sie würde offenlegen, dass das, was als Diskriminierung erscheint, Ergebnis von Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist, die sich auch argumentativ wechselseitig befeuern. Aber diese Politik wäre keine reine Identitätspolitik mehr, sondern eine, in der die vernünftigen Elemente von Klassen- und Identitätspolitik vereint würden.

Ulrike Marz ist Soziologin und arbeitet zu den Themen Kritische Theorie, Rassismus, Antisemitismus und rechtem Populismus.