Sandkorn im Getriebe der Kriegsmaschine

Jürgen Grässlin wird häufig die Eigenschaft zugeschrieben, er sei der bekannteste Pazifist und Rüstungsgegner Deutschlands. Das wird man nicht von ungefähr, sondern nur aus gutem Grund. Wie und warum beschreibt Grässlin selbst in seinem kürzlich erschienenem Buch. Der Titel des autobiographischen Textes „Einschüchtern zwecklos“ gibt die Haltung vor. Der Untertitel „Unermüdlich gegen Krieg und Gewalt – was ein Einzelner bewegen kann“ lässt bereits die Richtung durchscheinen. Angekündigt war das Buch vom Verlag schon vor Monaten, die Verzögerung erklärt sich mir vornehmlich durch den aktuellen Krieg in der Ukraine und Grässlins Reaktion darauf. Doch dazu später mehr.

1957 wurde er im badischen Lörrach geboren, studierte an der Freiburger Pädagogischen Hochschule Germanistik, Geographie und Erziehungswissenschaften und arbeitete ab 1982 als Realschullehrer. Sein „badischer Revoluzzergeist“ prägte schon früh das Handeln. Die feste Verwurzelung in Südwestdeutschland hält bis heute, Grässlin lebt seit vielen Jahren in Freiburg im Breisgau.

In zehn Kapiteln zeichnet der Autor sein durchaus aufregendes Leben als Friedensaktivist und Rüstungsgegner nach. Er erzählt von etlichen Initiativen, die er mitgründete, von langjährigen Prozessen, bis hin zum aktuellen Pazifistenbashing. In seinem Nachwort gibt er konkrete Tipps zu aktivem Widerstand gegen Rüstung und Einsatz für eine friedliche Welt. Die Leser werden häufig direkt angesprochen und in die Überlegungen des Autors einbezogen. Klare, überwiegend einfach strukturierte Sätze erlauben es, den nicht immer einfachen, aber meist überzeugenden Argumentationen gut zu folgen.

Spannend zu lesen ist es, wie Grässlin seine „Liebe zum Kapitalismus entdeckte“, und wie er Anfang der 1990er Jahre anderen gleich, beginnend mit den Kauf einer Aktie von Daimler Benz, dazu beitrug, den Vorstand des Großkonzerns zu „zwingen aus unmoralischen und unethischen Geschäften auszusteigen“. Der damalige renommierte Autobauer und gleichzeitige Rüstungsriese, war noch vor Rheinmetall Marktführer bei Minenpatenten und wurde schließlich durch die „Anti-Landminenkampagne bei Daimler“ von den „Kritischen Aktionären“ bezwungen. David errang einen Teilerfolg gegen Goliath, denn Daimler blieb zwar noch ein Rüstungskonzern, stieg aber aus der Minenproduktion aus.

Die Partei „Bündnis90/Die Grünen“ verließ Grässlin im 13. Jahr seine Mitgliedschaft. Anlass waren der Kosovo-Krieg und die NATO-Bombardements auf Belgrad. In der vom damaligen Aussenminister Joschka Fischer auf dem Sonderparteitag in Bielefeld 1999 gehaltene Rede legitimierte der grüne Außenminister den ersten deutschen Kriegseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem mit dem Argument „Nie wieder Auschwitz“. Für diesen Vergleich wurde er später heftig kritisiert.

Nach dem Widerstand gegen „basisgrüne Bomben auf Belgrad“ wendet sich Grässlin erneut der deutschen Waffenschmiede „Heckler & Koch“ zu. Zunächst konzentriert er sich auf die G3-Gewehre – Millionen in aller Welt. Durch die Rüstungsexport und Lizenzvergabepolitik von H&K im Zusammenspiel mit den jeweiligen Bundesregierungen über Jahrzehnte zeichnete sich eine blutrote Spur über den Globus. Später hat der Autor die gesamte „Waffenfamilie“ im Blick und schreibt sein „Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient“. Grässlins Analyseergebnis: „Durchschnittlich alle 13 Minuten starb und stirbt ein Mensch durch eine Waffe von H&K.“ Und: „Kleinwaffen waren und sind die Massenvernichtungswaffen des 20. und 21. Jahrhunderts schlechthin. Kein anderes Unternehmen in Europa verantwortet in der Nachkriegsgeschichte [nach 1945, H.S.] mehr Opfer als Heckler & Koch.“ Für seine Recherchen reiste der Autor über viele Jahre rund um die Welt.

Der Kampf gegen den Noch-Rüstungskonzern Daimler ging noch Jahre weiter bis der endlich 2013 aus der Produktion von Streumunition ausstieg durch den Verkauf der EADS-Anteile für zwei Milliarden Euro, Anteile am großen deutschen Luftfahrt- und Rüstungskonzern. Eine Ära für Daimler ging zu Ende. David hatte doch noch gegen Goliath gewonnen nach einem Vierteljahrhundert engagiertem Widerstand.

Europas führender Gewehr- und Pistolenhersteller, von drei Ingenieuren mit „dunkler NS-Vergangenheit“ 1949 gegründet, erlitt nach fast elf Jahren gerichtlicher Auseinandersetzungen durch viele Instanzen vor dem Bundesgerichtshof 2021 eine Niederlage wegen widerrechtlicher Waffengeschäfte und musste eine „Strafe“ von 3,7 Millionen Euro zahlen. Auch Heckler & Koch wurde von Kritischen Aktionären „mit einer Aktie“ vorgeführt.

Nur – die Rüstungsproduktion als solche wird durch diese und andere hoch lobenswerte Aktionen nicht beendet. Allerdings, sie sind es wert, auch wenn sie nur ein Leben retteten. Die „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“ von Grässlin neben anderen initiiert und mitbegründet „gegen den ganz legalen Waffenhandel“ aller bisherigen Regierungskoalitionen in Deutschland hat ein großes Ziel. Als Sprecher der Aktion nahm Grässlin den Aachener Friedenspreis 2011 entgegen. Doch die Waffenproduktion geht weiter …

Den aktuellen Beschluss des Bundessicherheitsrates vom September 2022 zur Genehmigung von Waffenexporten nach Saudi-Arabien und anderen Ländern kommentiert Grässlin mit Sarkasmus: „In keinem anderen Politikbereich klafft die Schere von Anspruch und Wirklichkeit, von Aufrichtigkeit und Verlogenheit derart weit auseinander wie im Bereich der Rüstungsexporte. Ein Hoch auf die internationale Solidarität von Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen – mit Menschenrechtsverbrechern, Massenmördern und Kriegsverbrechern.“

Selbstredend tritt Grässlin aktuell gegen deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine auf und bezeichnet die Ampelkoalition unter Olaf Scholz als „inoffizielle Kriegspartei“. Dass er dabei gegen  den Mainstream auftritt, ficht ihn nicht an, auch nicht das „moralische Hyperventilieren und der Hang zur Diffamierung“ (Precht/Welzer: „Die vierte Gewalt“).

Grässlin argumentiert, dass dank unwiderlegter Studienergebnisse von US-Friedensforscherinnen gilt: „Gewaltfreier ziviler Widerstand ist dreimal so oft erfolgreich als gewalttätiger.“ Das ist für ihn auch ein möglicher Weg, in der Ukraine das Töten zu beenden. So erinnert er deswegen auch an das Konzept der „unverteidigten Orte“ im ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949, das im humanitären Völkerrecht vergessen worden sei, aber nicht getilgt.

Milliardensummen fließen in Bomben statt Bildung. Doch militärische „Zeitenwende“ in Deutschland akzeptiert der Pazifist Jürgen Grässlin nicht. „Jede Friedensverhandlung ist wichtiger als jeder weiterer Schusswechsel. jede nichtmilitärische Konfliktlösung rettet abertausende von Menschenleben. Im 21. Jahrhundert ist der Pazifismus wichtige denn je. […] Nichts ist gut in der Ukraine, in Libyen, in der Türkei, in Saudi-Arabien, im Jemen! Militär ist nicht die Lösung. Militär ist das Problem!“

Aus dem Störenfried, wie er einst benannt wurde, erwuchs ein Friedenskämpfer, dem aller Erfolg zu wünschen ist.

Jürgen Grässlin: Einschüchtern zwecklos. Unermüdlich gegen Krieg und Gewalt – was ein Einzelner bewegen kann, Wilhelm Heyne Verlag, München 2023, 384 Seiten, 14,00 Euro.