Widersprüchliche Perspektiven

Telepolis versteht sich als deutschsprachiges Online-Magazin, das „über die gesellschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Aspekte des digitalen Zeitalters“ informiert. Die TAZ nannte Telepolis eine „Zeitschrift für die gebildeten Online-Stände“. Die sollten allerdings eine konsistente Perspektive haben. Am 31. Juli 2023 wurde das Gegenteil präsentiert.

Zum Verfassungsschutzpräsidenten Thomas Haldenwang fragt Claudia Wangerin: „Alles Nazis außer Nato?“. Anlass waren seine Äußerungen zur AfD-Europawahlversammlung am 29./30. Juli in Magdeburg, Hintergrund seine Einlassungen im ARD/ZDF-Morgenmagazin am 22. Mai 2023. Die Autorin schreibt: „Sie sehen die Konkurrenz der Großmächte nicht als Kampf zwischen Gut und Böse? Der Inlandsgeheimdienst attestiert dafür schon fast AfD-Nähe.“ Haldenwang könne „nicht widerstehen, wenn es darum geht, abweichende Einschätzungen zur Weltpolitik als rechts zu framen, auch wenn diese zum Teil von Linken oder bürgerlichen Demokraten geäußert werden“.

Die meisten Linken würden wohl zustimmen, wenn er das Raunen in AfD-Kreisen „vom großen Austausch“ der Bevölkerung „im Bereich rechtsextremistischer Verschwörungstheorien verortet“. Wenn es dagegen um die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges geht, ein Zusammenhang zur NATO-Osterweiterung oder überhaupt zur NATO hergestellt sowie die Konkurrenz der Großmächte nicht als „Kampf zwischen Gut und Böse“ interpretiert wird, gerät jeder sofort „unter Generalverdacht“. Dass „der Kreml den Krieg gegen die Ukraine auch deshalb führe, weil die eigenen Sicherheitsinteressen durch den Westen verletzt worden seien“, so weiter Wangerin, ist laut Haldenwang ein „Kreml-Narrativ“. Der Verweis auf „russische Sicherheitsinteressen“ stellt keine moralische Wertung dar, macht keinen Unterschied zwischen objektiven und subjektiv wahrgenommenen Sicherheitsinteressen und stellt erst recht keine Relativierung der Verantwortung Russlands für den jetzigen Ukraine-Krieg dar. Dessen ungeachtet gelte für Haldenwang eine solche Aussage als Weiterverbreitung von Kreml-Propaganda, „rechtsextremistischer Verdachtsfall“ und „mögliche Agententätigkeit für Russland“.

Dagegen meint ein Autor namens Rüdiger Suchsland, ebenfalls Telepolis vom 31. Juli 2023, die AfD hätte mit dem Magdeburger Parteitag „alle Feigenblätter abgelegt“. Bereits die Personalie Maximilian Krah, der auf den Spitzenplatz der AfD-Kandidatenliste zur EU-Wahl 2024 gewählt wurde, verkörpere einen „Sieg der Extremisten“. Genüsslich weist Suchsland darauf hin, dass die AfD vom Verfassungsschutz „bereits seit Längerem als ‚Verdachtsfall‘ geführt“ werde. Auch wenn vieles noch ungeklärt sei, so die strategische Frage, solle es einen „Reset und Neustart“ der EU geben, wie Krah betonte, oder diese einfach abgeschafft werden, wie die „eurofeindlichen und neoliberalen Gründer“ der AfD anstrebten.

Suchsland bezieht sich dann auf Äußerungen von Björn Höcke zum Ukraine-Krieg: „Dieser Krieg ist nicht unser Krieg. Wir müssen uns aus der Umklammerung der US-Amerikaner lösen.“ Und zur EU: „Ich bin kein Freund der Europäischen Union. Das ist eine Globalisierungsagentur, die die vielfältige europäische Kultur gleichschaltet. Diese EU muss sterben, damit Europa leben kann.“ Danach zitiert der Autor einen Kommentator vom Deutschlandfunk, der resümiert habe: „Die AfD strebt angesichts des Rechtsrucks in der Gesellschaft, auch in Ländern wie Italien und Frankreich das Ziel eines supernationalen faschistischen Europas an.“ Der Schreiber meinte wahrscheinlich „supranational“. Das aber ist weder durch das Höcke-Zitat noch durch die weiteren Aussagen des Parteitages gedeckt. Es liegt mir fern, die AfD zu beschönigen, aber mit Lügen ist die politische und geistige Auseinandersetzung nicht zu führen. Alice Weidel, eine der beiden AfD-Vorsitzenden, hatte auf dem Parteitag auf das Konzept des „Europas der Vaterländer“ verwiesen. Das war die Europa-Vorstellung des französischen Präsidenten Charles de Gaulle in den 1960er Jahren. Er betonte den nationalen Zusammenhang als demokratische und Rechtsordnung und bekämpfte eine überstaatliche Vergemeinschaftung mittels Institutionen. Alexander Gauland hatte dieses Konzept aufgerufen, als die AfD in ihrer Konstituierungsphase begann, über Europapolitik nachzudenken.

Bei Telepolis sind Leser-Kommentare nachzulesen. Katrin McClean schrieb noch am 31.07.23 unter der Überschrift: „Fehlende fundierte Vorwürfe“: „hier bleibe ich vollkommen ratlos zurück. Ich finde in diesem ganzen Beitrag nicht einen fundierten Vorwurf, der die Einschätzung ‚rechtsradikal‘ rechtfertigen würde. Der Vorwurf, dass Mainstream-Medien Schmutzkampagnen führen, ist […] kein Beleg für rechtsradikales Denken. Und was ist daran falsch, die EU als eine Institution zu kritisieren, die eine Euro-zentrierte Form von Globalisierung vorantreibt? Auch die Ablehnung von Krieg und von einer Politik, die vor allem den Mittelstand und die Ärmsten der Gesellschaft belastet, ist nichts ‚rechtsradikales‘. […] Wenn man der AfD rechtsradikale Politik vorwerfen will, dann sollte man das bitte auch tun. Mit derart schwacher Mäkelei überzeugt man niemanden.“

Spätestens seit Corona werden missliebige politische Positionen und deren Vertreter ausgegrenzt und mit pejorativen Ausschlussetiketten versehen: „Schwurbler“ oder „Verschwörungstheoretiker“ ist noch das Harmloseste, rasch gefolgt von der Denunziation als Rassisten, Frauen-, Schwulen- oder Lesbenfeinde respektive Antisemiten. Suchsland folgt den Argumentationsmustern, die Haldenwang vorgab.

Das Problem für die demokratische Linke (im weitesten Sinne) ist jedoch weitreichender. Nachdem der Inlandsgeheimdienst sich dazu aufwirft, zugleich die letztliche Zensurbehörde zu sein und inhaltliche Positionen – nicht nur reale Gewalttaten – zu inkriminieren, richten sich viele, die noch Karriere machen oder in den Großmedien Geld verdienen wollen, danach, welche Positionen gerade unstatthaft sind. Es war der CDU-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, der von einem „manchmal schmalen Korridor für Meinungen“ sprach. Auf dem Index stehen: Die Verantwortung der NATO für die Einkreisung Russlands seit 1991; der Ukrainekrieg ist „nicht unser Krieg“; die Infragestellung der NATO-Mitgliedschaft Deutschlands; die Frage nach dem Charakter der EU.

Die PDS, dann Die Linke hat in den 2000er Jahren, nach dem Scheitern der EU-Verfassung intensiv zur EU diskutiert. Zentral war, diese sei „neoliberal“, „militaristisch“ und „undemokratisch“, die Debatte ging darum, ob man für ihre Auflösung oder einen „Neustart“ sein sollte – was sich nach der Entmachtung der demokratisch gewählten griechischen Linksregierung durch Brüssel und Berlin noch verstärkte. Am Ende setzte sich durch, dass Die Linke als internationalistische Kraft nicht für die Beseitigung der EU, sondern für deren Veränderung eintreten sollte.

Die AfD führt heute – von einem entgegengesetzten politischen Standort aus – vergleichbare Debatten zur Position Deutschlands in der EU. Allerdings hat sie das Problem, dass EU, Euro wie NATO im Interesse des deutschen Kapitals und seiner globalen Interessen liegen. Eine Akzeptanz der AfD als rechter Partei unter den herrschenden Kräften dieses Landes wird es nur geben, wenn sie die Interessen des deutschen Kapitals vertritt.

Wer Haldenwang von links folgt, sollte wissen, dass die Indexierung der Kritik an NATO, EU, Ukraine-Krieg und „Kreml-gesteuerter“ Außenpolitik am Ende die Linke trifft, auch wenn dies derzeit rechts geframt wird. Wenn heute „der große Austausch“, der „völkische Nationalismus“ und die Gender-Kritik unter dem Rubrum „rechter Verfassungsfeindlichkeit“ verortet werden, kann das rasch auf Themen wie Klassenkampf, Abschaffung des kapitalistischen Eigentums und Kritik am Profitprinzip als „linke Verfassungsfeindlichkeit“ umgeschaltet werden. Alles, was an grundgesetzlich bisher verbriefter Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit galt, wird tatsächlich durch die Haldenwangschen Eingrenzungen infrage gestellt. Was heute rechts unter dem Beifall von Linken unterdrückt wird, kann mit einem Federstrich morgen links spiegelverkehrt ebenfalls erfolgen.

In der Gründungsphase der BRD war das Verbot der offen nationalsozialistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 das Vorspiel zum KPD-Verbot 1956. Und die war zuvor im „Parlamentarischen Rat“ vertreten, gehörte zu den „Vätern und Müttern des Grundgesetzes“.