Manches war doch anders: Neuer Zugang zu den „Kohl-Protokollen“?

„Oh, wie schnell vergeht der Ruhm der Welt.“
Thomas von Kempen, Augustiner Chorherr (um 1380 – 1471)

 

Eigentlich stammt die Information schon von Juni; doch sie wurde Opfer der aufregenden Zeiten. Dazu kommt die allgemeine Verunsicherung in der „Zeitenwende“: Darf man, soll man die Schwierigkeiten mit dem neuen Geschichtsbild, das in der Aufdeckung grundsätzlicher Irrtümer jüngster deutscher Geschichte zu bestehen scheint, zusätzlich befeuern? Also Unterlassung aus staatskonformen Motiven?

Was und wie auch immer: Am 1. August konnte man, dort auch nicht sonderlich prominent platziert, im Börsenblatt lesen: „Kohl-Zitate dürfen mehrheitlich veröffentlicht werden: Der Heyne Verlag plant für 2024 eine Neuauflage von ,Vermächtnis: Die Kohl-Protokolle‘. Nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Köln dürfen die meisten Zitate veröffentlicht werden.“ Am 22. August nahm die FAZ davon Kenntnis: „Dass ein einstmals erfolgreiches Buch neu aufgelegt wird, ist selten eine Meldungszeile wert.“ Doch dieses Werk lohne „der näheren Betrachtung“. Dem widmete sich, wohl so auf die Spur gebracht, auch die Junge Welt vermittels Arnold Schölzel mit Information darüber und der Wiedergabe einiger Kostproben aus dem inkriminierten Werk, überschrieben mit „Haftentlassung“.

Zwar prognostizierte die FAZ: „Ein Kassenschlager wie 2014 werden die ‚Kohl-Protokolle‘ bestimmt nicht noch einmal werden.“ Aber eine Wiederbelebung des Textes in Übernahmen bis hin zur Belletristik dürfte vorausgesagt sein; nicht zuletzt für die zahlreichen Veröffentlichungen zur Integration vormaliger DDR-Bürger, ehemals „Ostdeutsche“ genannt. Das Bedürfnis, authentisch zu erfahren, was „damals“ im Gegensatz zur Darstellung in Hochglanzbroschüren aus Staatsnähe geschah, ist inzwischen offenbar, nicht nur latent.

Auch dazu liefern die „Kohl-Protokolle“ mehr Substanz als andere Memoiren-Literatur. Hier nur als Randnotiz der Hinweis, dass sämtliche Unterlagen, prominente bundesdeutsche Politiker betreffend, wohl vom ersten Bundesbeauftragten der nach ihm benannten Institution, Joachim Gauck, gelesen werden durften – aber damit hatte sich der allgemeine Zugriff zwecks Nutzung als Quelle der Zeitgeschichte in Deutschland erschöpft. Allein schon diese Selektion mit der De-facto-Liquidation eines Teilbestands entwertet den gesamten Fundus – ein Aspekt, der von zahlreichen Nutzern höchst selten bedacht wird.

Vorab sei eine bemerkenswerte Eigenheit der Machart des „Vermächtnisses“ als Gemeinschaftsarbeit eines Zeitzeugen und eines Verwerters erklärt. Wie soll Rede mit fragender Gegenrede bei der Fülle unterschiedlicher Unterlagen strukturiert werden? Wie kommt man zu der Melange von Erinnerung, aktuellem Unmut und dem Zeugnis der bereits veröffentlichten oder erstmals herbeigezogenen Dokumente? Dafür hatte Kohls Ghostwriter Heribert Schwan eine Idee, die „freilich hart ans Schwejksche grenzt“: „Herr Bundeskanzler, […] wir schreiben ein Tagebuch.“ Beide wissend, dass Kohl nie Tagebuch geführt hatte. „Aber ließe sich solch ein Diarium nicht auch im Nachhinein anlegen? […] Binnen kürzester Zeit galt es, das Kunststück zu meistern, die Akribie des historischen Wissenschaftlers mit journalistischer Chuzpe zu einen.“ Ein Ritterschlag eigenhändig von Schwan für beide.

Ebenso wurde beiden im Verlauf der Begegnungen schnell klar, dass es nicht nur im Einzelfall nach der Maxime geht „Der Zweck heiligt die Mittel“. Bei diesem Bezug haben wir es auch mit einem Lehrstück über Politik, politisches Verhalten und deren Grenzen auf höchster Ebene zu tun. An der Substanz der Zitate von Kohl gab es unterschiedliche Zweifel, nie den Nachweis der Fälschung; aber hinreichend Betroffenheit.

Möglicherweise aus seinen Erfahrungen mit Macht und der Rolle von „Werten in den deutsch-deutschen Beziehungen kam Kohl zu einer Einschätzung der damaligen Situation, die der offiziellen Lesart entgegensteht: „Der schlimmste Fehler, den Honecker gemacht hat, war die Erweiterung der Besuchserlaubnis. Das war der Anfang vom Ende und nicht die Kerzen und die Gebete in Dresden. […] Wir wissen ja nicht, wie hoch der Anteil der Stasi war an diesen Friedensgebeten.“ Nun, wo er nicht mehr diplomatisch mit Samtfüßen auftreten muss, verkündet Kohl, laut Schwan, „dass die gern verbreitete Annahme nun mal irrig sei, ‚der Heilige Geist sei über die Plätze in Leipzig gekommen und habe die Welt verändert. […] Es ist doch dem Volksschulhirn von Thierse entsprungen, dass das auf der Straße entschieden wurde. […] Wenn Gorbatschow mit Panzern am Checkpoint Charlie herumgefahren wäre, hätten die Hardliner in Ostberlin die Mauer wieder zugemacht. […] Niemand auf dieser Erde hätte gesagt, wegen diesen Arschlöchern in Deutschland riskieren wir eine kriegerische Auseinandersetzung.‘“

Was hatte der damalige Bundeskanzler zur Auflösung dieser Krise anzubieten? Er erinnert sich an gemeinsames Wandern mit Franz Josef Strauß und dessen Credo: „Wenn man nicht schießen kann, muss man kaufen.“ Was daraus folgte, fasst Schwan so zusammen: „Kohl, mit dem System von Leistung und Gegenleistung wie kaum ein anderer Regent in Westeuropa vertraut, unterbreitete dem Führer der Sowjetunion in ihrer ökonomisch wohl schwersten Stunde ein Angebot für die Überlassung der DDR, das dieser kaum ausschlagen konnte. Man kann die Dinge auch durch Anfüttern, durch diskret eingefädelte Geschäfte zum Guten wenden.“ Ohne viel Aufhebens davon zu machen kaufte die Bundesrepublik für 220 Millionen D-Mark aus der Nato-Reserve alle Art von Lebensmitteln, Kleider, Decken, Medikamente als Hilfslieferung in die Sowjetunion. Ein beträchtlicher Teil der Lieferung war für Kiew bestimmt, gemäß Bitte von Gorbatschow. Von prinzipieller Bedeutung war die persönliche Rolle Kohls dabei, dass die Vorstände der Deutschen Bank und der Dresdner Bank Milliardenkredite bewilligten: „Wenn ich mich nicht täusche, lag die Gegensumme der Bürgschaften, die die Bundesregierung garantierte, bei 35 Milliarden.“

Wurde für die Banken auch kein schlechtes Geschäft. Und Sorgen um die Energieversorgung musste man sich hierzulande auch nicht machen. Das überdauerte auch wirkliche Zeitenwenden, wie den Zusammenbruch der Sowjetunion! Bis die deutsche Regierung im Zuge der Liquidierung der bisherigen Ostpolitik die Abnahme einseitig stornierte, die Banken zum „freiwilligen“ Rückzug animierte, und was alles danach folgte – jedenfalls nicht zum Vorteil der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bürger, einschließlich immer knapper werdender Mittel zu Aufnahme und Integration von Flüchtlingen.

Die versprochene „ewige Dankbarkeit“ gegenüber der Sowjetunion und Russland mit erfolgreichen politischen, wirtschaftlichen und Kulturbeziehungen mutierte zur „ewigen Feindschaft“: Alle Rüstung, einschließlich der moralischen Aufrüstung, wird „alternativlos“ und dauerhaft darauf ausgerichtet, die Finanzplanung eingeschlossen. Was aber, wenn andere sich über Deutschland hinweg einigen, ihre Rechnung dafür aber an Deutschland adressieren? Was, wenn es nach diesem Krieg, oder nur indirekt davon verursacht, zu weiteren Auseinandersetzungen einzelner Nationalstaaten oder Staatenkoalitionen kommen sollte, mit anderen Frontstellungen, die keineswegs nur militärisch zu definieren wären? Um es unmissverständlich auszudrücken: Was, wenn uns Russland als der einzig denkbare Gegner und auf Dauer abhandenkäme – auch über ganz Europa hinaus?

Bedingungslose Gefolgschaft führt selten zum erhofften Ergebnis; reicht es, darauf alles zu setzen? „Die USA haben keine Verbündeten, sie haben nur Interessen“, belehrt Kissinger. Die Kanzler Brandt, Schmidt, Kohl und Frau Merkel müssen wohl ein Gefühl dafür gehabt haben, dass „Wehrhaftmachung“ als Staatsziel mit der Option, anderen dies anzutragen, die nationale Kompetenz und auch die deutschen Möglichkeiten („wir sind bestens aufgestellt“ – Scholz) übersteigt. Und was fangen wir mit dem Makel „Irrtum Ostpolitik“ an? Vielleicht gab’s damals eher zu wenig davon. Aktuelle Ereignisse haben zumeist ihre Ursache in der Vergangenheit. Hinreichend Belege dafür finden sich auch im „Vermächtnis“.

Die erste Auflage erschien 2014 und verkaufte sich gut. Die bundesdeutsche Justiz brauchte neun Jahre bis zu diesem Ergebnis, was rechtlich eine Niederlage für die Verursacherin der Verfahrenskette, Dr. Maike Kohl-Richter, bedeuten mag. Aber wie steht es um den authentischen Inhalt? Und wie um die Bewertung der kohlschen Sicht der Dinge zum Zeitpunkt des Geschehens, dazu seine Interpretation mit jeweils aktuellem Bezug bis zum Lebensende am 16. Juni 2017. Zur Erinnerung und Einordnung: Bundeskanzler Helmut Kohl regierte von 1982 bis 1998 an der Spitze einer Koalition von CDU/CSU und FDP. Insgesamt 5870 Tage. Angela Merkel konnte diesen Rekord nicht toppen, sie kam auf 5862 Tage im Amt, das ihr zeitweilig die internationale Bewertung als stärkste politische Frau der Welt bescherte.

Als Person der Zeitgeschichte hat Kohl auf eigenen heftigen Wunsch und mit Beihilfe des umtriebigen Journalisten Heribert Schwan – bei Assistenz seines inzwischen verstorbenen Kollegen Tilman Jens – in 630 Stunden mit Unterlagen auch hoher Geheimhaltungsstufen das Narrativ seiner Lebenserinnerungen dargelegt.

Aus dem Vorwort von August 2014: „Das Ergebnis ist ein ‚Who is Who‘ der Zeitgeschichte, das Politiker wie Strauß oder Schäuble, wie Genscher, Geißler oder Gorbatschow auf ganz neue Weise porträtiert […] Da wird der Mauerfall vor 25 Jahren, das Ringen um die deutsche Einheit mit pointierten Worten als ökonomische Zwangsläufigkeit charakterisiert. Karl Marx hätte seine Freude an diesem Mann gehabt. […] Helmut Kohl unplugged.“ Und wer hätte diese Handreichung von Bundeskanzler Kohl bis in die Gegenwart vermutet?