Die Hürden der Inklusion

Der mit der UN-Behindertenrechtskonvention in die politische Diskussion gelangte Begriff der Inklusion steht momentan für etliche - sich zum Teil eklatant widersprechende - Ansätze in der Behindertenpolitik. Udo Sierck beleuchtet in seinem Beitrag die aktuell wirksamen Sichtweisen auf vermeintliche Inklusion und macht deutlich, dass es bis zu einem wirklich gleichberechtigten Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung noch ein weiter Weg ist.

Vor vierzehn Jahren hat Deutschland die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert. Sie sieht die vorbehaltlose Inklusion behinderter Menschen in alle gesellschaftlichen Bereiche vor, sei es Freizeit, Lernen oder Arbeit. Allgemein wird dieser Ansatz als Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik bewertet: Statt Personen mit Beeinträchtigungen in das traditionell gewachsene System aussondernder Institutionen zu bringen und dann die leistungsstärksten dieser Kinder, Frauen und Männer in den realen Alltag zu integrieren, soll die Segregation gar nicht erst stattfinden.

Ende August 2023 hat der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf zum zweiten Mal geprüft, wie Deutschland die Vorgaben der Behindertenrechtskonvention umsetzt. Die Ergebnisse sind desillusionierend. Denn in Bund, Ländern und Kommunen hat die Konvention an Gewicht verloren. Stattdessen macht sich eine Rhetorik breit, die behauptet, die bestehenden Sonderstrukturen seien Teil eines inklusiven Systems. Das bedeutet, die Sonderschulen nennen sich heute Förderschulen und bleiben mit ihrem aussondernden Charakter bis auf wenige Ausnahmen flächendeckend bestehen. Im Ergebnis können an die 330.000 Schüler und Schülerinnen von Inklusion nur träumen, obwohl sich alle Schulgesetze der 16 Bundesländer auf sie beziehen. Auch die Werkstätten für behinderte Menschen beharren auf ihrem Standpunkt, sie seien eine Institution der Rehabilitation, die für Integration und Inklusion stehe. Ohne Tarifrechte arbeiten dort inzwischen über 300.000 Erwachsene mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, Tendenz stetig steigend. Dabei gilt nach wie vor die Erkenntnis "Einmal Werkstatt - immer Werkstatt": Von eintausend Beschäftigten verlässt durchschnittlich eine Person diese Sondereinrichtung auf den ersten Arbeitsmarkt. Ganz ähnlich stellt sich die Situation im Bereich des Wohnens dar: Noch immer sind über 200.000 Menschen fern der Öffentlichkeit in Großeinrichtungen untergebracht, vielfach in Mehrbettzimmern ohne Privatsphäre. In diesem geschlossenen System einer Institution steigt für die Bewohner und Bewohnerinnen die Gefahr von Erniedrigung und - insbesondere sexueller - Gewalterfahrungen. Von der postulierten menschenrechtlichen Perspektive der Inklusion fehlt hier jede Spur. Insbesondere für Personen mit intellektuellen oder mehrfachen Beeinträchtigungen mangelt es an ambulanten Wohnformen.

Diese skizzenhafte Beschreibung wirft die Frage auf, warum die Inklusion nur auf dem Papier funktioniert. Zunächst spielt das Beharrungsvermögen der Sondereinrichtungen eine Rolle, die objektiv betrachtet von der Exklusion existieren. Und Schritte in eine Zukunft ohne Aussonderungssysteme kommen ohne finanzielle Absicherung nicht aus. Für diese Kosten aufzukommen, dafür fehlt weitreichend der politische Wille. Dennoch drückt sich diese Argumentation davor, andere bedeutende Hürden zur Inklusion in den Blick zu nehmen.

Körperideale

Körper mit auffallenden Merkmalen oder Bewegungen sind seit Jahrhunderten der Sensationslust ausgesetzt. Was Betroffene dabei empfinden, spielt keine wesentliche Rolle. Gegenwärtig sind sie bei Misswahlen, auf dem Laufsteg oder bei Olympischen Spielen zu betrachten. Die Faszination ist ihnen sicher. Es wäre zu einfach, in diesem Phänomen nur die Fortsetzung der Historie zu sehen. Aber auch die Behauptung, hier zeige sich ein Resultat emanzipatorischer Bestrebungen und der Beginn der Inklusion, griffe zu kurz.

Der zu beobachtende Kult um den makellosen Körper lässt Zweifel an der angeblichen Akzeptanz jener aufkommen, die nicht dem Ideal von Schönheit und Fitness entsprechen. Was diese Werte aber genau bedeuten, bleibt in der Vorstellung ungenau. Der Soziologe Max Weber lieferte vor gut hundert Jahren eine Definition von einem Idealtypus. Demnach wird dieser "gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen." Dieses Gedankenbild ist "nirgends in der Wirklichkeit auffindbar, es ist eine Utopie"1 Dennoch: 42% der Frauen und 25% der Männer sind mit ihrem Äußeren nicht zufrieden. Der Druck der Schönheitsideale wirkt. In den sogenannten sozialen Medien verändern 80% der Dreizehnjährigen ihre Fotos in Richtung angesagter Ideale; Essstörungen und psychische Probleme nehmen in diesem Zusammenhang zu.2 Die Aussage "Ich mache mich nur für mich schön" übersieht die Zwänge, die durch den Boom an Ratgeberliteratur, Diättipps, Fitnessangeboten, Kosmetikhinweisen oder Schönheitschirurgie für den sozialen Status einer Person sowie deren eigene Wertschätzung entstehen.

Gesundheit, Attraktivität, Leistungsfähigkeit sind Kriterien für die Schönen und Tüchtigen. Die Kehrseite dieser Wunschvorstellungen ist die Behauptung, krank, hässlich oder erschöpft zu sein. Wer funktioniert, wer selbst oder fremd auferlegte Anforderungen pausenlos erfüllt, gilt als gesund. Physisches und psychisches Wohlbefinden bleiben dagegen ein nachgeordneter Gedanke. Krankheit und Behinderung bedeuten in diesem Verhältnis, Leistungsmängel nicht ausgleichen zu können, zu schwach zu sein. Das provoziert den Hinweis, dass nahezu unerkannt in "Fitness-Training" oder "Fitness-Studio" die sozialdarwinistische Kategorie des "survival of the fittest" steckt.

Für eine berufliche Karriere sind Faktoren wie Attraktivität, Körpergröße und Körpergewicht bedeutsam. Nachgewiesen ist, dass große Menschen schneller die Erfolgsleiter erklimmen und dabei mehr verdienen. Frauen mit einem Körpergewicht unter dem Durchschnitt erhalten mehr Gehalt als jene, deren Gewicht über dem Durchschnitt liegt. Bei Männern spielt dagegen erst extremes Übergewicht eine negative Rolle für den beruflichen Erfolg. Mehr Frauen als Männer geben an, dass physische Attraktivität bedeutsam für den Berufseinstieg und den Verlauf der Karriere sei. Dabei soll der weibliche Körper nicht nur schlank sein, sondern zunehmend auch austrainiert wirken. Das erfordert stete Arbeit am eigenen Körper; er dient als Mittel, um Disziplin und Willensstärke zu demonstrieren. Signalisiert wird die Bereitschaft, hart und zielgerichtet zu arbeiten. Diese Tendenz zur umfassenden Fitness hat für Personen mit einer Einschränkung ausgrenzenden Charakter - Inklusion hin oder her.3

Auf der ganzen Welt werden jede Minute hundert Barbie-Puppen verkauft. Das über Jahrzehnte dazugehörige Image verriet 1986 ein Text aus dem Barbie-Journal: "Mannequin sein - das will schon gelernt sein. Denn ein hübsches Gesicht, eine schmale Taille, lange, schlanke Beine, die braucht man zwar auch dazu, aber das reicht längst nicht aus. Man muss schon wissen, wie man sich auf dem Laufsteg richtig bewegt".4 Doch mit dem Aufkommen der Rede von Diversität und Inklusion reagierte der Spielzeugkonzern Mattel auf den Trend und entwarf kurvige Puppen oder solche mit anderer Hautfarbe. Medienwirksam angepriesen wurden gleichfalls Barbie im Rollstuhl und Barbie mit Prothese. Für die Angebote erhielt der Konzern Lob und Anerkennung. Als allerdings eine Journalistin in Hamburgs Kaufhäusern und Spielwarenmärkten recherchierte, fand sie weder Barbie im Rollstuhl noch Barbie mit Prothese, stattdessen jede Menge dünner blonder Barbies. Die Liste der Bestseller beim Versandhandel Amazon bestätigte die Beliebtheit der Puppen-Varianten: Barbie mit Prothese belegte Platz 225, Barbie im Rollstuhl rangierte auf Platz 41, an der Spitze lag Barbie mit Glitzerkleid und Wespentaille.5 Behinderte Puppen sind im Angebot. Nur kauft sie fast niemand.

Faszination und Desinteresse

Wer vom Erfolg der Inklusion spricht, weist gern auf den Sport. Die in diesem Zusammenhang kritische Beobachtung der Medien entdeckt in der Berichterstattung die Faszination des Ungewöhnlichen: Im Mai 2022 erreicht der paralympische Athlet Andrea Lanfri als erster Mensch mit Mehrfachamputationen den Gipfel des Mount Everest. Seine Ausrüstungsfirma jubelt über dieses "Symbol der Selbstverwirklichung" und des "eisernen Willens" mit einer skurrilen Meldung: Lanfri hat "vier Weltrekorde gebrochen: erster Athlet, der mit mehreren Amputationen den höchsten Gipfel der Welt erklommen hat; erster Athlet, der auf unseren Cheetah Xtreme die höchste Meile der Welt auf 5190 Metern in nur 9 Minuten und 48 Sekunden gelaufen ist; erster Botschafter, der unser Össur-Logo auf den höchsten Gipfel der Welt gebracht hat; unsere Prothesenfüße Pro-Flex LP Align und Pro-Flex XC erreichen den höchsten Gipfel der Welt." Sein Traum wurde wahr, den "Himmel mit drei Fingern zu berühren".6 Das Geschäftsmodell mit faszinierenden Leistungen von Personen mit Einschränkungen scheint zu funktionieren. Die Spielregeln von Kommerz und Konsum lassen es zu. Seltsam wird es, wenn die Storys als ermutigende Beispiele für die allgemeine Inklusion herhalten sollen.

Mit dieser Intention meldet wie etliche andere Medien die Mitteldeutsche Zeitung am 8. September 2020 in der online-Ausgabe aufgeregt: "Nackt im Playboy: Paralympic-Star Elena Krawzow trotzt ihrer Behinderung." Um dann fortzufahren: "Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, warum Elena Krawzow anders ist als die Frauen, die sonst auf der Titelseite des Playboys zu sehen sind. Auch erkennt man nicht sofort, warum Elena an den Paralympics teilnimmt." Dieses Rätsel wird auch der zweite Blick nicht lösen. Denn Krawzow lebt mit einer starken Einschränkung ihrer Sehfähigkeit, optisch unterscheidet sie nichts von anderen Playboy-Models. Allein die verbale Verbindung von Nacktheit und Behinderung erklärt somit die mediale Aufregung, vom angedeuteten trotzig emanzipatorischen Akt bleibt außer der Sensation wenig übrig. Fortan heißt es in der Berichterstattung über Krawzows sportliche Leistungen im Brustschwimmen augenzwinkernd: "Macht nicht nur im Wasser eine gute Figur" (Bildunterschrift 2021).7 Eine andere Facette der Faszination löst der "Prothesen-Sprinter Johannes Floors" aus: Er darf sich nach seinem Olympiasieg "schnellster Mann ohne Beine"8 nennen. Auch Tina Deeken, die "Behindertensportlerin des Jahres 2023", möchte anderen Mut machen. Die Lehrerin betreibt das Eisschwimmen, eine Extremsportart, bei der im Wettkampf das Wasser unter fünf Grad kalt ist. Kein ungefährliches Unterfangen für Herz und Kreislauf, weshalb die Schwimmer und Schwimmerinnen immer mit einer Rettungsboje um den Körper unterwegs sein sollten. Bei der Para-Weltmeisterschaft gewann Deeken sieben Titel und kam in das Guinness-Buch der Rekorde als schnellste beeinträchtigte Eisschwimmerin der Welt.9 Welche allgemein ermutigende Wirkung für die Inklusion diese Leistung haben soll, bei der sich nicht wenige verstohlen an die Stirn tippen werden, sei dahingestellt. Die Bewunderung für Höchstleistungen übersieht die Tendenz, dass Menschen mit schweren Beeinträchtigungen bei der Inklusion nicht mitgedacht werden. Und ausgeblendet wird gern, dass die zu Recht beachteten Paralympics Sonderveranstaltungen sind, die regelmäßig einige Wochen nach den traditionellen Olympischen Sommer- und Winterspielen stattfinden.[/i]

Aber ist das zu beobachtende gehäufte Auftreten behinderter Figuren im Film und in TV-Serien nicht ein Indiz für Inklusion? Über den Reiz der Darstellung von Gelähmten, Autisten oder Stotterern im Film sagt die (berechtigte) Hoffnung auf eine Oscar-Verleihung wenig aus. Schließlich drohen die Kitschgefahr und die manchmal peinlich anmutenden Versuche, einen Körper oder eine Seele mit Einschränkungen zu kopieren. Aber merkwürdigerweise ist das zahlreiche Erscheinen des Publikums im Kino garantiert, oft dieselben Leute, die ansonsten die Konventionen, die Ideale von Schönheit und Gesundheit hochhalten. Ein Versuch der Erklärung für das Phänomen besagt, dass die Narren oder Gelähmten die ultimativen Außenseiter sind. Sie "passen nicht in die Gesellschaft. Sie stehen für das reine Menschsein", jenseits von Höflichkeit und Funktionieren. Weil "sie nicht wie gefordert ticken, werden sie mit ihrem Tick zur Sehnsuchtsfigur für uns, die wir auch gerne mal nicht wie verlangt funktionieren wollen."10 Erfolgreich laufen diese Filme, wenn am Schluss das happy-end steht: Der Spastiker bekommt die angehimmelte rothaarige Frau zur Partnerin, der komplett Gelähmte diktiert mit dem Augenlid seine Biographie oder der Stotterer wird britischer König. Irgendwie ist die Welt in Ordnung, denkt das Publikum, geht beruhigt nach Hause und verfolgt nach dem kurzen Ausflug in das Ungewöhnliche den gewohnten Trott.

Opferfalle

Auch an den als behindert geltenden Frauen und Männern gehen die Schönheitsnormen nicht vorbei. Die Sozialwissenschaftlerin Susan Wendell meint, wir "idealisieren den menschlichen Körper. Unsere physischen Ideale ändern sich von Zeit zu Zeit, aber wir haben immer Ideale. Diese Ideale drehen sich nicht nur um Erscheinungsbilder; sie sind auch Ideale von Stärke und Energie und adäquater Kontrolle des Körpers." Dabei können einige Personen "die Illusion von Akzeptanz haben, die davon kommt zu glauben, dass ihre Körper nahe genug am Ideal sind, aber diese Illusion bringt sie nur weiter dazu, sich mit diesem Ideal zu identifizieren, sowie auch die endlose Aufgabe, die Wirklichkeit damit abzugleichen. Früher oder später müssen sie scheitern." Wendell ergänzt: "Behinderte Personen können auch an unserer eigenen Marginalisierung teilhaben. Wir können uns Körper wünschen, die wir nicht haben, mit Frustration, Scham, Selbsthass. Wir können uns so fühlen als wären wir eingesperrt in einem negativen Körper; es ist unsere internalisierte Unterdrückung, so zu fühlen."11

Diese Sätze sind ein Hinweis auf das Rätsel, warum sich wenig Frauen und Männer aktiv für die Inklusion einsetzen. Die große Mehrheit derjenigen, die das Etikett "behindert" tragen, begnügen sich mit stillem Abwarten. Dieses Verharren ist eingeübt. Denn die übliche historische Betrachtung behinderter Menschen sieht in ihnen nur Opfer: Kinder, Frauen und Männer mit ungewöhnlichem Äußeren, unbekannten Verhaltensweisen oder mit Einschränkungen der Lernfähigkeit wurden versteckt, verhöhnt, verspottet, verteufelt, in spezielle Institutionen verbracht, ruhiggestellt, zwangssterilisiert und getötet. Diese Behandlungsformen reduzier(t)en behinderte Personen in der Wahrnehmung zu Objekten von Entwürdigung und Misshandlung. Auch die emanzipatorische Behindertenbewegung hat diese Sichtweise gestützt, um im Gegenzug auf Respekt und Anerkennung zu pochen.

Aber obwohl die unbestreitbaren Fakten ihrer Ausgrenzung und Erniedrigung das Opferbild stärken, stellt sich die Frage, warum es an Gegenbildern mangelt. Eine Geschichtsschreibung über die "widerspenstigen Behinderten" existiert nicht. Ein Grund für diese Leerstelle könnte darin liegen, dass, wenn Personen in der historischen Betrachtung für ihre künstlerischen, literarischen, philosophischen, politischen oder unternehmerischen Qualitäten gewürdigt werden, die vorhandene Behinderung im Rückblick keine Rolle mehr spielt und unerwähnt bleibt. Zu hinterfragen wäre auch, ob manche Opferbilder stimmig sind und nicht auch gegenteilige Interpretationen zulässig sind, ohne in falsche Heroisierung zu verfallen. Denn denkbar ist, dass beides zutrifft: Den Verhältnissen zu trotzen und ihnen dennoch phasenweise oder gänzlich zu erliegen. Den historisch gefestigten Blick auf Behinderung zu hinterfragen bedeutet, die üblichen Denkweisen anzuzweifeln. Wesentlich im Sinne einer anderen Wahrnehmung wäre, ob Personen sich im Bewusstsein der Einschränkung als Subjekt entsprechend den eigenen Möglichkeiten präsentieren. Es kann heißen, einengenden Verhältnissen durch Witz und Ironie zu trotzen. Oder: Einfach zu überleben.

Der Fokus auf das Opferbild produziert historische Darstellungen, die nicht den ganzen Menschen mit seinen verschiedenen Facetten wahrnimmt - den angenehmen und den unangenehmen. Das behinderte "Opfer" ist im historischen Rückblick Objekt gesellschaftlicher Prozesse oder eine Person, der übel mitgespielt wurde. Die andere Seite ihrer Existenz findet sich in den Stadtchroniken, Aufsätzen und Büchern lediglich zwischen den Zeilen oder als Nebenbemerkung. Es bedarf eines anderen Blickes, um diese zweite Sichtweise herauszulesen. Die Reduzierung auf das Tragische nimmt nicht die ganze Person wahr (und die kann als solche nicht agieren). Es gibt Mitleid und Mitleid, schreibt der italienische Autor Daniele Giglioli. Bedeutend sei, "was diese Rahmung den Opfern selbst antut." Sie stigmatisiert sie und beraubt sie "gänzlich oder zum Teil ihrer Biografie und ihrer kulturellen Bezüge". In dieser Konstellation würde die Vergangenheit die Zukunft fesseln. Was bleibt, ist das Recht auf Hilfe - wobei auch die den Opferstatus festigen kann. Auf "das heruntergeschrumpft", haben sie "zwar Tränen", aber "keine Argumente". Ihre Stimme dient dazu, sich zu bedauern und nicht "dazu, sich über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu verständigen". Ihre "Wahrheit liegt im Blick der Anderen, der Gnädigen, der Mitleidigen."12 Auf der Basis einer solchen Selbstwahrnehmung kann Inklusion im Sinne eines möglichst gleichberechtigten Miteinanders nicht gelingen. Auch die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung der Menschen mit einer Beeinträchtigung hat noch einen weiten Weg vor sich.

Anmerkungen

1) Zit. in Karl Brunner 2015: Was ist Schönheit? Anmerkungen über Ästhetik und Augenblick, Wien, Hamburg: 51f.

2) Vgl. Volker Wasmuth 2021: Body Positivity - Das neue Bild vom eigenen Körper: Dokumentarfilm, ZDF/3SAT vom 2.Dezember 2021.

3) Vgl. Heike Ehrig / Doris Krumpholz 2022: Ressourcen von beruflich erfolgreichen Frauen, Münster/New York: 25f.

4) Zit. in Nicola Meier 2020: "Vielleicht doch kein so schlechtes Spielzeug?", in: Die Zeit vom 9.Juli 2020.

5) Vgl. ebd.

6) https://www.ossur.com/de-de (Abruf am 14.12.2022).

7) Frankfurter Rundschau vom 6.September 2021, Nr.206, Sport: 7.

8) Ebd.

9) Vgl. Werner Nording 2023: "Eiskalte Leidenschaft", in: Frankfurter Rundschau vom 9.März 2023.

10) Jörg Lau 2011: "And the winner is - der Behinderte", in: Die Zeit, Nr.64, 24.Februar 2011.

11) Zit. in Katta Spiel 2023: "Transreal Tracing. Queerfeministische Spekulationen zu Behinderung und Technologie", in: Nadine Glade / Christiane Schnell (Hg.): Perfekte Körper, perfektes Leben? Selbstoptimierung aus der Perspektive von Geschlecht und Behinderung, Bielefeld: 71ff.

12) Daniele Giglioli 2016: Die Opferfalle. Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt , Berlin: 19f.

Udo Sierck ist Behindertenaktivist, Diplom-Bibliothekar und freier Autor. Er war langjähriges Redaktionsmitglied der Krüppelzeitung  und hat Lehraufträge an der Katholischen Hochschule Münster. Seine aktuelle Publikation: "Körperkult und Behinderung. Eine Geschichte zwischen Erniedrigung und Faszination."