Kunst im Kapitalozän

Intervenieren statt Repräsentieren: Über die Rolle der extraktivistischen Kunst inmitten der Klimakatastrophe und über die Fragwürdigkeit, mit ihr weiterzumachen wie bisher. 


Ihre Hand erhebt sich aus dem aufgewühlten Meer. Dunkle Augen fixieren den tiefblauen Himmel. Sie ertrinkt, statt zu winken. Das Wasser drückt das Leben aus ihren Lungen, aber sie will einfach nur am Leben sein, sie hustet und windet sich. Sie ist so weit gereist, um hierher zu kommen. Ihre Heimat brennt, ihr Land wurde gestohlen, das Klima ist zusammengebrochen, Dürren haben Hunger gebracht, die Felder werden zu Wüsten, die Kriege hören nie auf, und sie ist auf der Suche nach Leben, das ist alles. Aber die Festung Europa hat dafür gesorgt, dass sie niemals die Touristenstrände mit ihren gebräunten Körpern und dem süßen Duft von Sonnencreme erreicht. Ihr dunkler Körper wird erst Tage später an den goldenen Sand gespült, wenn die Tourist*innen in ihre Hotels zurckgekehrt sind und die Gezeiten es leid sind, mit ihm zu spielen. Die Fernsehbilder von den überfüllten Booten und den ertrunkenen Kindern haben dich bewegt. Du bist bewegt, ein Werk zu schaffen, das davon handelt, wie die europäische Migrationspolitik die Flüchtenden tötet. Du bedeckst die Säulen eines Theaters mit Tausenden von orangefarbenen Schwimmwesten. Du bist der Künstler Ai Weiwei.
Auf die Frage, warum du das Vogelnest-Olympiastadion in Peking für die chinesische Regierung mitgestaltet hast, die deine Arbeit wiederholt unterdrückt und zensiert hat, antwortest du, weil Du „Design liebst“. Du bist die Architektin Zaha Hadid.
In der Arktis ist es zeitweise 20 Grad Celsius wärmer als es zu dieser Jahreszeit sein sollte. Das Eis schmilzt so schnell. Was normalerweise in einer langen, langsamen geologischen Zeitspanne geschieht, geschieht in dem Zeitraum deines Lebens. Das Wasser steigt, und viele der Klimakipppunkte sind überschritten. Du hast das Gefühl, dass du etwas tun musst. Du lässt Hunderte Tonnen von arktischem Eis, das vom Schelfeis abgebrochen ist, während des Klimagipfels der Vereinten Nationen 2015 nach Paris transportieren. Du lässt es auf der Straße schmelzen. Du bist der Künstler Olafur Eliasson.


Sie sind Künstler*innen und arbeiten im Kapitalozän, einer Epoche, die von einem System geprägt ist, das in seiner Besessenheit von grenzenlosem Wachstum die Wirtschaft immer über das Leben stellt und die Lebenden in seine globalisierten Kapitalkreisläufe hineinzieht, die sich immer weiter ausdehnen und immer mehr Welten verschlingen. Einige Biolog*innen bezeichnen die Menschen als „Zukunftsfresser*innen“. Aber die Schuld auf den Menschen zu schieben, hieße, die wahren Schuldigen davonkommen zu lassen: Nur 20 % der Menschheit verbrauchen 80 % der weltweiten Ressourcen. Ein offizielles Strategiepapier der Europäischen Kommission schloss kürzlich mit der Warnung, dass bei einer Erwärmung um mehr als 1,5 Grad „noch mehr Dürren, Überschwemmungen, extreme Hitze und Armut für Hunderte von Millionen Menschen zu erwarten sind; der wahrscheinliche Untergang der am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen – und im schlimmsten Fall das Aussterben der Menschheit insgesamt.“ Diejenigen, die am wenigsten für die klimaschädlichen Emissionen verantwortlich sind, sind am stärksten davon betroffen.

Wir leben in einem Krieg gegen die Armen. Wir leben in einer Zeit, in der es einfacher ist, sich den Zusammenbruch des Lebens, wie wir es kennen, vorzustellen, als die richtigen Wege des Zusammenlebens neu zu erfinden. Wir leben an einer Epochenschwelle. Kein/e Künstler*in oder Aktivist*in hat jemals in einem solchen Moment der Geschichte arbeiten müssen, und doch kehrt unsere Kultur dem Leben weiterhin den Rücken. Business as usual ist an der Tagesordnung, vor allem in den Museen und Theatern der Metropolen. Wir können es extraktivistische Kunst nennen. Der Extraktivismus nimmt die „Natur“, die Dinge, das Material von irgendwoher und verwandelt es in etwas, das an anderer Stelle Wert schafft. Dieser Wert ist immer wichtiger als der Fortbestand des Lebens der Gemeinschaften, aus denen der Reichtum gewonnen wird. Viele Künstler*innen machen Karriere, indem sie den Wert aus Katastrophen, Rebellion, Animismus, Magie, oder was auch immer gerade in Mode ist, heraussaugen und ihn anderswo in losgelöste Objekte oder Erfahrungen umwandeln. Eigentlich überall, solange die Codes der Welt der Kunst funktionieren.
Wenn in deinem Künstler*innen-Lebenslauf steht, dass du in Kapstadt, Dubai, Shanghai und Prag ausgestellt hast und zwischen Berlin und New York lebst, bist du wertvoll. Wenn aber in deiner Bio steht, dass du in dem Dorf arbeitest, in dem du dein ganzes Leben lang gelebt hast, dass du die Menschen und Mehr-als-Menschen kennst, die dein Territorium mitbewohnen, und dass deine Arbeit das lokale Leben fördert, dann ist deine Karriere im Eimer. Im Kapitalismus ist Mobilität immer wertvoller als das Kennenlernen und die Aufmerksamkeit für einen Ort. Wir werden davon abgehalten, uns an irgendetwas oder irgendwohin zu binden, außer vielleicht an unsere Karrieren oder an unsere hochtrabende Rhetorik und abgehobenen radikalen Theorien. Worte und Ideen, die selten Konsequenzen haben und sich selten in Weltveränderung übersetzen. Es ist gefährlich, sich an etwas Materielles und Relationales zu binden, denn das bedeutet, möglicherweise dafür kämpfen zu müssen, um es zu verteidigen.

Das Intergovernmental Panel on Climate Change, die UN-Klimaforscher*innen, die nicht gerade für ihren revolutionären Geist bekannt sind, schrieben 2018, dass uns, wenn wir das Schlimmste der Katastrophe vermeiden wollen, noch zwäölf Jahre für „schnelle, weitreichende und beispiellose Veränderungen in allen Aspekten der Gesellschaft“ bleiben. Wir müssen so viel von unserer Existenz revolutionieren, und zwar schnell. Dazu gehört auch die Kunst, die viel zu lange als der eigentliche Maßstab (ground zero) dessen angesehen wurde, was es bedeutet, „zivilisiert“ oder gar menschlich zu sein.

Die Kunst, wie wir sie kennen, ist eine Erfindung. Sie wurde von den weißen europäischen Kolonialmetropolen erfunden und ist erst etwas mehr als zweihundert Jahre alt. Sie entstand Hand in Hand mit den Anfängen des Industriekapitalismus und beruhte auf denselben philosophischen Mythen, die den Extraktivismus überall ermöglichten: den toxischen Dualismen zwischen Natur und Kultur, Geist und Körper, Individuum und Gemeinsinn, Kunst und Leben. Die Kunst, wie wir sie kennen, war nur eine weitere Waffe der Trennung, um die Armen, die Landbevölkerung, die Handwerker*innen und die populare Kultur aller Schattierungen von den ruhigen, kontemplativen Räumen der aufstrebenden, großstädtischen Geldklasse auszuschließen. Mit ihrem Kult des individuellen Genies, der in die ganze Welt exportiert wurde, um allen die große Überlegenheit der weißen europäischen Vorstellungskraft zu vermitteln, wurde die Kunst, wie wir sie kennen, zum Höhepunkt der Menschheit erklärt.

Zwei Jahrhunderte später sind viele immer noch in der Falle der Kunst, wie wir sie kennen, gefangen, die die Welt abbildet, anstatt sie zu verändern. Sie zeigen uns die Krisen, anstatt wirklich zu versuchen, sie zu stoppen oder Lösungen zu schaffen. Warum eine Installation über Refugees machen, die an der Grenze festsitzen, wenn man auch Werkzeuge zum Durchtrennen von Zäunen entwerfen könnte? Warum einen Film über die Diktatur der Finanzmärkte drehen, wenn man neue Wege des geldlosen Austauschs erfinden könnte? Warum ein Stück schreiben, das vom Neo-Animismus inspiriert ist, wenn man die Dramaturgie von Gemeinschaftsritualen mitentwickeln könnte? Warum eine Performance über die Stille nach dem Aussterben der Singvögel machen, wenn man raffinierte Wege zur Sabotage der Pestizidfabriken, die sie ausrotten, mitentwickeln könnte? Warum ein Tanzstück über Lebensmittelunruhen machen, wenn man mit seinen Fähigkeiten auch Choreographien zur Störung faschistischer Kundgebungen gestalten könnte? Warum mit der Kunst, wie wir sie kennen, weitermachen, wenn du aus dieser Nero-Kultur desertieren könntest, die fiedelt, während sie zusieht, wie unsere Welt brennt?




Dieser Text ist ein Auszug aus We Are ‘Nature' Defending Itself: Entangling Art, Activism & Autonomous Zones. London: Pluto Press 2021. Aus dem Englischen übersetzt von Jens Kastner.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 66, Sommer 2023, „climate justice“.

Isabelle Fremeaux und Jay Jordan sind Künstler*innen, Aktivist*innen, Pädagog*innen, Autor*innen und Mitinitiator*nnen des Laboratory of Insurrectionary Imagination. Sie leben auf dem Zad von Notre-Dame-des-Landes, wo 2018 ein langer Kampf gegen ein neues Flughafenprojekt gewonnen wurde.