MEMORANDUM 2002

Blauer Brief für falsche Wirtschaftspolitik - Kurswechsel für Arbeit und Gerechtigkeit

Im Frühjahr des Jahres 2002 gibt es erstmals seit vier Jahren wieder mehr als vier Millionen registrierte Arbeitslose. Wie vor vier Jahren werden auch in diesem Jahr rund 7 Millionen Arbeitsplätze fehlen. Die Lage der Arbeitslosen, der RentnerInnen und der Armen hat sich in den letzten Jahren verschlechtert, und die Verteilung von Einkommen und Vermögen ist ungleicher geworden.

Nachdem der konjunkturelle Aufschwung, der die ersten Jahre der rot-grünen Bundesregierung begleitet hatte, im vergangenen Jahr zu Ende und in eine Rezession übergegangen ist, wird das Elend einer Politik offenbar, die unter dem Slogan "Arbeit und Gerechtigkeit" angetreten war, im Verlaufe von mehr als drei Jahren aber weder für das eine noch für das andere Ziel wirksame Maßnahmen ergriffen hat. Nach ersten zaghaften Ansätzen zur Korrektur der unsozialen Politik der Vorgängerregierung hat sie vielmehr den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit an ein konzeptions- und einflussloses "Bündnis für Arbeit" delegiert und in Sachen sozialer Gerechtigkeit eine weitgehende Kehrtwendung vollzogen. Sie hat ihre Steuerpolitik mehr und mehr auf die Begünstigung der Unternehmen konzentriert und ihre Haushaltspolitik statt auf Vollbeschäftigung auf den Abbau der Staatsschulden ausgerichtet. Die zu diesem Zweck aufgelegten Sparprogramme haben vor allem bei den Sozialausgaben eingeschlagen und die Lage der schwächsten Gruppen der Gesellschaft weiter verschlechtert. Die "Modernisierung des Sozialstaates", die die Regierung sich auf die Fahnen geschrieben hatte, bestand im Wesentlichen darin, unter dem Titel des "aktivierenden Sozialstaates" den disziplinierenden Druck auf Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen zu erhöhen und den Einstieg in die Privatisierung der Altersicherung und ihre Auslieferung an die großen Akteure auf den Finanzmärkten zu organisieren.

Auf diese Weise will die Bundesregierung offensichtlich auch weiter machen. Aus dem Debakel der Bundesanstalt für Arbeit zieht sie nicht die Konsequenz, dass der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nicht auf dem Feld der Arbeitsvermittlung gewonnen werden kann, sondern nur durch die Schaffung einer großen Zahl neuer Arbeitsplätze im Rahmen einer energischen Wirtschaftspolitik. Sie plant im Gegenteil - unter Nutzung des völlig unsinnigen Streites über den "Blauen Brief" aus Brüssel - ein neues Sparprogramm, das alle bisherigen Kürzungen in den Schatten stellen und insbesondere die Länder und Kommunen in den finanziellen Ruin treiben wird. Nach der Alterssicherung nimmt sie sich als nächstes das Gesundheitssystem vor, dass nun auch zu Lasten der PatientInnen in Richtung Privatisierung "modernisiert" werden soll. Bei der Rüstung und der Finanzierung von Militäreinsätzen ist sie demgegenüber zu neuen großen Ausgaben bereit.

I. Weder Beschäftigung noch Gerechtigkeit: Die Bilanz falscher Wirtschaftspolitik

Konjunktur: Konzeptionslos im Schlepptau der USA
Der Konjunktureinbruch im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung völlig unvorbereitet getroffen. Im Glauben an anhaltendes, gleichmäßiges und dazu noch inflationsfreies Wachstum, welches sich als Folge einer "New Economy" einstellen würde, hatte sie keine Vorkehrungen getroffen, um im Falle eines Abschwungs politisch gegensteuern zu können.

Mit dem Ende des US-Booms, der in den neunziger Jahren die entscheidende Stütze der Weltwirtschaft gewesen war, geriet auch Deutschland in eine Krise. Selbst nachdem der Abschwung längst eingesetzt hatte, hielt die Regierung an ihrer ursprünglichen Wachstumsprognose von 3 % für 2001 fest und kor-rigierte diesen Wert nur mit großer Verspätung sukzessive nach unten. Für eine expansive Nachfragepolitik sieht sie jedoch bis heute keinen Anlass.
Der Einbruch im Gefolge der Rezession in den USA machte zugleich deutlich, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland die ganzen neunziger Jahre hindurch von der Exportwirtschaft getragen worden war, sich ein auf die Binnennachfrage gegründeter Aufschwung also gar nicht herausgebildet hatte. Ein drastischer Rückgang der Exportzuwächse reichte aus, um eine Krise auszulösen.
Paradoxerweise wurde der Abschwung, der durch einen Einbruch der bis dahin bestehenden Exportdynamik angestoßen worden war, dadurch gemildert, dass der für die gesamt-wirtschaftliche Nachfrage relevante Außenbeitrag nicht zurückging, sondern noch leicht zunahm: Das Wachstum der Importe ist seit Beginn des Abschwungs nämlich noch stärker gefallen als das der Ausfuhren. Auch die Entwicklung des privaten Verbrauchs, dessen Wachstum sich allerdings schon im vergangenen Jahr gegenüber dem Vorjahr halbiert hatte, ist 2001 mit 1,3 % vergleichsweise stabil geblieben und hat einen noch weit stärkeren Absturz der Gesamtwirtschaft verhindert. Dies weist auf die zentrale Bedeutung dieser binnenwirtschaftlichen Größe hin, auf die mehr als die Hälfte der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage entfällt. Insgesamt hat sich so trotz real sinkender Produktion in den beiden letzten Quartalen für das gesamte Jahr 2001 noch ein leicht positives Wachstum von 0,6 % ergeben.

Obwohl sich das Vertrauen auf einen ungebrochenen Fortgang des US-Booms gerade erst als völlig falsch erwiesen hat, hofft die Regierung bereits wieder darauf, dass die USA als weltwirtschaftliche Konjunkturlokomotive die Wirtschaft auch in Deutschland aus dem Krisental ziehen möge. Diese Hoffnungen stehen jedoch auf schwachen Füßen. Die Überwindung der Rezession in den USA muss nämlich keineswegs zu einem starken Aufschwung in der EU oder Deutschland führen. Denn erstens ist ein Ende der Rezession nicht identisch mit einem starken Aufschwung in den USA, wo die Finanzmärkte auch nach dem Platzen der Spekulationsblase noch immer stark überbewertet sind. Zweitens bestehen nicht nur in den USA, sondern weltweit noch erhebliche Überkapazitäten. In Japan wird versucht, die seit gut einem Jahrzehnt anhaltende Stagnation durch Yen-Abwertungen und hierdurch angestoßene Exportsteigerungen zu überwinden. Gleichzeitig befinden sich die südostasiatischen Tigerstaaten am Rande oder sogar in einer Rezession. Auf die Yen-Abwertung werden sie möglicherweise ihrerseits mit Abwertungen reagieren, um Exportrückgänge zu vermeiden. Da die Region Ostasien ein gutes Fünftel der weltweiten Industrieproduktion repräsentiert, kann ein Abwertungswettlauf dort zu einer weltweiten Deflation führen, die bislang noch auf Japan beschränkt ist.

Beschäftigungspolitik: Fehlanzeige nicht nur bei der Arbeitsvermittlung

Die Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung ist kein Selbstzweck, sondern notwendig, um Beschäftigungseinbrüche in Konjunkturkrisen zu vermeiden. Darüber hinaus ist ein Abbau von Arbeitslosigkeit ohne wirtschaftliches Wachstum nur sehr schwer vorstellbar. Die Weigerung der Bundesregierung, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, ist in der gegenwärtigen Konjunkturkrise zwar besonders deutlich geworden, sie kennzeichnet aber ihre ganze Amtszeit und steht in besonders krassem Gegensatz zu dem im Wahlkampf verkündeten Slogan: "Arbeitslosigkeit kann man bekämpfen".

Das kurz nach der Regierungsübernahme gebildete "Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit" sollte zu einer Abstimmung von Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik führen, die ihrerseits ein stabiles Produktions- und Beschäftigungswachstum ohne nennenswerte Preisniveauerhöhungen ermöglichen sollte. Diese Form der Politikkoordination war zwar neu - erste Bündnisgespräche unter der konservativ-liberalen Regierung hatte Kanzler Kohl durch außerordentlich konfrontatives Auftreten platzen lassen. Die inhaltliche Ausrichtung der Politik an Haushaltskonsolidierung, Lohnzurückhaltung und Inflationsbekämpfung hat Rot-Grün von Schwarz-Gelb jedoch übernommen.

So diente das Bündnis für Arbeit - auch wenn das Thema Tarifpolitik niemals offiziell auf der Tagesordnung gestanden hat - in erster Linie dazu, die Gewerkschaften auf einen dauerhaften Kurs der Lohn"mäßigung" festzulegen, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die realen, teilweise sogar die nominalen Lohnsteigerungen hinter den Produktivitätszuwächsen zurückbleiben. Außerdem dürfte das "Bündnis für Arbeit" die Zustimmung zur (Teil-)Privatisierung der Rente nicht unwesentlich befördert haben. Die von den Gewerkschaften immer wieder eingeforderten "Gegenleistungen" in Form von Überstundenabbau, Investitionsausweitung und Schaffung neuer Arbeitsplätze wurden vom Unternehmerlager allerdings nicht erbracht. Sie sind auch nicht ernsthaft zu erwarten gewesen.

Arbeitsplatzmangel ist durch die politische "Bearbeitung" der Arbeitslosen nicht zu beheben, sondern nur durch Wachstum des nachgefragten Arbeitsvolumens und eine Umverteilung dieser Arbeitsmenge auf mehr Köpfe, also Arbeitszeitverkürzung. Dass diese Tatsache übersehen oder geleugnet wird, ist der entscheidende Hintergrund für die mangelnde Effizienz der Bundesanstalt für Arbeit, die jüngst zum Gegenstand massiver Kritik geworden ist. Es gibt Hinweise darauf, dass diese Behörde wenig effizient arbeitet und ihre Vermittlungszahlen schönt. Grundsätzlich falsch ist jedoch die Annahme, eine Effizienzsteigerung in der Bundesanstalt und mehr Korrektheit in der Dokumentation ihrer Arbeit würde einen Arbeitsmarkt schaffen, auf dem sich - ganz im Sinne einfacher Lehrbuchmodelle - jedes Angebot seine eigene Nachfrage schafft. Umgekehrt: Der wenig durchschaubare und ineffiziente Bürokratismus in der Arbeitsverwaltung ist die Folge fehlender Arbeitsplätze: Wie sollen MitarbeiterInnen der Bundesanstalt und TeilnehmerInnen an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen motiviert werden, wenn sie genau wissen, dass auch die x-te Qualifizierungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nicht den Weg in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis eröffnen wird? Und welche andere Möglichkeit als die Schönung von Zahlen gibt es, wenn Parteien und Regierung arbeitsmarkt-politische Erfolge erwarten, die angesichts fehlender Arbeitsplätze nicht zu erzielen sind?

Das von der rot-grünen Bundesregierung zur Abgrenzung von der eigenen politischen Vergangenheit wie auch von ihrer konservativ-liberalen Vorgängerin ins Spiel gebrachte Konzept des "aktivierenden Sozialstaates" zeigt besonders deutlich, wo die Ursachen von Arbeitslosigkeit und Ansatzpunkte zu deren Überwindung gesehen werden.
Die gleichermaßen skandalöse wie triste Tatsache, dass in Deutschland fast sieben Millionen Arbeitsplätze fehlen, kommt in diesem Konzept nicht vor. Daher wird auch eine Politik zur Erhöhung der Arbeitsnachfrage für un-nötig erachtet. Aus Sicht der Regierung hat Arbeitslosigkeit ihre Ursachen vielmehr darin, dass Arbeitskräfte für die vorhandenen Arbeitsplätze falsch oder unzureichend qualifiziert sind oder - in Folge generöser Sozialleistungen - nicht bereit sind, angebotene Arbeit anzunehmen. Insbesondere um letzteres zu ändern, hat die Regierung die Politik des "Förderns und Forderns" durch den aktivierenden Sozialstaat entwickelt. Dabei wird die Fortführung bekannter Formen der Arbeitsmarktpolitik mit Leistungskürzungen sowie einer Verschärfung der Zugangsvoraussetzungen verknüpft, um einen "Anreiz zur Arbeitsaufnahme" zu schaffen.

Solidarische Rentenversicherung:

Einstieg in den Ausstieg

Eine grundlegende Abkehr vom System der umlagefinanzierten Sozialversicherung hat die rot-grüne Regierung mit der (Teil-)Privatisierung der Rente vollzogen. Diese wurde damit begründet, dass die paritätisch finanzierte gesetzliche Alterssicherung wegen der Überalterung der Bevölkerung nicht dauerhaft in der Lage sei, den Lebensstandard von ArbeitnehmerInnen im Alter zu gewährleisten. Abgesehen davon, dass sich für diese Behauptung keine überzeugenden Argumente anführen lassen, sind mit dem Kapitaldeckungsverfahren, das nunmehr zumindest teilweise eingeführt worden ist, zwei entscheidende Probleme verbunden:

Erstens sieht die Riester-Rente nicht nur eine Absenkung des Versorgungsniveaus der gesetzlichen Rente gegenüber dem früheren System vor, sondern macht die Erreichung der angestrebten Rentenhöhe auch noch von der Kursentwicklung internationaler Finanzmärkte abhängig.

Zweitens erfordert der Aufbau eines Kapitalstocks eine andere Form der Einkommensverwendung als dies beim Umlageverfahren der Fall ist. Bei letzterem werden Teile des Bruttoeinkommens abhängig Beschäftigter - vermittelt über die Rentenversicherung - unmittelbar zu Renteneinkommen. Diese werden - wie jedes Einkommen - zwischen den Verwendungsarten Konsum und Ersparnis aufgeteilt. Da Rentner-Haushalte im Durchschnitt ein geringeres Einkommen beziehen als Erwerbstätigen-Haushalte ist mit dieser Art der Einkommensumlage eine leichte Senkung der gesamtwirtschaftlichen Sparquote und somit einer Erhöhung der Konsumnachfrage verbunden.

Das Kapitaldeckungsverfahren erfordert dagegen zunächst den Aufbau eines Kapitalstocks, d.h. eine Erhöhung der Ersparnis der Erwerbs-tätigen. Dadurch steigt das gesamtwirtschaftliche Kapitalangebot. Nun sind die vergangenen zwei Jahrzehnte aber weltweit - unabhängig von der Art der Alterssicherung in Deutschland - eher durch einen Angebotsüberschuss auf den Kapitalmärkten denn durch Kapitalmangel gekennzeichnet. Spült die Riester-Rente nun weitere Liquidität auf die Kapitalmärkte, mögen über die hiermit getätigten Wertpapierkäufe zwar deren Kurse steigen, ein beschleunigtes Wachstum des Anlagevermögens ist aber angesichts weltweiter Überkapazitäten - ein anderes Wort für Nachfragemangel - nicht zu erwarten. Eine solche Ausweitung der realwirtschaftlichen Investitionstätigkeit wäre aber erforderlich, um die Kapitalrenditen erwirtschaften zu können, aus denen Renten beim Kapitaldeckungsverfahren finanziert werden müssen.

Steuern: Die Wende zu mehr Ungerechtigkeit

Die anfangs durch die rot-grüne Bundesregierung propagierte Steuerreform stand durchaus auch unter dem Ziel, mehr Steuergerechtigkeit herzustellen und Steuerprivilegien massiv abzubauen, um die Einnahmenverluste durch die Senkung des Einkommen- und Körperschaftsteuertarif zu kompensieren. Die in drei Stufen durchgesetzte Reform der Einkommensteuer hat daher erhebliche Entlastungen für die Lohn- und Gehaltsbezieher gebracht (Erhöhung des Grundfreibetrags, Senkung des Eingangssteuersatzes). Dem steht allerdings gegenüber, dass im Laufe der Regierungszeit die Steuergeschenke an Unternehmen und Reiche noch sehr viel höher ausgefallen sind. Die massiven Proteste im Frühjahr 1999 vor allem von Seiten der Versicherungs- und Energiewirtschaft gegen den Abbau üppiger Steuerprivilegien haben wohl entscheidend zum Ausstieg aus einer Politik sozial gerechterer Verteilung der Steuerlast geführt. Zum einen wird der Steuersatz für die Spitzeneinkommen insgesamt von 52 % auf 42 % gesenkt. Zum anderen werden die Unternehmen durch die Reform der Körperschaftsteuer massiv entlastet. Kapitalgesellschaften erhalten durch die Ausschüttung bisher geparkter Gewinne vom Staat im Ausmaß des heute geltenden Steuersatzes von 25 % Steuerrückerstattungen. So erklärt sich, warum derzeit die Finanzämter mehr Körperschaftsteuer an die Unternehmen zurückbezahlen müssen als sie von diesen erhalten. Das größte Steuergeschenk wurde schließlich den inländischen Kapitalgesellschaften gemacht. Ab 2002 werden die Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalbeteiligungen im Inland nicht mehr versteuert. Das führt nicht nur beim Bund und den Ländern zu massiven Steuerverlusten. Auch die Kommunen verlieren über die Gewerbesteuer an Finanzkraft. Darüber hinaus sinken in den Bundesländern und Kommunen, in denen die Firmen sitzen, die UMTS-Lizenzen erworben haben, die Steuereinnahmen im Ausmaß ent-sprechender Abschreibungen. Diese Steuerreformen zugunsten der Unternehmen einerseits sowie die allgemeinen Verluste an Steuereinnahmen durch den Rückgang des Wirtschaftswachstums andererseits belasten die öffentlichen Haushalte massiv. Während sich in den Kommunen dringender Investitions- und Personalbedarf konzentriert, sehen sie sich durch gigantische Verluste bei den Steuereinnahmen zu einer prozyklischen Einsparpolitik gezwungen. Hiermit zeigt sich, dass die Steuergeschenke an die Wirtschaft nicht durch die Ausweitung von Sachinvestitionen und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen belohnt worden sind.

Ostdeutschland: Stagnation als Chefsache#

Die Wirtschaft Ostdeutschlands wird auch im zwölften Jahr nach der Vereinigung durch große Rückstände im gesamtwirtschaftlichen Leistungs- und Einkommensniveau, strukturelle Defizite, eine enorme Lücke zwischen Eigenleistung und Eigenverbrauch und eine daraus resultierende starke Abhängigkeit vom westdeutschen Finanztransfer ("Transferökonomie") charakterisiert. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) je EinwohnerIn ist gegenüber Westdeutschland um fast 40 Prozent geringer. Ostdeutschland liegt damit insgesamt noch immer unterhalb von 75 Prozent des EU-Durchschnitts und bildet die größte geschlossene EU-Krisenregion.

Das nominelle Einkommensniveau der ost-deutschen Bevölkerung ist ca. 30 % geringer als das der westdeutschen. Die Arbeitslosen- und ebenso die Unterbeschäftigungsquoten sind mehr als doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern. Faktisch stagniert der inner-deutsche Aufholprozess bereits seit 1996. Mittlerweile öffnet sich die Schere zwischen Ost und West sogar wieder. Es sind auch keine Anzeichen sichtbar, dass sich hieran in den nächsten Jahren grundlegend etwas verändern wird.
Ostdeutschland hat unter anderem eine viel zu schmale industrielle Basis und verfügt deshalb nicht über die Voraussetzungen, bei unveränderten Rahmenbedingungen das Leistungs- und Einkommensniveau Westdeutschlands zu erreichen.

Künftige Erfolge beim Aufholen Ostdeutschlands setzen voraus, dass die gesamtwirtschaftliche Politik der Bundesrepublik im Sinne der Vorschläge der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik verändert wird. Notwendig ist eine expansive Finanz-, Verteilungs- und Strukturpolitik, eine neue sozial-ökologischen Investitionswelle sowie eine höhere Dynamik der Masseneinkommensentwicklung.

Der Aufholprozess erfordert (1.) über einen längeren Zeitraum hohe externe Investitionszuflüsse in die Industrie und den Ausbau der FuE-Kapazitäten, (2.) eine höhere Qualität und Konzentration der Wirtschaftsförderung und eine zukunftsorientierte regionale Strukturpolitik sowie (3.) höhere Marktanteile ostdeutscher Unternehmen, insbesondere die Erhöhung überregionaler Exporte.

Wie internationale Erfahrungen belegen, fanden langfristig erfolgreiche Aufholprozesse immer nur in Regionen statt, die in langer Perspektive überdurchschnittlich günstige Verwertungsbedingungen für externe und interne Investoren boten und diese mittels einer selbst-ständigen, voll auf die Entwicklungsziele in der Region zielenden Wirtschaftspolitik massiv unterstützten. Diese Erfahrungen unterstreichen die große historische Verantwortung der Bundesregierung für den weiteren Aufbau Ost.

Die wieder ansteigenden Abwanderungsverluste sowie die in einigen Jahren drohende "demografischen Falle Ost" infolge des drastischen Geburtenrückgangs nach 1990 geben zu tiefer Beunruhigung Anlass. Die Überalterung nimmt schon ab 2010 und besonders ab 2030 weit stärker zu als in anderen EU-Regionen.

Die weiteren Entwicklungschancen Ostdeutschlands werden nach 2005 maßgeblich durch die externe Finanzierung ("Solidarpakt II") beeinflusst. Sie führt dazu, dass pro Jahr durchschnittlich höchstens 10,2 Mrd. EUR für Investitionen zur Verfügung stehen. Dies sind nur zwei Drittel des zur Zeit gezahlten Betrages. Zusätzlich ist vorgesehen, diese Zuweisungen ab 2008 rasch zu senken.
Von einer Angleichung an Westdeutschland in den gesamtwirtschaftlichen Leistungsindikatoren als mittelfristiges oder absehbar erreichbares Ziel für Ostdeutschland muss somit ohne eine Änderung der makroökonomischen Rahmenbedingungen realistischer Weise Abschied genommen werden.

II. Vorwärts in den Rückschritt:
Die Pläne der Bundesregierung

Sparprogramm

Seit ihrem Amtsantritt hat die Regierung das Ziel verfolgt, die jährliche Nettoneuverschuldung zu reduzieren und dadurch die Staatsschulden zu reduzieren. Diese Politik entsprach zum einen der Theorie, "übermäßige" öffentliche Defizite bzw. Schulden verringerten das Wirtschaftswachstum und stellten zudem eine Bereicherung jetzt lebender zu Lasten zukünftiger Generationen dar. Zum anderen stimmte sie mit den Vorgaben für die staatliche Haushaltspolitik überein, die im Stabilitäts- und Wachstumspakt des Amsterdamer EU-Vertrages von 1997 festgelegt sind. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat - wie andere KritikerInnen auch - schon vor der Verabschiedung dieses Paktes immer wieder darauf hingewiesen, dass eine solche Politik den zur Milderung von Konjunkturkri-sen und Überwindung von Wachstumsschwächen notwendigen Spielraum für ein kredit-finanzierte Ausgabenpolitik des Staates gefährlich einschränkt oder sogar beseitigt. Diese Kritik hat sich als berechtigt erwiesen.

Da mit einem Konjunkturabschwung rückläufige Steuereinnahmen verbunden sind oder zumindest der Zuwachs der Steuern geringer ausfällt als erwartet und zudem krisenbedingte Ausgaben steigen, kommt es mit dem Abschwung automatisch zu einem höheren Defizit, sofern die Ausgaben nicht gesenkt werden. Dieser expansive Effekt der automatischen Stabilisierung könnte durch Ausgabenerhöhungen über die ursprünglichen Pläne hinaus verstärkt, der Krise somit gegengesteuert werden.

Auf Grundlage dieser - in jedem Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre nachzulesenden - Überlegungen hätte der Stabilitätspakt in der Phase des Aufschwungs modifiziert oder durch einen entsprechenden Beschäftigungspakt ersetzt werden müssen. Diese Chance wurde vertan. Als die Konjunkturkrise - durch die Unternehmenssteuerreform noch verstärkt - zu Steuerausfällen und damit einer Erhöhung des laufenden Defizits führte, kam es statt dessen zu einer unsäglichen Diskussion darüber, ob Deutschland gemäß des Stabilitätspaktes eine Verwarnung bezüglich seiner Haushaltssituation bekommen sollte. Um diesen "Blauen Brief" zu vermeiden, hat die Bundesregierung der EU-Kommission ein ausgeglichenes Budget bereits für das Jahr 2004 und nicht - wie ursprünglich geplant - 2006 zugesagt.

Die Berechnungen für dieses neue Konsolidierungsprogramm unterstellen ein jährliches BIP-Wachstum von 2,5 %. Auch wenn die Konjunkturkrise in diesem Jahr überwunden wird, entbehren solche Wachstumserwartungen jedoch jeglicher Grundlage. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung erwartet beispielweise für dieses Jahr ein Wachstum von 0,6 % und 2,1 % in 2003. Angesichts solcher Prognosen ist die gegenüber der EU-Kommission abgegebene Zusage unverantwortlich. Da sie für jedermann absehbar nicht eingehalten werden kann, ist ein neuerlicher Konflikt zwischen Bundesregierung und Kommission vorprogrammiert. Und nicht nur das: Um den Haushaltsausgleich wenigstens annähernd zu erreichen, sind neuerliche Sparpakete geplant. Der bislang nur erhoffte, aber noch nicht ein-getretene und erst recht nicht gesicherte Konjunkturaufschwung kann hierdurch bereits im Ansatz zunichte gemacht werden.
Gesundheitspolitik:

Selektion statt Solidarität

Das bereits zur Rechtfertigung der (Teil-)Privatisierung der Rente bemühte Argument einer "Kostenexplosion" wird auch in der Gesundheitspolitik heran gezogen, um Leistungsabbau, die Einführung von Wettbewerbsmechanismen und Privatisierungen zu begründen.
Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass die Finanzierungsprobleme bei der Sozialversicherung weniger durch Kostensteigerungen als durch unzureichende Einnahmen verursacht sind. Diese haben sich als Folge anhaltender Massenarbeitslosigkeit einerseits und der Erhöhung des Anteils nicht-sozialversicherungspflichtig Beschäftigter andererseits ergeben. Dies gilt für die Renten- und Arbeitslosenversicherung ebenso wie für die Krankenversicherung. Bei dieser kommt allerdings als spezielles Problem hinzu, dass eine der ersten Amtshandlungen von Gesundheitsministerin Schmidt darin bestand, die Abschaffung des Arzneimittelbudgets anzukündigen. Diese Mitteilung hat der Volksgesundheit offensichtlich schweren Schaden zugefügt, jedenfalls kam es in der Folge zu einer drastischen Zunahme der Verordnungen, deren Kosten schließlich in Form höherer Krankenkassenbeiträge weiter-gegeben wurden.

Diese Kostensteigerungen werden nun in der Öffentlichkeit als ein neuerlicher Beleg für Ineffizienz und Nicht-Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenkassen ausgegeben. Verschwiegen und offenbar nur wenig wahr genommen wird jedoch, dass die gestiegenen Kosten der Versicherten gleichzeitig erhöhte Umsätze, Provisionen und Gewinne auf Seiten der Ärzte und Pharmaindustrie darstellen.

Der Verweis auf diese vorgebliche Ineffizienz wird vielmehr genutzt, um Privatisierungen im Gesundheitssystem durchzusetzen. Erste Ansätze dazu gibt es in Form privater Zuzahlungen und von Verkürzungen des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen schon länger. Ein entscheidenderer Schritt war jedoch die Einführung der freien Krankenkassenwahl. Damit wurde ein zentrales Prinzip privater Versicherungen, die Risikoselektion, d.h. das Anwerben von Versicherten mit guten Einkommen und geringen Gesundheitsrisiken, auf die gesetzliche Krankenversicherung übertragen. Kassen, die in der Risikoselektion besonders erfolgreich sind, haben die niedrigsten Beitragssätze und damit die besten Chancen im Kassenwettbewerb. Im Ergebnis wird es teure Kassen für die Kranken und billige für die Gesunden geben und das Solidaritätsprinzip gerät immer mehr ins Hintertreffen.
Eine Verschlechterung der Gesundheitsversorgung in der Zukunft ist zu erwarten, wenn die geplanten Privatisierungen im Krankenhauswesen stattfinden.

Abgesehen von den hierbei zu erwartenden Entlassungen und Schlechterstellungen der weiterhin Beschäftigten ist auch eine Absenkung des durchschnittlichen Versorgungsniveaus zu erwarten. Von den USA mit ihrem überwiegend über private Märkte organisierten Gesundheitssystem kann man lernen, dass ein hoher Umsatzanteil des Gesundheitssektors am Bruttoinlandsprodukt keineswegs mit einer verbesserten Gesundheitsversorgung einhergeht. Die USA sind unter den entwickelten Industrieländern nicht nur dasjenige mit dem - relative zum BIP - größten Gesundheitssektor, sie weisen gleichzeitig den höchsten Bevölkerungsanteil ohne jeglichen Zugang zu Leistungen einer Krankenversicherung auf.

Der bereits vollzogene Einstieg in die Privatisierung der Rente sowie die geplanten Veränderungen im Gesundheitssystem zeichnen sich dadurch aus, spezielle Kapitalfraktionen zu begünstigen, dabei aber sowohl eine Absenkung des sozialen Sicherungsniveaus als auch negative Effekte für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Kauf zu nehmen. Nimmt man medienwirksame Rettungsaktionen wie im Falle Holzmann, den Versuch, die Mannesmann-Übernahme durch Vodafone zu verhindern, sowie das Abblocken der Altautoverordnung hinzu, wird der Eindruck, die Bundesregierung betreibe eine Klientelpolitik zugunsten deutscher Großkonzerne, noch verstärkt.

Nun hat die Regierung nie Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie einer angebotsseitigen Stärkung des Produktionspotenzials den Vorrang vor einer koordinierten Geld- und Fiskalpolitik gibt, welche die gesamtwirtschaftliche Nachfragenentwicklung stabilisieren soll. Aber abgesehen davon, dass diese sich ausschließende Gegenüberstellung von Angebots- und Nachfragepolitik keinen Sinn macht und die Konjunkturentwicklung der nachfragepolitischen Abstinenz der Bundesregierung - sogenannte "Politik der ruhigen Hand" - ein vernichtendes Urteil ausgestellt hat, kann auch nicht einmal von einer konsistenten Angebotspolitik die Rede sein.

Diese hätte von einer klaren Vorstellung über die Richtung des wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandels auszugehen. Durch die Bereitstellung entsprechender Infrastruktur und ausreichender Mittel für Ausbildung, Forschung und Entwicklung würde dieser Strukturwandel gefördert. Dass Deutschland bei den notwendigen Ausgaben in den genannten Bereichen weit zurückfällt, ist seit Veröffentlichung der PISA-Studie nicht mehr nur einer Minderheit von Finanzexperten, sondern einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Während in den Medien der Jargon von Modernisierung und Innovationstätigkeit gepflegt wird, versucht die praktische Politik, die Position der traditionellen Leitindustrien - insbesondere Automobil und Chemie - zu verteidigen.

Neue Rüstung - Neuer Sozialabbau

Zu Beginn dieses Jahrhunderts ist der mit dem Ende des Kalten Krieges begonnene Prozess militärischer Abrüstung zu Ende gegangen. Insbesondere in den USA steigen, nicht erst seit den Terroranschlägen von New York aber seitdem deutlich schneller und in deutlich grö-ßerem Umfang, die Rüstungsausgaben. Die jüngsten Programme der Regierung Bush rei-chen an die historischen Steigerungsraten in der Reagan-Ära heran. Die Militärdoktrinen der USA und der Nato, aber auch der EU und der Bundesrepublik haben mittlerweile Kon-zeptionen für weltweite militärische Interven-tionen entwickelt, zu deren Zweck neben der Aufrechterhaltung auch die gewaltsame Her-stellung von Frieden und die Sicherung vitaler wirtschaftlicher Interessen gehören sollen. Die Erkenntnis, dass Kriege kein sinnvolles Mittel der Politik sein kann, wird damit von den Regierungen beiseite geschoben und durch zu-nehmende Aggressivität ersetzt, die militäri-sche Angriffe auch ohne völkerrechtliches Mandat zur Sicherung eigener Interessen nutzt.

Auch in Deutschland werden die Militärausgaben in den nächsten Jahren wieder steigen. Dies schlägt sich allerdings im Hauhalt des Verteidigungsministeriums (Einzelplan 14) noch nicht nieder, der im kommenden Jahr nach den Planungen des vergangenen Sommers noch einmal um 0,3 Mrd. EUR auf 23,6 Mrd. EUR zurückgehen soll. Seit Ende des kalten Krieges wären damit die Ausgaben des Einzelplanes 14 um rund 20 % gesunken. Dies ist zwar ein erheblicher Prozentsatz, andererseits angesichts der ausschließlichen Begründung von Militärausgaben vor 1990 mit der Notwendigkeit der Landesverteidigung ein völlig unzureichender Rückgang. Die tatsächlichen Militärausgaben liegen jedoch erheblich höher und werden in den nächsten Jahren deutlich steigen. Denn einerseits sind in den Zahlen des Einzelplan 14 die Sonderbelastungen aus dem Mazedonieneinsatz und die Mittel für die Beteiligung Deutschlands am Krieg in Afghanistan noch nicht eingerechnet, die sich auf rund 1 Mrd. EUR belaufen. Auch die vom Verteidigungsminister durchgepeitschte Beschaffung von 73 Militärtransportern, die nach Berechnungen des Bundesrechnungshofes über 23 Mrd. EUR kosten wird, ist in den bisherigen Ansätzen noch nicht berücksichtigt. In den nächsten Jahren dürfte der Haushalt des Verteidigungsministeriums daher deutlich höher ausfallen als aus der bisherigen Planung hervorgeht. Zum anderen wird auch ein erheblicher Teil der für militärische Zwecke anfallenden Kosten aus anderen Haushalten, vor allem dem des Auswärtigen Amtes und dem Titel "Allgemeine Finanzverwaltung" des Bundeshaushaltes finanziert.

Auch wirtschaftlich leitet die begonnene Trendwende bei den Rüstungsausgaben eine sehr schädliche Entwicklung ein. Sie kann nicht etwa als Programm zur Schaffung oder Sicherung von Arbeitsplätzen betrachtet werden. Denn sie findet nicht im Kontext einer allgemeinen Erhöhung der Staatsausgaben, sozusagen als rechtskeynesianisches Ankurbelungsprogramm für die Wirtschaft, sondern im Rahmen einer strikten Haushaltskonsolidierungspolitik statt, deren Kern die Streichung und Kürzung öffentlicher Ausgaben ist. Es muss ja auffallen, dass die Bundesregierung massive Sparprogramme durchgesetzt hat und neue Sparprogramme plant, dass sie aber immer, wenn es verlangt wurde, Geld für Militäreinsätze und neue Rüstungsausgaben hatte, und dies offensichtlich auch so bleiben soll. Unter derartigen Bedingungen werden zusätzliche Militärausgaben dadurch finanziert, dass an anderen Stellen gespart, gekürzt und gestrichen wird. Die Erfahrung zeigt, dass es sich hierbei hauptsächlich um die Sozialausgaben handelt. Ebenso ist bekannt, dass die Zahl der durch Sozialabbau vernichteten Arbeitsplätze erheblich größer ist als die der durch neue Rüstungsausgaben geschaffenen.

III. Alternativen:

Sofortprogramm für Beschäftigung

Öffentliches Investitionsprogramm

Eine entschlossene Finanzpolitik ist in der gegenwärtigen Situation unverzichtbar, um dem Wachstumsrückgang entgegenzuwirken und zum Abbau der Arbeitslosigkeit beizutragen. Aus diesem Grund sind weitere Defizite des Staatshaushalts hinzunehmen, auch wenn die nach dem Maastrichter Vertrag erlaubte Defizitquote von bis zu 3% zeitweise überschritten wird. Neben einer aktiven antizyklische Finanzpolitik ist ein öffentliches Investitionsprogramm erforderlich, um einen zur Überwindung der momentanen Rezession nötigen Wachstumsimpuls auszulösen. Im Zentrum steht die Stärkung der Binnennachfrage durch eine expansive Finanz-, Geld- und Lohnpolitik.

Der Rückgriff auf das Instrument der öffentlichen Investitionen ist schon deshalb unverzichtbar, weil sie in der Vergangenheit zum bevorzugten Objekt von Sparpolitikern geworden sind. Der dadurch erzeugte Rückgang der staatlichen Investitionsquote von 5 % am BIP in den 60er Jahren auf zuletzt 1,8 % (2001) hat zu Versäumnissen gerade auch bei der ökologischen Infrastruktur geführt. Um diese Entwicklung umzukehren, fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ein umfassendes Investitionsprogramm in einer Größenordnung von 75 Mrd. EUR pro Jahr mit folgenden Schwerpunkten: Ein Sonderprogramm Aufbau Ost zur Modernisierung und zum weiteren Ausbau der Infrastruktur in Ostdeutschland (20 Mrd. EUR), ein Investitionsprogramm Bildung und Kultur (15 Mrd. EUR) und ein öko-logisches Umbauprogramm (40 Mrd. EUR).
Zur langfristigen Finanzierung eines solchen Investitionsprogramms wurde bereits in den vergangenen Memoranden der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik darauf hingewiesen, dass durch eine alternative Steuerpolitik mittelfristig zusätzliche Staatseinnahmen mit einem Volumen von bis zu 120 Mrd. EUR erschlossen werden können. Instrumente zur Erhöhung der Steuereinnahmen, die dann für ein aktives Investitions- und Beschäftigungsprogramm zur Verfügung stünden, sind: Abschaffung des Ehegattensplittings, Wiedereinführung der Vermögensteuer, Erhebung einer Börsenumsatz-, einer Spekulations- und einer Wertschöpfungsteuer, Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und der Steuerhinterziehung und Mehreinnahmen aus einer reformierten Ökosteuer.

Arbeitsmarktpolitik

Die viel zu optimistischen Wachstums- und Beschäftigungsprognosen der rot-grünen Bundesregierung haben die Bedeutung der Arbeitsmarktpolitik im öffentlichen Bewusstsein in den Hintergrund treten lassen. Einsparungen in diesem Bereich waren bereits fest eingeplant. Vor dem Hintergrund der rezessiven Wirtschaftsentwicklung und der wieder die vier Millionengrenze übersteigenden Arbeitslosigkeit haben sich derartige Rechnungen endgültig als Wunschdenken entpuppt. Um dennoch Einsparungen realisieren zu können, setzen sich auch in den Regierungsparteien immer mehr diejenigen Stimmen durch, die den Arbeitslosen die Schuld an ihrer Erwerbslosigkeit zuweisen. Die geplante Kürzung der Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik soll nun offensichtlich auf diesem Wege legitimiert werden, da ein Rückgang aufgrund geringerer Arbeitslosigkeit nicht mehr in Sicht ist. Gerade angesichts der Tatsache, dass die Bundesregierung bislang über eine verbale Bekämpfung der Arbeitslosigkeit kaum hinausgekommen ist, darf den Opfern - also den arbeitslos Ge-wordenen und den arbeitslos Gebliebenen - nicht auch noch die Chance für eine Reintegration in den Arbeitsmarkt genommen werden. Statt Kürzungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik fordern wir daher eine Ausweitung der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die u.a. der Qualifizierung dient. Hierfür sollen jährlich zusätzlich 13 Mrd. EUR zur Verfügung gestellt werden.

Öffentlicher Beschäftigungssektor

Da es angesichts einer Beschäftigungslücke von bereits wieder knapp 7 Millionen Arbeitsplätzen im Jahr 2001 völlig ausgeschlossen ist, allein über eine aktive Arbeitsmarktpolitik die Folgeprobleme der Massenarbeitslosigkeit in überschaubarer Zeit nachhaltig zu beseitigen, sind für besonders benachteiligte Gruppen, insbesondere die Langzeitarbeitslosen, Maßnahmen zu treffen, die ihnen einen Ausweg aus dem Teufelskreis von ABM - Arbeitslosigkeit - ABM - Arbeitslosigkeit usw. ermöglichen. Aus diesem Grunde fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik seit langem die Einführung eines Öffentlichen Beschäftigungssektors (ÖBS), der sich dadurch von den Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik unterscheidet, dass er längerfristige Beschäftigungsverhältnisse sichern soll. Er beruht auf der Überlegung, dass es genug Arbeit u.a. im sozialen, kulturellen und ökologischen Bereich gibt, die aber über Marktmechanismen nicht hinreichend erschlossen werden kann. Diese Projekte des ÖBS gehen dabei von den auf regionaler Ebene festgestellten Bedarfen an bislang nicht zur Verfügung gestellten öffentlichen Leistungen aus, die durch mittelfristig angelegte Planungen abgedeckt werden und auf diese Weise unmittelbar das Angebot an Arbeitsplätzen erweitern. Für diesen Zweck sollen jährlich 30 Mrd. EUR zur Verfügung gestellt werden.

Arbeitszeitverkürzung

Modellrechnungen zeigen, dass wegen der seit den 90er Jahren wieder steigenden Zuwachsraten der Arbeitsproduktivität die Beschäftigungswirkungen des Wirtschaftswachstums nachlassen. Deshalb gehört zu einer Politik, die die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ernst nimmt, auch eine weitere Verkürzung der Arbeitszeit. Perspektivisch fordern wir eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden pro Woche. Diese Arbeitszeitverkürzung soll weit-gehend mit vollem Lohnausgleich realisiert werden. Dabei können in bestimmten Fällen befristete Lohnsubventionen gerechtfertigt sein, um eine sonst nicht zustande kommende Reduzierung individueller Arbeitszeiten zu ermöglichen. Hierfür schlagen wir einen jährlichen Betrag von 5 Mrd. EUR vor.

Als wichtige Schritte auf dem Weg zu einem Normalarbeitsverhältnis mit sehr viel kürzeren Arbeitszeiten für alle befürworten wir ferner eine Strategie zur Ausweitung der Teilzeitarbeit. Gerade für Familien, in denen das Einkommen nicht mehr wie noch im alten Normalarbeitsverhältnis vom (männlichen) Alleinernährer aufgebracht werden muss, kann Teilzeit für beide Partner attraktiv sein, da auf diese Weise mehr Zeit für die Familie nicht mit sinkendem Familieneinkommen verbunden ist. Das Anfang 2001 in Kraft getretene Teilzeitgesetz, das jedem - unter gewissen Bedingungen - grundsätzlich das Recht auf Verkürzung der Wochenarbeitszeit einräumt, ist hierzu ein wichtiger Schritt. Damit Teilzeit eine größere Bedeutung erlangt, sollte die Ausweitung von - sozial vor allem im Hinblick auf die späteren Renten gut abgesicherten - Teilzeitarbeitsplätzen wesentlich stärker als bisher Gegenstand von Gemeinschaftsinitiativen der Tarifpartner werden.

Neben weiteren Schritten hinsichtlich Arbeitszeitverkürzung und Teilzeitarbeit stellt der Abbau von Überstunden einen unmittelbar durchsetzbaren und wirksamen Schritt zur besseren Verteilung des Arbeitsvolumens dar. Obwohl dies auch von der Politik grundsätzlich als Problem anerkannt wird, bewegen sich die Überstunden unverändert auf hohem Niveau. In einzelnen Betriebszweigen haben sich die Überstunden zwischenzeitlich zur Normalität entwickelt, so dass sie schon lange nicht mehr nur zur zyklischen Abdeckung von Produktionsspitzen dienen. Nach verschiedenen Studien und Schätzungen könnten Überstunden in einem Umfang abgebaut werden, dass 500.000 bis 600.000 Neueinstellungen notwendig werden.

Arbeitsmarktpolitisches Sofortprogramm

Investitionsprogramme im Rahmen einer aktiven Beschäftigungspolitik wie oben skizziert werden immer erst mit einer gewissen Verzögerung tatsächlich wirksam, denn Investitionen in die Infrastruktur erfordern längere Zeiträume zur Umsetzung.

Angesichts der derzeitigen dramatischen Lage am Arbeitsmarkt schlägt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik daher vor, vorhandene Instrumente zu nutzen und ein schnell wirksames, arbeitsmarktpolitisches Programm aufzulegen, das als erster Schritt zu einer deutlichen Entlastung des Arbeitsmarktes führt. Dabei handelt es sich nicht um "Strohfeuer" oder um den Versuch, Arbeitslose zwecks Bereinigung der Statistik in hastig eingerichtete "Wahl-ABM" abzuschieben. Es wird vielmehr vorgeschlagen, mit zwei Programmbestandteilen vor Ort an Problemen der Kommunen anzusetzen, um mittels längerfristig angelegter arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen Defizite in der kommunalen Daseinsvorsorge und der Infrastruktur nachhaltig zu vermindern.

Erstens soll ein kommunales Strukturentwicklungsprogramm aufgelegt werden, das Kommunen Mittel zur Kofinanzierung arbeits-marktpolitischer beschäftigungsschaffender Maßnahmen zur Verfügung stellt. Zweitens soll die Einrichtung gemeinwohlorientierter Projekte ermöglicht werden, die speziell mit über 55-jährigen Arbeitslosen kontinuierlich über 5 Jahre bestehen können.

Kommunales Strukturentwicklungsprogramm

Die Kommunen sind durch die Steuersenkungen sowie die Sparpolitik des Bundes am stärksten betroffen. Den Kommunen in besonders strukturschwachen Regionen, in denen auf der Ebene der Arbeitsämter eine besonders hohe Arbeitslosenquote von über 12 % existiert, sollen Bundes- und Ländermittel zur Verfügung gestellt werden, die dann vor Ort mit Fördermitteln der Bundesanstalt für Arbeit und mit eigenen Mitteln der Kommunen verknüpft werden. Damit sollen sowohl im Bereich der Pflege und Entwicklung der Infrastruktur wie auch der kommunalen Daseinsvorsorge zusätzliche Projekte umgesetzt und so arbeitslose Personen in Beschäftigung gebracht werden. Als arbeitsmarktpolitische Förderung bieten sich hierfür Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM) an. Mit einer Laufzeit von bis zu drei Jahren ermöglichen sie eine größere Kontinuität in längerfristig angelegten Vorhaben als ABM. Daneben sind sie für die Bundesanstalt für Arbeit fast kosten-neutral auszuweiten, da die Förderhöhe sich am durchschnittlich gezahlten Betrag an Arbeitslosengeld und -hilfe orientiert. Eine Ausweitung der SAM-Förderung ist daher im Unterschied zu den deutlich teureren ABM wesentlich unproblematischer möglich, vor-ausgesetzt, die Maßnahmeträger finden einen Weg zur Kofinanzierung, um die fehlenden Personalkosten und benötigte Sach-mittel abzusichern.

Daher schlagen wir vor, für ein solches Programm über 5 Jahre jeweils 2 Mrd. EUR jährlich zur Verfügung zu stellen, die zu 80 % vom Bund und zu 10 % von den Ländern aufgebracht werden. Ein Mindestanteil von 10 % wäre durch die Kommunen selbst auf zu bringen. Die Kommunen sollen diese Gesamtmittel direkt erhalten und in den Haushalt einstellen können. Der Einsatz der Mittel wäre nur verbindlich daran zu binden, dass sie für SAM eingesetzt werden. Auf diesem Wege wären ca. 117.000 neue Stellen jährlich zu finanzieren.

Beispielhafte Felder für solche Projekte wären die Schul- und Kindergartensanierung, die Dorferneuerung, die Sanierung von Spiel- und Sportstätten, die Pflege öffentlicher Grünflächen, Naturschutzmaßnahmen oder die Einrichtung von Stadtteiltreffs und Begegnungsstätten.

Mehr Beschäftigung für ältere Arbeitslose

Ältere Arbeitslose ab 55 Jahren stellen eine besondere Problemgruppe des Arbeitsmarktes dar. Sie müssen erleben, dass sie kaum noch in eine reguläre Beschäftigung zu vermitteln sind, wenn sie nicht über hochspezialisierte und daher gefragte Qualifikationen verfügen. Trotz Möglichkeiten zum vorgezogenen Renteneinstieg bei Arbeitslosigkeit verspüren viele Betroffene noch gar nicht den Wunsch, sich aufs "Altenteil" zurück zu ziehen. Daher müssen für diese Gruppe wieder mehr Wahlmöglichkeiten in ihrer Lebensgestaltung geschaffen werden. Für diejenigen, die auch mit 55 Jahren und darüber hinaus noch unverändert Interesse an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit haben, sollen öffentlich finanzierte, gemeinwohlorientierte Beschäftigungsprojekte ins Leben gerufen werden.

Durch die erweiterten Möglichkeiten der Bundesanstalt für Arbeit, SAM für über 55-jährige über 5 Jahre und mit einem zusätzlichen Sachkostenzuschuss von 200 EUR monatlich zu fördern, sind für ein solches Programm sehr gute Ausgangsbedingungen gegeben. Auch hier stellt sich jedoch die Frage nach der Kofinanzierung. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik schlägt daher vor, solche Projekte durch ein eigenständiges Bundesprogramm abzusichern. Die Mittel in Höhe von ebenfalls 2 Mrd. EUR jährlich sollen in Regionen mit über-durchschnittlicher Arbeitslosigkeit, insbesondere mit einem hohen Anteil Älterer, direkt in kommunaler Verantwortung eingesetzt werden. Denkbare Felder sind z.B. zusätzliche soziale Beratungsleistungen, Umweltbildung und Umweltschutz, soziale Dienste und Betreuung älterer Menschen oder die Ausweitung von Öffnungszeiten und Bildungsangeboten in kulturellen Einrichtungen.

Bei einem Gesamtfinanzierungsbedarf von 30.000 EUR pro Arbeitsplatz und einer Förderung in Höhe von 15.300 EUR durch die Bundesanstalt für Arbeit ließen sich mit den komplementär eingesetzten 2 Mrd. EUR 136.000 Stellen bundes-weit finanzieren.

Mit diesen beiden Bestandteilen eines arbeits-marktpolitischen Sofortprogramms könnten ohne weiteren Planungsvorlauf zügig gut 250.000 neue Arbeitsplätze entstehen, die einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung kommunaler Infrastruktur und Daseinsvorsorge leisten würden. Dies wäre ein wesentlich sinnvollerer, kurzfristig umsetzbarer Ansatz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, als die Ausweitung von fragwürdigen Kombi-Lohnmodellen zum Aufbau eines Niedriglohnsektors.

Die Vergangenheit lehrt unmissverständlich, dass eine Strategie, die im Wesentlichen auf die Selbstregulierungsfähigkeit von Marktkräften setzt und deshalb diese durch Maßnahmen der Deregulierung, Flexibilisierung, Entstaatlichung etc. zu entfesseln versucht, die Massenarbeitslosigkeit nicht nur nicht beseitigt, sondern sie auf immer höhere Niveaus treibt. Solange die rot-grüne Bundesregierung den gescheiterten Kurs der Kohl-Ära im Wesentlichen fortsetzt, wird eine wirtschaftliche Ernüchterung und Enttäuschung der nächsten folgen. Es wird höchste Zeit, den Kurs zu wechseln und die im rot-grünen Koalitionsvertrag verabredete Zieltriade in den Mittelpunkt zu rücken: Arbeit, soziale Gerechtigkeit und Umwelt.

Kontaktanschrift:
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Postfach 33 04 47, 28334 Bremen
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