Wann ist der Mensch ein Mensch?

Leo Koflers anthropologische Utopie

Am 26. April 2007 wäre Leo Kofler 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass fragt Christoph Jünke nach der anthropologischen Utopie des Kölner Sozialphilosophen.

Es ist noch immer reichlich umstritten, ob und inwiefern man von einer marxistischen Anthropologie sprechen kann. Geht es der philosophischen Anthropologie im Allgemeinen um das zeitlose Wesen der oder des Menschen, also um Wesensschau, betont die marxistische Theorietradition dagegen vor allem die Historizität, die Geschichtlichkeit sowohl ihres Erkenntnisgegenstandes wie ihrer Erkenntnismethode. Es geht ihr dabei programmatisch um das Spezifische, das historisch Konkrete und Veränderliche und sie richtet sich dabei vor allem gegen jede Art der idealistischen Spekulation über das vermeintliche Wesen der Dinge. Es geht der marxistischen Gesellschaftstheorie also weniger um die Erkenntnis der Struktur und Bewegungsgesetze menschlicher Gesellschaften als solcher, oder des Menschen als solchem, sondern spezieller um die Erkenntnis der spezifischen Struktur und Bewegungsgesetze einer bestimmten menschlichen Gesellschaft, der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft - unter der Maßgabe ihrer notwendigen wie möglichen Veränderung. Innermarxistische Dogmatismen und die abschreckende Erfahrung mit einer offensichtlich im reaktionären Dienste stehenden bürgerlichen Anthropologie haben dieses traditionell prekäre Verhältnis von Marxismus und Anthropologie zusätzlich und nachhaltig gestört.

Einer der wenigen, die den Zusammenhang von Anthropologie und Sozialwissenschaft bereits in den 1950er und 1960er Jahren systematisch theoretisiert und dabei die Grenzüberschreitungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft untersucht haben, ist der deutsch-österreichische Marxist Leo Kofler. Der Mittler zwischen klassischer Arbeiterbewegung und Neuer Linker gehört zu den bedeutendsten, aber auch zu den verdrängtesten Marxisten des Nachkriegsdeutschland.[1] Sein ausgesprochen reichhaltiges theoretisches Werk reicht von der Methodologie des Marxismus über Geschichtstheorie und Geschichtswissenschaft bis zur Soziologie und Ästhetik. Die gleichsam originelle Klammer dieses Werkes ist dabei seine Grundlegung einer anthropologischen Erkenntnistheorie, die in den Streit eingreift, was denn eine solche marxistische Anthropologie inhaltlich ausmacht und wieweit deren Erkenntnisse praktisch reichen. Zu dieser Frage ist Koflers Beitrag zur Debatte ein origineller und meines Erachtens weiterführender Ansatz.

Arbeit, Bewusstsein und Spiel

Marxisten definieren den Menschen in der Regel, und das ist nicht selten gerade auch der Kritikpunkt an ihnen, durch die Arbeit. "Man kann die Menschen", schreiben Marx und Engels in einer bekannten Passage ihrer Schrift über Die deutsche Ideologie, "durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst."[2]

Kofler nun korrigiert diese traditionell marxistische Sicht in einem ganz bestimmten Aspekt. Auch er geht davon aus, dass es die Arbeit ist, oder allgemeiner gesagt, dass es die Tätigkeit ist, die den Menschen zum Menschen, zu einem vergesellschafteten Wesen macht. Der Mensch erzeugt sich selbst in der Arbeit, als tätig-arbeitendes Wesen. Verdinglichung, Entfremdung und Ausbeutung, diese drei zentralen marxistischen Theoreme einer Kritik kapitalistischer Gesellschaften finden hier, in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung mit ihrer klassengesellschaftlichen Strukturierung ihren Ursprung. Anders als in dem Marx/Engels-Zitat stellt Kofler allerdings - und dies ist die erste Originalität seines Ansatzes - Arbeit und Bewusstsein nicht gegenüber. Kofler betont, dass solcherart Arbeit/Tätigkeit unaufhebbar mit Bewusstsein gepaart ist, dass Tätigkeit und Bewusstsein nicht voneinander zu trennen sind. "Der praktisch tätige Mensch", so Kofler, "kann nicht anders gedacht werden, denn als ein mit Hilfe seines Kopfes tätiger, d.h. also bewusstseinsbegabter Mensch. Die Fähigkeit, durch das Bewusstsein hindurch zu agieren, heißt aber nichts anderes als die Fähigkeit, sich bestimmte Ziele zu setzen und auf die Erreichung dieser Ziele hinzuarbeiten."[3]

Nimmt die idealistische Denktradition an, dass die Geschichte vom Bewusstsein gestaltet wird, so betrachtet die materialistische Dialektik Geschichte als wesentlich durch das Bewusstsein hindurch gestaltete - ein feiner, aber weitreichender Unterschied. Arbeit, Tätigkeit, Praxis - alle diese Funktionen des praktischen Lebensprozesses sind ohne Bewusstseinsqualität, ohne die dialektische Einheit von Sein und Bewusstsein nicht zu denken. Für Kofler kann es "keine einzige Seite des gesellschaftlichen Lebens geben, keine Beziehung und keine Tätigkeit, die nicht durch das Bewusstsein hindurch ('hindurch!') sich gestaltet".[4] Wo dies als Rückfall in den Idealismus betrachtet wird, da feiert der vulgärmaterialistische Mechanismus, wie er sagt, "seine leicht errungenen Triumphe".[5] Die Hauptleistung des historischen Materialismus liegt für ihn deswegen darin, die bis dahin vom philosophischen Idealismus reklamierte und vom philosophischen Materialismus vernachlässigte Rolle des gesellschaftlichen Bewusstseins "anerkannt und gleichzeitig materialistisch erklärt zu haben".[6] Für Kofler ist also der entscheidende Unterschied zwischen Tier und Mensch das menschliche Bewusstsein, besser: die menschliche Fähigkeit zum Bewusstsein, zum bewussten Sein. Und Bewusstsein ist hier die "Fähigkeit, Handeln in einem Ziele setzenden Sinne zu ermöglichen".[7]

Damit ist auf der formalen Seite eine weitreichende Differenz zu allen sozialwissenschaftlichen oder sozialphilosophischen Theorien gesetzt, die den Menschen wesentlich auf die ihn umgebenden und begleitenden Naturbedingungen reduzieren. Koflers Menschenbild ist unvereinbar mit jeglichem Naturalismus oder Biologismus. Eher gehört ein solches Menschenbild zu dessen traditionellem Gegenpol, dem so genannten Kulturalismus, also der Auffassung, dass der Mensch durch seine Kultur definiert wird, durch das, was er aus sich selbst macht. Was Kofler von diesem Kulturalismus jedoch wieder unterscheidet, ist gerade die Tatsache, dass es auch für ihn eine menschliche Natur gibt, die der menschlichen Kultur Grenzen und Perspektiven aufnötigt.

Wir Menschen sind, wie es der britische Kulturtheoretiker Terry Eagleton einmal ausgedrückt hat, "kulturelle Wesen aufgrund unserer Natur Â…, das heißt aufgrund der Beschaffenheit unserer Körper und der Beschaffenheit der Welt, zu der sie gehören".[8] Die Menschen stehen gleichsam zwischen Natur und Kultur, die menschliche Natur (Eagleton: "gemeinschaftlich, somatisch gegründet und kulturell vermittelt")[9] wird durch die menschliche Kultur verändert, aber nicht beseitigt.

Dies ist auch Leo Koflers Auffassung und sie liegt im Kern begründet in seiner Ansicht, dass es gerade das Bewusstsein, das bewusste Sein, also die Kultur ist, die die menschliche Natur auszeichnet. Es liegt im Wesen dieser menschlichen Natur, dass sie auf den Mitmenschen und die mit ihm vermittelte Arbeit/Tätigkeit strukturell angewiesen ist. Es liegt aber für Kofler ebenso im Wesen dieser menschlichen Natur, dass sie in den Kulturleistungen Arbeit und Tätigkeit nicht aufgeht. Denn Arbeit und Tätigkeit sind mehr oder weniger rationale Mittel zu einem ihrem Wesen nach "irrationalen" Zweck, rationale Mittel zur "irrationalen" Triebbefriedigung des Naturwesens Mensch, und diese Triebe sind im weitesten Sinne erotische Triebe, d.h. auf Genuss und Spiel ausgerichtet. Erotik wird hier natürlich nicht im Sinne der Erotikabteilungen zeitgenössischer Videotheken verstanden, sondern in einem umfassenden, über die Sexualität weit hinausgehenden Sinne von Schönheit und freiem Spiel der menschlichen Wesenskräfte.

Der Mensch ist also nicht nur durch das verändernde Tun, durch rationale und auf Ziele gerichtete Tätigkeit zu bestimmen, sondern auch - und dies ist Koflers zweite originelle Akzentverlagerung in Bezug auf die marxistische Tradition - durch jenes sich im wesenhaft "irrationalen" Eros ausdrückende aufnehmende Genießen. Der Mensch definiert sich für Kofler deswegen als ein "im schöpferischen Tun erotisch genießende(r) und im Genuss sich tätig verwirklichende(r) Mensch".[10]

Hiermit ist neben Arbeit ein anderer Begriff gesetzt, der des Spiels. Arbeit und Spiel haben zwar denselben anthropologischen Ursprung als praktische Entäußerungsformen des Menschen, aber historisch betrachtet sind sie getrennt worden und verschiedene Wege gegangen. Und diese Trennung ist ein Produkt der antagonistischen Klassengesellschaften, in denen sich die Menschen seit ihrer Frühzeit bewegen.

In den durch Ausbeutung individueller Arbeitskraft und Aneignung des gesellschaftlichen Mehrproduktes geprägten Klassengesellschaften verkommt menschliche Tätigkeit zu repressiver, auf der Unterdrückung des Eros-Triebes beruhender Arbeit, zur asketischen Disziplin, während das ursprünglich harmonische Spiel in die Freizeit- und Privatsphäre zurückgedrängt und zum anarchisch-orgiastischen Prinzip degradiert wird.

Anthropologie, Utopie und Wissenschaft

Es gibt einen langen Streit in der Wissenschaft, ob diese Trennung von, wie Kofler es nennt, apollinischer Arbeit und dionysischem Spiel auf realgeschichtliche Ereignisse zurückzuführen ist oder immer schon da war. Auch Kofler lässt diese Frage im Prinzip offen, betont jedoch, dass allein "die spekulative Verwirklichung der niemals erlöschenden Sehnsucht des Menschengeschlechts nach Wiederherstellung der entweder einst wirklichen oder als solche geglaubten, verloren gegangenen Einheit von Apollinischem und Dionysischem"[11] anzeige, dass wir es hier mit einer geschichtsmächtigen Tendenz, mit einer anthropologischen Utopie zu tun haben, die es zu pflegen gelte, denn eine solche humanistische Anthropologie erlaube "einen optimistischen Ausblick auf das, was aus dem Menschen werden kann und wonach er seiner Natur nach strebt. Diese anthropologisch definierte Perspektive hat allerdings von sich aus keinerlei Einfluss auf das konkrete historische Geschehen, denn sie ist als eine anthropologische formaler Natur. Was aus der eingesehenen Möglichkeit des 'spielenden' Menschen wirklich wird, das hängt von den historischen Umständen und der Realisierung der diesen Umständen innewohnenden Möglichkeiten ab. Doch bleibt es nicht ohne Bedeutung für die praktischen Auswirkungen der kritischen Theorie, welches anthropologische 'Menschenbild' sie vertritt."[12]

Für Kofler ist Anthropologie also wesentlich utopisch und stellt sich dar als die Sehnsucht nach einer neuen Harmonie von Apollinischem und Dionysischem, nach einer neuen unentfremdeten Einheit von Arbeit und Spiel. Solcherart Utopie speise sich aus einer rückwärts gewandten Sphäre - dem erotisch Triebhaften und der Urerinnerung an das Goldene Zeitalter - und einer vorwärts gewandten Sphäre - den realhistorischen Tendenzen und der auf die Zukunft gerichteten Phantasie.

Auch wenn also solcherart Anthropologie einen utopischen Gehalt, ja sogar ein utopisches Wesen aufweist, so ist sie nichts desto trotz eine Wissenschaft, und zwar, wie Kofler sagt, eine "Wissenschaft von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderlichkeit".[13] Das anthropologische Wesen wird definiert durch die unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderlichkeit. Kofler macht insgesamt acht dieser anthropologisch-formalen Bedingungen menschlicher Existenz aus: die menschliche Vernunft, die menschliche Tätigkeit, die Geschichtlichkeit des Menschen und seine Entäußerung, seine physische und seine psychische Organisation, seine Vergesellschaftung, sowie die Subjekt-Objekt-Dialektik.[14] Diese formalen Bedingungen erst machen für Kofler den Menschen zum Menschen, machen die menschliche Geschichte formal möglich, ohne sie dadurch bereits inhaltlich zu bestimmen. Das anthropologische Wesen des Menschen betrifft also nicht den historisch-konkreten Menschen, der veränderlich ist im historischen Raum. Dieser historisch-konkrete Mensch ist vielmehr das, "was er denkt, fühlt, weiß, erkennt und erfährt, kurz was er mittels seines historisch geprägten Bewusstseins geworden ist".[15]

Anthropologische Anwendungen

Eine so verstandene Anthropologie ist also keine Geschichtstheorie oder -auffassung, da sie, wie gesagt, das Geschichtliche des Menschen, das historisch Veränderbare und sich Verändernde, gar nicht zu fassen vermag. Die Veränderlichkeit des Menschen ist, rückwärts gewandt, Sache der Geschichtswissenschaft und -theorie und, vorwärts gewandt, Sache der Gesellschafts- und Politikwissenschaft. Die Anthropologie wird so gleichsam zur Metatheorie, zu einer Art Hilfswissenschaft, die für Kofler keinerlei Anleitung zum Handeln ist und auch qua Definition nicht sein kann. Trotzdem hält er diese Hilfswissenschaft Anthropologie für theoretisch und praktisch notwendig, denn das aus dieser Anthropologie resultierende humanistische Menschenbild verbindet auf gleichsam organische Weise das anthropologische Wesen und die menschliche Vergangenheit, das Gestern, mit der sozialistisch-humanistischen Zielidee und dem Fortschrittsdenken, dem Heute, Morgen und Übermorgen.

Das aus der erkenntnistheoretischen Anthropologie abgeleitete humanistische Menschenbild dient also nicht der direkten Anleitung zum Handeln, sondern vielmehr der Abwehr falscher theoretischer wie praktischer Zugänge zum Handeln. Es hat im Wesentlichen zwei Funktionen, bzw. Aufgaben: "Einerseits die Aufgabe der Abwehr des Nihilismus, d.h. der Auffassung des Menschen als eines im Grunde negativen und keiner geschichtlichen Entwicklung zur Freiheit hin fähigen Wesens; andererseits die Aufgabe der Schaffung eines positiv-humanistischen Ideals, eines Maßstabs in der Beurteilung aller konkreten menschlichen Situationen und aller Handlungen, in wohlverstandenem Sinne eines ethischen Maßstabes."[16]

Die Aktualität einer so verstandenen formalen Anthropologie lässt sich heutzutage auf mehreren Ebenen darstellen - die hier nur kurz benannt werden sollen.

Die bürgerliche Klassengesellschaft produziert immer wieder neu ein aus vielen Theoremen sich zusammensetzendes repressives Menschenbild, das dazu dient, den in spätbürgerlicher Zeit partiell befreiten Eros des Individuums wieder einzufangen und erneut an die Bedingungen repressiver Klassengesellschaft zu binden, indem es bei praktizierter Freiheit ein Schuldbewusstsein produziert, das dann vom Individuum durch Unterordnung, durch "bußfertige Integrationswilligkeit"[17] in die herrschende Arbeits- und Lebensordnung, wieder abgetragen wird.

Dieses repressive Menschenbild hat viele Facetten. So zieht unter anderem der Neoliberalismus als Ideologie, als soziale Philosophie einen Gutteil seiner intellektuellen Kraft und Hegemonie aus einem weitgehend verinnerlichten Menschenbild, dem man konsequent nur auf demselben Terrain begegnen kann, d.h. wenn man über ein eigenes, konsistent anderes Menschenbild verfügt. Das ideologische Leitbild des Neoliberalismus ist bekanntlich der flexible, mobile, universell verfügbare und allzeit bereite einzelne Mensch, die Ich-AG, das vereinzelte Individuum als Einzelkämpfer, der seine individuellen Ressourcen im Wettlauf der Warenförmigkeit gegen andere mobilisiert: Jeder ist sich selbst der Nächste und alles wird dem Fetisch der Profitakkumulation um jeden Preis, der Selbstverwertung des Werts sowie der universellen Konkurrenz, genauer: den Imperativen der Marktkonkurrenz, unterworfen.[18] Diese neoliberale Ideologie ("Der Mensch, der einzelne Mensch, ist das, was er aus sich selbst macht") ist wegen ihres methodischen Individualismus und ihrer klassengesellschaftlichen Blindheit durch und durch reaktionär, aber nicht notwendigerweise konservativ - das haben wir spätestens unter Rot-Grün gelernt.[19] Dagegenzuhalten ist, dass der Mensch - anthropologisch betrachtet - ein kollektives, ein immer schon vergesellschaftetes und aufeinander strukturell angewiesenes Wesen, ein Gattungswesen ist, das nur in der Gemeinschaft und nur durch die Gemeinschaft sich vereinzeln kann. Der Mensch bespiegelt sich bekanntlich im Anderen und er ist angewiesen auf Formen der kollektiven Solidarität - zumal, wenn er jene realhistorischen (und von Menschen gemachten) Probleme in Angriff nehmen möchte, die mittlerweile nicht nur Millionen von Menschen tagtäglich in Verelendung und Tod treiben, sondern das Überleben der Gattung selbst in Frage stellen. Alles andere ist, wie Leo Kofler zu sagen nicht müde wurde, Raubtierideologie.[20]

Man könnte dies an weiteren Ismen im Einzelnen durchspielen: Konservatismus, Biologismus/Rassismus, Liberalismus, Postmodernismus - sie alle arbeiten, zumeist mehr versteckt als offen, mit einem Menschenbild, mit einem Begriff des Menschen, der als solcher anzuzweifeln ist.[21]

Die Abwehr repressiver Menschenbilder ist die eine zentrale Funktion einer so verstandenen marxistischen Anthropologie. Andererseits liefert das von Kofler dem entgegengesetzte humanistische Menschenbild einen gleichsam ethischen Maßstab nicht nur zur Beurteilung der real existierenden Gesellschaft,[22] sondern auch für emanzipative Praxis und konkrete Utopie - Koflers drittes Element einer marxistischen "Selbstkritik". Auf dem Wege zum Ziel menschlicher Emanzipation sind nicht alle Mittel erlaubt. Auch dies ist eine umfangreiche und komplizierte Diskussion, die ich hier nur benennen, aber nicht ausführen kann. Es ist jedoch kein Zufall, dass Kofler seine Anthropologie, sein humanistisches Menschenbild, vor allem im Zusammenhang seiner theoretischen wie praktischen Stalinismuskritik entwickelt hat. Stalinistisches Denken und Handeln, damals wie heute,[23] wird geprägt durch die Idee, dass die konkreten, real existierenden Menschen im Namen höherer Werte für einen mehr oder weniger langen Zeitraum auch und gerade erziehungsdiktatorisch behandelt werden dürfen.[24]

Es gibt schließlich einen weiteren strategischen Sinn eines solcherart gefassten revolutionären Humanismus: Weil die Emanzipation des Gattungswesen Mensch keinem historischen Automatismus folgt, weder automatisch vorherbestimmt ist noch sich automatisch vollzieht; weil der Sprung in die Freiheit im marxistischen Sinne ein qualitativer Bruch mit jeder menschlichen Vorgeschichte ist, bekommt die anthropologische Utopie eine zusätzliche Bedeutung. Denn sie wird notwendig, "weil sie den Menschen zu Hoffnungen und Handlungen mobilisiert, die ihre eigenen Grenzen praktisch überschreiten und Vorstellungen realisieren helfen, die, als in der Geschichte angelegte, sich ohne Utopie niemals realisieren würden".[25] "Ob sie", die Geschichte, "es", das Problem einer neuen Einheit von Apollinischem und Dionysischem lösen wird, so Kofler im mythischen Jahr 1968, "hängt von uns ab".[26] Oder, wie es Ernst Bloch einmal prägnant formuliert hat: "Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst."[27]

Christoph Jünke ist Historiker, politischer Journalist und Vorsitzender der Leo Kofler-Gesellschaft e.V. Jüngste Buchveröffentlichung: Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler - Leben und Werk (1907-1995), Hamburg 2007, i.E. Der voranstehende Beitrag ist mit freundlicher Genehmigung entnommen dem Band: Verena Di Pasquale/Uta Schuchmann/Karolina Stegemann/Stefan Thomas (Hrsg.): Grenzüberschreitungen - zwischen Realität und Utopie, Münster 2006.

[1] Zu Koflers Leben und Werk vgl. meinen Überblick: "Freiheit wozu? Zur Einführung in Leben und Werk von Leo Kofler (1907-1995)", in: Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg 2000, S. 7-29 (auch auf www.leo-kofler.de). Ausführlich habe ich Leben und Werk Koflers in meiner als Buch erscheinenden Dissertation (siehe Anm. zum Autor) behandelt.
[2] Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie (1845/46), in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 3, Berlin 1967, S. 21.
[3] Leo Kofler: Geschichte und Dialektik. Zur Methodenlehre der dialektischen Geschichtsbetrachtung, Hamburg 1955, S. 107.
[4] Ebenda, S. 120.
[5] Ebenda.
[6] Ebenda, S. 105.
[7] Leo Kofler: Der asketische Eros. Industriekultur und Ideologie, Wien 1967, S. 28.
[8] Terry Eagleton: Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay, Stuttgart/Weimar 1997, S. 97.
[9] Terry Eagleton: Was ist Kultur? Eine Einführung, München 2001, S. 146.
[10] Leo Kofler: Der asketische Eros, a.a.O., S. 34.
[11] Ebenda, S. 38.
[12] Ebenda, S. 36.
[13] Ebenda, S. 28.
[14] Leo Kofler: Perspektiven des revolutionären Humanismus, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 12ff.
[15] Leo Kofler: Der asketische Eros, a.a.O., S. 25. Als Subjekt-Objekt-Dialektik wird dabei in Koflers Worten verstanden eine "Beziehung, in der die subjektive Tätigkeit ebenso Bedingung für das Entstehen der objektiv-gesetzlichen Gegebenheiten ist, wie auch umgekehrt die objektive Gesetzlichkeit Bedingung für die subjektive Tätigkeit". (Die Wissenschaft von der Gesellschaft. Umriss einer Methodenlehre der dialektischen Soziologie (1944), Frankfurt/M. 1971, S. 120).
[16] Leo Kofler: Staat, Gesellschaft und Elite zwischen Humanismus und Nihilismus, Ulm/Donau 1960, S. 309.
[17] Leo Kofler: Der asketische Eros, a.a.O., S. 204.
[18] Holert, Tom/Terkessidis, Mark: Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert, Köln 2002 haben in beeindruckender Weise aufgezeigt, wie tief sich die kriegerische Ideologie des Neoliberalismus bereits in die Eingeweide der Gesellschaft eingegraben hat.
[19] Das jüngste sinnfällige Beispiel ist dabei die "Du bist Deutschland"-Kampagne. Vgl. dazu meinen Beitrag: "Psychologische Kriegsführung. Deutschland im Herbst", in SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11/2005, S. 5 (www.soz-plus.de).
[20] Bereits Ende der 1940er Jahre hatte Kofler in seinem wohl bekanntesten Werk Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft das spätbürgerliche Menschenbild vom Individuum als einem "rastlos zwischen den ihm fremd bleibenden übrigen Individuen herumschweifende(n) und ständig auf Beute lauernde(n), einsame(n) Raubtier(es)" entlarvt und angegriffen (hier zitiert nach der letzten Neuauflage Berlin 1992, Band II, S. 304). Er gehörte entsprechend zu den ersten, die die Reconquista des neoliberalen Sozialdarwinismus in den 1980er Jahren thematisiert und angeprangert hat.
[21] Kofler selbst hat zu Beginn der 1970er Jahre ein ganzes Buch geschrieben, in dem er die damals viel diskutierte anthropologische Aggressionsneigung des Menschen untersucht hat: Nicht der Aggressionstrieb, so Kofler dort, bemächtige sich des Menschen, sondern der Mensch bemächtigt sich unter gesellschaftlichen Bedingungen, unter gesellschaftlichem Druck des Aggressionstriebes. Der "immer lebendige Triebimpuls (wird) immer und unter allen Umständen durch Außenreize in Aktion gesetzt und (erhält) erst hier eine inhaltliche Dimension" (Aggression und Gewissen. Grundlegung einer anthropologischen Erkenntnistheorie, München 1973, S. 73; Hervorhebung: CJ).
[22] "Warum sollen von der positivistischen oder bürgerlich-anthropologischen Warte aus besehen Klassengesellschaft und Herrschaft des Menschen über den Menschen einen geringeren Geltungswert besitzen als klassenlose Gesellschaft und Selbstverwirklichung?! Ohne eine marxistische Anthropologie kommen wir nicht weiter." "Die Bewusstseinsanthropologie im Materialismus von Karl Marx [1983]", in Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit, a.a.O., S. 207-219, hier S. 214.
[23] Ich benutze den Begriff des Stalinismus hier weniger im Sinne des historischen Stalinismus, sondern im strukturellen Sinne politischer Theorie und Praxis.
[24] Es ist deswegen kein Zufall, dass das stalinistische Denken stets eine Form des theoretischen Anti-Humanismus war und ist. Vgl. dazu Edward P. Thompsons machtvolle Abrechnung in Das Elend der Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung, Frankfurt/M.-New York 1980.
[25] Leo Kofler: Perspektiven des revolutionären Humanismus, a.a.O., S. 25.
[26] Ebenda, S. 26.
[27] Ernst Bloch: Spuren, Berlin 1930.

Erschienen in Sozialismus 1-2007