Keine Gewalt

Als 1793 die Revolution hinter der Guillotine verschwand, legte sich der Verwesungsgeruch, den Frankreichs Richtplätze verströmten, wie eine undurchdringliche Kohlendioxidschicht über die ersten

Blüten des aufscheinenden Völkerfrühlings: Die Befreiungstat der Franzosen verlor im Ausland massenhaft ihre Anhänger, und die bröckelnden Bastionen des europäischen Feudalismus barsten nun nicht unter dem Ansturm der unterjochten Bauern, sondern wurden erst Jahre später - "von oben" - durch Napoleons Bajonette unrestaurierbar erschüttert.
Jeglicher Widerstand von unten hatte sich künftig zuerst von "1793" zu emanzipieren, also die Angst vor dem eigenen Abgleiten in den Terror, das den Jakobinern noch in aller Unschuld widerfahren war, zu überwinden, ehe er sich gegen die Feinde der Freiheit zu wenden vermochte. Selbst mit den Maschinenstürmern von 1816, die Gewalt gegen Sachen und nicht gegen Menschen richteten, mochte sich niemand solidarisieren. Heinrich Heine widmete zwar 1844 den aufständischen Webern von Peterswaldau eines seiner unsterblichen Gedichte, doch erst Gerhart Hauptmann vermochte - fast ein halbes Jahrhundert später - im deutschen Bildungsbürgertum größeres Verständnis für die Gewalt der bis aufs Blut Sekkierten zu erwecken.
Zu dieser Zeit, 1892, hatte die Welle des individuellen Terrors Deutschland längst in Richtung Rußland verlassen; die mit zivilgesellschaftlichen Methoden kämpfende Arbeiterbewegung stand kurz vor ihrem Durchbruch. Vierzehn Jahre zuvor war die Partei Bebels und Liebknechts verboten worden - wegen des Terroranschlages eines "Linken", der mit dieser Partei zwar gar nichts zu tun gehabt hatte, dessen Tat von der herrschenden Kamarilla aber gern als Anlaß für Staatsterror genommen worden war. Schäuble hieß damals Bismarck; niedergerungen wurde er durch zivilen Ungehorsam und nicht durch Gewalt. Die an eine billige Klamotte erinnernde Geschichte der RAF, wie anno 1878 aufgeführt von an ihrer "revolutionären" Ohnmacht irre gewordenen Kleinbürgerkindern, sei hier nur der Vollständigkeit wegen erwähnt.
Stets hat in der Vergangenheit jede neue Welle des Widerstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung den Umgang mit Gewalt in den Mittelpunkt der Debatten gerückt, und immer benahmen sich die Akteure so, als handele es sich um ein Problem, mit dem sie in der Weltgeschichte als die Ersten konfrontiert seien. Warum also sollte es ausgerechnet dieses Mal anders sein?
Die verfassungsschutzdurchsetzten Krawalltouristen von Rostock beschäftigen seit Wochen die Linke, und es wird nicht ein einziges Argument vorgebracht, das nicht schon vor einhundert Jahren als verbraucht gegolten hätte. (Um nicht mißverstanden zu werden: Auch ohne staatlich alimentierte Provokateure hätten die zur Beendigung ihrer Pubertät unfähigen Krawalltouristen die Straßenpflasterung aufgerissen.)
Die Konservativen lernen voneinander, der Linken ist solche Lernfähigkeit verwehrt. Jede ihrer Generationen muß ihre eigenen Erfahrungen machen. Daran gibt es nichts zu kritisieren noch gar zu bedauern. Denn Unterdrückung verfeinert sich durch Vererbung, Widerstand hingegen muß immer aufs neue anheben - da hemmt der Ballast der Erfahrung nur, raubt er doch die Unbekümmertheit, deren jeder Anfang bedarf. Doch müssen die linken Intellektuellen ebenfalls alle Haarnadelkurven der Erkenntnis stets erneut durchhasten, oder machen sie sich nicht eher überflüssig, wenn sie den Kern intellektueller Arbeit meiden: mit dem Wissen um das Gestern das Heute für das Morgen analysieren und darauf gestützt ihre Kritiken und Vorschläge formulieren?
Das ist kein Plädoyer für den hochnäsig am Rande stehenden Kritikaster, sondern für einen Typ von Analytiker wie Johannes Agnoli: als kritisch-solidarischer Partner die Politiker fordernd und ihnen das gebend, wozu ihnen im Getümmel des Tagesgeschäftes zumeist die Muße und nicht selten auch der Mut fehlt - die Reflexion des eigenen Tuns, der eigenen Wege; die Um- und Irrwege eingeschlossen.
Die Linke hat oft, wenn sie sich schwach und einsam fühlte, zur Gewalt gegriffen und sich so noch schwächer und einsamer gemacht. Wer wagt es, das linke Sektenwesen in seiner politischen, Sozial- und Mentalitätsgeschichte zu beschreiben? Es würde ein trostloses Buch werden.
Die Linke war immer stark, wenn sie sich mit Massenbewegungen zu verbinden vermochte und die Gewalt der herrschenden Kräfte durch zivilgesellschaftliches Handeln ins Leere laufen ließ. Das alttestamentarische Aug um Aug, Zahn um Zahn hingegen war stets die Devise der Barbarei - zuletzt praktiziert von der RAF: "Die andere Seite hat zuerst geschossen " - und scheint heute in den Nach-Rostock-Debatten beunruhigenderweise wieder auf. Es ist zwar unangenehm, daß die Gesellschaft immer noch unter staatlicher Verwaltung steht - das sowohl von Marx als auch verschiedenen Anarchisten propagierte Ziel einer Überwindung des Staates hat aber bisher keine gesellschaftlichen Mehrheiten gefunden; und der Versuch, den Staat per staatlicher Avantgardediktatur abzuschaffen, war bekanntlich nicht erfolgreich.
Solange wir es mit dem Staat zu tun haben, ist nicht dessen Gewaltmonopol zu kritisieren - es ist immer noch Ausdruck eines zivilisatorischen Fortschritts, der einst aus dem, der Barbarei zugrundeliegenden, "Recht" eines jeden zu Mord und Totschlag erwachsen ist. Selbst unter den konsequentesten Staatshassern ist mir bisher niemand begegnet, der sich danach sehnte, beim Betreten der Straße ausgeraubt oder gar ermordet zu werden. Zu kritisieren an diesem staatlichen Gewaltmonopol ist nur dann etwas, wenn es benutzt wird, die Zivilgesellschaft zu unterdrücken und einen "demokratischen Faschismus" zu etablieren, wie er in Deutschland staatsterroristischen Kräften im Moment wohl erstrebenswert zu sein scheint.
Das Ziel von Linken in der Frage der Gewalt kann nur in der Delegitimierung aller staatsterroristischen Maßnahmen liegen - mit einer Strategie, die nur dann Glaubwürdigkeit gewinnt, wenn Linke selbst auf jegliche Gewalt verzichten. Notfalls um den Preis, sich von jenen Kräften zu trennen, die - unter gewissen Umständen Â…, wenn vielleicht die "andere Seite" Â…, oder weil das gesamte Regime so marode sei, daß es nur noch eines Fußtrittes bedarf Â… und wie die Ausflüchte noch alle heißen - sich die Hintertür zum Abgang in die Sekte offenhalten wollen.
In Reaktion auf Schäubles Vorstoß, dem Staat eine Lizenz zum Töten - was immer zum Morden bedeutet - zu erteilen, hat sich bei den Kräften, deren Aufgabe es ist, das staatliche Gewaltmonopol zu exekutieren, eine deutliche Spaltung vollzogen. Man sollte sie sehr ernstnehmen.
Eine ähnliche Wirkung hatte einst der Beifall der Honecker-Gerontokratie zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 in Peking. Danach war die Dienstklasse der DDR nicht nur gespalten, erstmals war auch zu erkennen, daß die staatsterroristischen Kräfte die Hegemonie verloren hatten. Am 8. Oktober 1989 begannen sie zwar noch mit der "Belegung" der vorbereiteten Lager, scheitern letztlich aber am Ruf der Straße: Keine Gewalt!

in: Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 23. Juli 2007, Heft 15