Die untergründige Wahrheit der Dichtung

Volker Brauns Arbeitstagebuch 1977-1989

Die Literatur geht den Beschlüssen voraus
Anna Seghers

I. Werk-Tage eines politischen Dichters[1]

Man nennt ihn »Lyriker und Dramatiker«. Aber warum ihm das kräftigere Wort verweigern, mit dem wir geschichtliche Gestalten seiner Art benennen? Volker Braun ist ein großartiger deutscher Dichter, vielleicht der bedeutendste unter den Lebenden und ein Linker zudem. Wie Brecht nimmt er es mit den klassischen bürgerlichen Dichtern in Ästhetik, Philosophie und Politik auf, ja diskutiert mit ihnen über die Zeiten hinweg von gleich zu gleich. Denn »literatur ist ein gewebe, das sich trägt und an dem die leser mitziehen und mittragen.« (5.11.86) In seine Gedichte sind die der früheren »eingraviert als spur der herkunft« (8.8.77). Nur dass er eben kein bürgerlicher Dichter ist, sondern einer, der von der Arbeitswelt, ja überhaupt »von unten«, von der »bedrängten Kreatur« (Marx) her, auf die Verhältnisse blickt. Die Beschwörung politisch-theoretischer Unmündigkeit von Dichtung seitens einer Literaturkritik, die sich mit Brecht als kulinarisch und wahrheitslos beschreiben lässt, prallt von seinem Werk ab.

Das Arbeitsbuch der Jahre 1977 bis 1989 fügt den bis dato veröffentlichten Schriften ein Werk eigenen Rechts und eindringlicher Aussagekraft hinzu, das in der zeitgenössischen Literatur seinesgleichen sucht. Es zeigt den Poeten und Stückeschreiber als kritisch-kommunistisch engagierten Intellektuellen, der, im Stellungskrieg mit der Zensur, eine ›andere DDR‹ repräsentiert. Die fast durchweg kurzen Notate setzen sich zu einem Ganzen von beeindruckender Ebenenvielfalt zusammen. Reflexion dichterischen Schaffens und sozialkritische Beobachtungen der Entwicklung in Ost und West durchdringen einander, kommentiert von Traumprotokollen und poetischen Skizzen; und die Notizen von Gesprächen und Begegnungen fügen sich zu einem intellektuellen Panorama der letzten zwölf Jahre der Epoche des Kalten Krieges. Die immer wieder überraschenden Fortsetzungen des Zensurkrimis kontrastieren mit dem bei Lesungen sich manifestierenden leidenschaftlichen Interesse des Lesepublikums, Materialien und Reflexionen lösen sich ab mit Kommentaren zur Politik. Mitunter macht er probeweise Ernst mit Benjamins Vorsatz, »die kunst, ohne anführungszeichen zu zitieren, zur höchsten höhe zu entwickeln«, wie er überhaupt mit kongenialem Sinn Benjamins Unternehmen im Passagenwerk schätzt, »material und theorie, zitat und interpretation [...] in eine offene, offenlegende konstellation zu bringen« (3.11.86). Dieser Chronist seiner selbst wird zum Chronisten seiner Zeit, weil er deren Konfliktfronten in sein Werk und sich in sie einschreibt. Obgleich theoretisch anspruchsvoll, wird die Lektüre dieses Arbeitsbuchs nicht zur Arbeit, sondern zum spannenden Erlebnis. Die folgende Erkundung beschränkt sich auf einige der Stränge des vielschichtigen Werks.

Das ohne Vorwort und Namensregister daherkommende, als 1. Band gekennzeichnete Buch, das mit dem Wendejahr 1989 endet, hebt mitten im Gemenge an. 1977 ist das Jahr des in einer heimlichen Tonbandaufzeichnung Manfred Krugs dokumentierten »sozialen Dramas« zwischen der DDR-Führung und den kritisch engagierten und schöpferisch-eigenständigen Intellektuellen der DDR.[2] Unmittelbarer Anlass waren die Ausbürgerung Biermanns und die nachfolgenden Sanktionen derer, die eine Protesterklärung unterschrieben hatten. Die tiefere Krisenursache aber war der Auftritt des Eurokommunismus auf der Berliner Konferenz der Kommunistischen und Arbeiterparteien von 1976, wo die Vorsitzenden der drei großen westlichen Kommunistischen Parteien Italiens, Frankreichs und Spaniens ihre Positionen in Grundsatzreden darstellten und das Neue Deutschland, wie im Vorfeld ausgehandelt, die Reden im Wortlaut veröffentlichen musste. »selbstverständlich war die ausweisung biermanns eine folge der berliner konferenz, auf der sich die italienische, die französische, die spanische partei artikulierten.« (4.1.77)

Brauns Sturm- und Drang-Phase, die Jahre seines Aufstiegs zum in der DDR auf eine heute kaum mehr vorstellbare Weise intensiv gelesenen Autor blitzen beiläufi g auf, wenn ihm »das illusionistische pathos« seiner Gedichte aus den sechziger Jahren aufstößt: »alles ist vorgefühl, nicht erkenntnis. erschreckend, dass das damals solche wirkung tat. jetzt sehe ich nichts darin, das ich gelten lasse.« (3.9.77) Die Periode, die sich rückblickend als eine des Niedergangs der DDR, ihrer Krankheit zum Tode darstellt, erlaubt keinen naiven Ausdruck mehr. Eine spätere Notiz verlegt den Einschnitt weiter zurück: »das jahr 68, mit dem pariser mai und dem prager frühling, bedeutete eine wende in unseren biographien; es war eine wendung in den einsamen trotz, in die trauer; von da an datiert der gegentext unserer literatur zum monolog der macht.« (28.10.89) Unwillkürlich fragt man sich, ob es womöglich ein Arbeitsbuch vor dem veröffentlichten gibt, zumal 12 Jahre vor dessen Beginn, 1965, die Veröffentlichung von Brechts Arbeitsjournal ungeheuren Eindruck gemacht hat.

Im Verhältnis Brauns zur Staatsmacht setzt sich dieses Drama fast bis zur Abwicklung der DDR fort. Aus dem Dichter des Vorrückens in die Zukunft wird in diesen zwölf Jahren der zunehmend geschichtlich bewusste Dichter des Rückzugs, der einen viel radikaleren neuen Ausgriff anvisiert.

Im Ringen mit seinen Zensoren spielt Braun die Tatsache aus, dass ihm gerade auf der dem Karrierismus abgewandten Seite der Gesellschaft, bei Sozialisten und Kommunisten, dazu weit in christliche Kreise hinein Charisma zugewachsen ist: »ich genieße, wie so oft, die einzige frucht meiner arbeit: vertrauen.« (31.8.85) Und dass sein künstlerischer Ruf nicht nur in der BRD, sondern auch im westlichen Ausland, Frankreich an der Spitze, enorm ist, ja Lateinamerika und China erreicht hat. Er kann in diesem Drama zudem immer wieder gewinnen, weil die Machthabenden eben doch auch, wie immer durchs Apparatdasein verhärtet, Marxisten und Kommunisten sind. Dass Wekwerth ihn in die Leitung des Berliner Ensembles berufen konnte, entsprang wohl auch der Überlegung, ihn gleichzeitig aus der Schusslinie zu nehmen und unter Aufsicht zu halten – aber durch Zugeständnisse doch auch im Lande zu halten.

II. Brauns Theaterästhetik und ihre Berater

In erster Linie ist Brauns Arbeitsbuch genau das, was dieser Untertitel zu verstehen gibt, ein Buch, in dem vor allem der Dramatiker die Arbeit an seinen Theaterstücken vorantreibt. Er führt darin gewissermaßen Protokoll über die Diskussionen, die er mit anderen Schriftstellern oder mit Literaturwissenschaftlern und Theaterleuten über die Konstruktion seiner Stücke führt: Großer Friede, Simplex Deutsch, Dmitri, Die Übergangsgesellschaft, Siegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor und Transit Europa – eine reiche Ernte dieser zwölf Jahre. In vielen Passagen denkt der Insider der Theaterarbeit darüber nach, wie Wirkungen erzielt werden, wie man vom Text zur Inszenierung kommt, wenn dazwischen ein Abgrund klafft, den die Geschichte nach jeder Überbrückung neu aufreißt. Die Teller, Schlenstedt, Mittenzwei, Mickel und viele andere, nicht zuletzt die Theaterleute in Ost und West, bilden eine geistige Umgebung von bewundernswertem Reflexionsniveau und mit einem reichen Fundus von Anregungen, verwickelt in die ständige Beratung, die Braun mit ihnen und mit sich selbst führt. Dazu kommt der weitere literarische oder künstlerische Kreis, in dem Braun sich bewegt. Seine Texte kommunizieren nach vielen Seiten; sie stehen selbst, machen sich aber durchsichtig auf die anderen, denen sie sich in der Differenz oder sogar Negation mitverdanken. Einige Eintragungen wirken wie kommentarlose Anwesenheitslisten im Gästebuch des Parnass, wüsste man nicht aus zahlreichen Notizen, dass Braun in diesem Personenkreis seine Kriterien für das, was literaturästhetisch möglich ist, ständig auf die Probe stellt und weiterentwickelt, auch an Theaterproduktionen in Ost und West fremde Arbeitsweisen beobachtend.

Zu den Lebenden, an denen er seine dichterische Produktionsweise bemisst, gehört nicht zuletzt Heiner Müller. »shakespeare, brecht, müller, alles machtspiele. brecht fügt shakespeare etwas hinzu, indem er die psychologischen entschuldigungen ausstreicht. das dilemma die endlichkeit seiner fabeln: man kapiert die kausalität. müller der phänomenologe und somit ein großer dichter, der auf der unendlichkeit reitet. nach der hellen die schwarze kunst.« (27.3.85) Zu Müllers Stück Verkommenes Ufer Medea Material notiert er am 10.8.82 in verschlüsselnden Worten: »sein theater wird immer kräftigeres papier; und wie er darauf scheißt, steckt er die lyrik in die tasche. ich habe sympathie für konsequenz, auch für die irre. das offi zielle morgenrot, der ewige silberstreif der medien – und die literatur zückt die spitzhacke.« Dann fängt der Text an, sich zu entschlüsseln: »man nährte sich in den ›schweren jahren des anfangs‹ von der illusion, die russen hätten uns befreit, um die deutsche räterepublik zu verwirklichen; sie hatten den sicherheitskordon im sinn. der sozialismus als kolonialverfassung: die 3. welt beherrscht uns (sie hat ihr standbein in der su) und hält die 1. in schach. ohne dies bein kommen wir nicht vom fleck.« – Während Müllers Regieanweisung sagt, das Stück setze »die Katastrophen voraus, an denen die Menschheit arbeitet«, situiert Brauns Notiz die Gegenwart anders: »wir müssen die geschichte vom punkt der niederlage sehen. von dem ideologischen/defätistischen podest herunter an den kahlen anfang, der zu machen ist.« Zu Müllers 60. Geburtstag heißt es dann: »ich habe mein leben lang von dem älteren gelernt, [...] und ich weiß, wohin ich nicht folge, aus schwäche oder aus mut« (9.1.89).[3]

Wie Peter Weiss, den er kurz vor dessen Tod kennenlernte und dessen Ästhetik des Widerstands samt der begleitenden Notizbücher zu den exzerpierten Werken gehören, setzt er seine Schreibweise mit der Bildenden Kunst in Beziehung. So nimmt er zum Beispiel Maß an der Erotomanie in den Pornographien des 90-jährigen Picasso: »wie schreiben, ohne ihn zu ignorieren. wie sieht ein gedicht aus, das sich neben diesen radierungen und kaltnadelstichen lesen lassen kann.« (20.6.80) Nicht nur die ästhetischen Entwicklungen verschieben den Frontverlauf des künstlerisch Möglichen, sondern der geschichtliche Zeitkern der möglichen ästhetischen Wahrheit gibt keine Ruhe. Einer der Literaturwissenschaftler, der einen Sinn dafür hat, ist Robert Weimann. In einem Vortrag in der Akademie der Künste stellt er 1984 die Bindung an den klassischen bürgerlichen Realismus in Frage, sucht nach »umfassenderen quellen, auch vorbürgerlichen« und deutet auf »›eine gärende und zugleich schon exploitierte neue weltkultur, deren bloße existenz die unsere mit fragen und widersprüchen tieferer art umgibt‹« (23.7.84). »die wirklichkeit selber arbeitet die texte um, man muss ihr folgen, um realistisch zu bleiben.« (17.3.80) Aber wie ihr folgen, wenn neu erfunden werden muss? Riskiert man, ›der Wirklichkeit folgend‹, aus ihr herauszufallen? Nach der Premiere des Simplex – »lehrstück und absurdes theater« (16.1.80), wo aus der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts »Züge der sich entwickelnden Menschheit« (10.8.78) hervortreten und kein Tabu des Sozialismus geschont wird – ist »das publikum verwundert und gespalten, der erfolg solcher schockbehandlung nicht zu registrieren« (26.4.80). Aber noch sichert ihm der permanente Ausnahmezustand der DDR sein Publikum.

III. Der Widerspruch

Wenn nach Hegel alle große Kunst und Philosophie auf dem Boden sozialer Zerrissenheit entspringt, die sie aufzuheben versucht, so ist es hier die Kluft zwischen dem ›real existierenden‹ Sozialismus und seinem von Marx und aus der Arbeiterbewegung her artikulierten Anspruch, die diesen zum irrealen und erst noch zu realisierenden Sozialismus stempelt. Zu einem Schlüsseltext über die innere Geschichte der DDR wird das Arbeitstagebuch dadurch, dass es sich durchweg in diesem Widerspruch bewegt, »der die Gesellschaft anders teilt, nicht einfach in oben und unten« (13.10.2009, Gespräch mit Lothar Müller). Es ist derselbe Widerspruch, der den Witz von Brauns Hinze-Kunze-Roman antreibt. Laut Mittenzwei war das sein »frechstes, aber unkritischstes buch« (7.8.82). Doch entweder war dies Urteil für die Ohren des Zensors gedacht oder es schätzte die Wirkung falsch ein. Jedenfalls war es ein endloses Hin und Her. »es fällt mir schwer, mich der heiterkeit zu erinnern, die mich beim schreiben trug.« (27.7.82) In sich zurückgestauter Zorn, der weiß, dass er den Stellungskrieg führen muss. Als der Roman fast weitere drei Jahre später endlich gedruckt werden durfte, wurde er alsbald beschlagnahmt (14.9.85), des »anarchosyndikalismus« und »neotrotzkismus« bezichtigt (15.9.85). Nach drei Tagen wurde das Verbot im Volksbuchhandel aufgehoben, aber die Auslieferung behindert. Es war schließlich Höpcke gewesen, »der die Druckgenehmigung für den ›Hinze-Kunze-Roman‹ dann doch erteilte und ob seiner Eigenmächtigkeit ein Parteiverfahren erhielt« (Jens Bisky, SZ, 7.11.09). Auf einen scharfen Verriss im Neuen Deutschland folgte eine Konferenz der Weimarer Beiträge, wo Hans Koch zum Angriff auf Roman und Nachwort blies. »hahn [Erich?] sah glatte kapitulation: ich ginge konform mit der neuen westlichen mache, sich nicht mehr mit dem sozialismus zu konfrontieren, sondern ihn an seinem eignen anspruch zu messen.« (22.9.85) Sich offen im Grundwiderspruch der DDR zu bewegen, war offenkundig nicht ungefährlich. Die Waffe gegen Hahn holte sich Braun von Hans Mayer, von dem er »mit dem schwung eignen rechts« den wunderbaren Reimspruch von Karl Kraus »herausgeschleudert« hörte (26.11.86):

AN DIE SUCHER VON WIDERSPRÜCHEN

mein wort berührt die welt der erscheinungen,
die darunter oft leider zerfällt.
immer noch meint ihr, es gehe um meinungen
aber der widerspruch ist in der welt.

Braun verzeichnet hellsichtig, was die DDR ihrem Untergang entgegentreibt, doch tut er dies vom Standpunkt des in ihr Unverwirklichten, das auch nach ihrem Untergang keine Ruhe gibt. Das Buch schließt mit der Eintragung, dass wir »die alten wahrheiten, die alte zukunft« nicht loswerden, »weil wir sie nicht gelebt haben [...]. aber es bleibt eine geringe spanne zeit. dann werden wir den möglichkeiten nach blicken.« (31.12.89) In Tönen, die an Goethe und Mörike anklingen, hat Braun diesen geschichtlichen Moment der verlorenen Möglichkeiten festgehalten: »Was ich niemals besaß, wird mir entrissen. / Was ich niemals lebte, werd ich ewig missen.« Doch dann bricht das Gedicht aus dem süßen Wehmutston aus: »Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. / Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. / Wann sag ich wieder mein und meine Alle.« (Das Eigentum, Arg. 183/1990)

Misswirtschaft? scheiternde Wirtschaft? Vor allem war die DDR überhaupt schon einmal Wirtschaft als politisch-gesellschaftliche Aufgabe – unter schlechten Umständen in stalinistische Form gepresst, stecken geblieben in den Widersprüchen der poststalinistischen Strukturen. »die folgen stalins werden erst heute in ganzer härte spürbar.« (7.12.82) Und dennoch, was in der Negativität der DDR abwesend ist, ist als Fehlendes und Irreales eine Quelle kritischer Produktivität. Von Irene Böhme, die in den Westen gegangen war und jetzt als Dramaturgin am Schillertheater arbeitete, notiert Braun die Bemerkung, »drüben«, nämlich in der DDR, »sei hoffnung im spiel gewesen. hier«, nämlich in der BRD, »sei es sehr schön, und sehr sinnlos«. »wofür sie ihre arbeit mache, wisse sie nicht mehr. man werkle elegant ins leere.« (8.2.84) Hier ist der Macht egal, was der Künstler macht oder was Theoretiker diskutieren. Braun notiert dies, nachdem ihm Dietrich Sattler nebst einigen der von ihm herausgegebenen Hölderlin-Bände seine Thesen zur Staatenlosigkeit überreicht hat. »so ein traktat hätte bei uns skandal gemacht, und das bürgerliche Feuilleton hätte sich vor lust überschlagen. hier die folgenlosigkeit der literatur.« (29.1.86) Nur die Folgen, welche die Kunst einzig in der DDR hatte, waren für die BRD interessant.

IV. Etwas wollen, verdichtet

Die Texte sind ein ästhetischer Genuss, aber nicht kulinarisch. Das macht, dass es ihnen »um etwas geht«, dass sie etwas in Bewegung zu bringen suchen. Ihre Seele ist genau das, was den bürgerlichen Literaturberednern entgeht, »die jenes ändere die welt nicht brauchen, wie könnten sie begreifen, die kunst zu ändern?« (29.1.83) Es soziales Engagement zu nennen, bliebe, obgleich progressiv gemeint, auf die innerbourgeoise Alternative beschränkt, bei der jemand, der es nicht nötig hätte, sich für die ›sozial Schwachen‹ engagiert. Das hier auszulotende Engagement reicht viel tiefer und weiter und ist das Engagement eines, der es für seine eigenste Sache nötig hat. Es zehrt vom selben artesischen Kraftquell wie etwa das Projekt der Zapatistas, denen, die keine Stimme haben – Dingen, Menschen, in letzter Instanz dem Gemeinwesen –, zu einer Stimme zu verhelfen und damit selbst eine Sprache zu finden.

Als Braun seinem DDR-Schriftstellerkollegen Mickel eine Sammlung von Texten zur Begutachtung vor der Veröffentlichung vorlegt, nimmt dieser gerade an den Zügen Anstoß, die uns hier interessieren: »NEUER ZWECK behelligt ihn schon, ›weil es was will‹. sein purismus pure scheu vor vermengung ins zeitgetriebe, selbstschutz. was er will: reine gegenständlichkeit, absichtslos.« (24.8.77) Braun merkt an: »es gibt kein konzept, dem ich mehr respekt zolle.« Zollt er Mickel auch Respekt, was sich schon daran ablesen lässt, dass er von ihm das Motto seines Arbeitsbuchs borgt, so ist Mickels Weg doch nicht der seine. Braun schreibt gewiss nicht absichtslos und riskiert allemal die Vermengung ins Zeitgetriebe. Während der Arbeit an der Neuinszenierung von Brechts Galilei notiert er: »wie langweilig wäre, in alter gesellschaft lebend, die beschäftigung mit dem alten; wie anregend wird sie, bauend eine neue.« (13.9.77) In Klammern ruft er sich allerdings zur Ordnung: »das ist aber geborgter brecht-ton.« Und immer deutlicher wird ihm in den Folgejahren, dass, was die seinerzeitige geschichtliche Konjunktur Brecht möglich machte, ihm die jetzige verwehrt.

Brauns Selbstschutz macht Gebrauch von der poetischen Produktivkraft. Dem Sprachkörper seiner Notate gewinnt er Mehrdeutigkeiten ab, die sich zu ästhetischen Verrätselungen übersteigern können, immer jedoch gezielt kalkulierte metaphorische Entführungen darstellen, die dem Zensor den Beleg vorenthalten, ohne der Verständlichkeit Abbruch zu tun. »diese gesellschaft mit ihren losungen und laffen muss einmal auf den grund, sie muss sich zum grunde richten.« (17.12.82) Nach einem westberliner Hölderlinabend notiert er die »stimmigkeit in den unsäglich schönen klagen, man lauscht stumm dem eignen diffusen schrei. [...] der eiserne vorhang zwischen einst und jetzt, verrostet, und wir finden uns wieder auf selbem eisfeld.« (13.12.77)

Die Aura des gelungenen Gedichts bietet einen Schutz, den kein politisch-theoretischer Text als solcher genösse. Unter Bedingungen der Unfreiheit der öffentlichen Rede muss der Gedanke zum Gedicht werden, um ins Freie zu kommen. Die Poesie ist sein Passepartout. Dem Dichter aber wächst die Aufgabe des Politikers im ursprünglichen Wortsinn eines organischen Intellektuellen des Gemeinwesens zu.

In einem Interview auf der Buchmesse anlässlich des Erscheinens der Werktage nennt Braun seine Eintragungen »Klartexte, völlig rückhaltlose Notierungen«, »als wenn man seine Seele abliefert«. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Und ob er zurückhält! »wie viele regungen, die nicht in dieses journal kommen. der starre blick auf die erdbeben, verfremdung des herzbebens. die überlegung heraushalten aus den abgründen des privaten: die in der arbeit klaffen.« (23.12.77) »diese notate sind flüchtig wie ich lebe. ich rase mehr, als dass ich atme. und wo ich zur sache kommen will, zu mir, schweige ich still. aber ist die liebe keine produktion?« (14.9.80) Aus den Abgründen des Privaten hält er seine Reflexionen heraus wie ein Eingeschlossener seinen Kassiber. Aus dem Verschwiegenen tauchen die Worte auf. Er zensiert sich nicht nur für die Zensur, auch nicht nur zum Schutz seiner Intimsphäre, sondern auch um beim Salto mortale ins Allgemeingültige der Literatur hinderliches Gepäck abzuwerfen.

Was die Werktage wirklich bieten, sind geklärte und unterkühlte Notate, die von einer enormen ästhetischen Verdichtungsarbeit zeugen, wie man sie seit Brecht und Weiss kaum mehr gelesen hat und die an Gramscis Bestreben denken lässt, etwas »für ewig« zu schreiben. Es sind Notizen zur Zeit, die just dieser entgehen wollen. Sie lassen die Emotionen des Autors fast nur als in den poetischen Tönen anklingende oder im Bild des Gegenstands nachhallende zu.

Wo er über sich spricht, spricht er in den meisten Fällen indirekt, im Spiegel des Materials und der Exzerpte, die er zusammenträgt. So wenn er bei einer Reise durch die Schweizer Alpen, passenderweise in Sils Maria, den Satz von Nietzsche exzerpiert: »›mir besteht mein leben jetzt in dem wunsche, dass es mit allen dingen anders stehn möge, als ich sie begreife‹; dies wünschen, das auch uns ›bis in die wurzeln hinein malträtiert‹.« (12.8.85) Auch Ernst Blochs Überlegungen in den Spuren zur Gestalt des Hochstaplers lesend, muss er an sich selbst gedacht haben. Er stößt darauf bei der Arbeit an dem Theaterstück Dmitri, das sich an Schillers Demetrius-Fragment anlehnt und sich mit der gleichnamigen Gestalt des ›falschen‹ Zaren vom Anfang des 17. Jahrhunderts auseinandersetzt. In den anderthalb Seiten, die er am 30.11.79 daraus exzerpiert, spiegelt er sich selbst, ohne eine Silbe zu sich zu sagen. Denn Bloch berührt hier die intellektuelle Überschreitung, in der auch er selbst als Philosoph und öffentlicher Intellektueller sich dereinst geltend gemacht hat: »kein vorstoß ins ›höhere‹, auch der wirklich produktive nicht, geht ohne selbstbehauptungen ab, die nicht oder noch nicht wahr sind. auch der junge musikant beethoven, der plötzlich wusste oder behauptete, ein genie zu sein, wie es noch kein größeres gab, trieb hochstapelei skurrilsten stils, als er sich ludwig van beethoven gleich fühlte, der er doch noch nicht war. er gebrauchte diese durch nichts gedeckte anmaßung, um beethoven zu werden, wie denn ohne die kühnheit, ja frechheit solcher vorwegnahmen nie etwas großes zustande gekommen wäre.«

In den Eintragungen hält Braun seine Gefühle selbst dort zurück oder erlaubt ihnen nur strategisch dosierten Ausdruck, wo die Zensur ihn an seiner empfi ndlichsten Stelle trifft, wenn sie Bücher am Erscheinen, Theaterstücke an der Aufführung und Braun selbst an Lesungen oder der Annahme für ihn wichtiger Einladungen hindert.

V. Ein Land in dem man am besten schreiben und am schwersten publizieren kann: Ambivalenz der Zensur und der Zensoren

Den öffentlichen Intellektuellen tötet das aufgezwungene Schweigen in der Öffentlichkeit. »man muss sich daran gewöhnen, begraben zu werden. und sich üben, als toter zu agieren.« (9.12.82) Braun sagt sich aber, dass er als Behinderter und Gemaßregelter noch immer im Licht steht und sein Wort führt. »die frage ist doch, wer alles [...] an den rand gerät, nicht ernstgenommen, misshandelt, zurückgestoßen, so dass ers aufgibt, sich einzubringen, nicht mehr der ganze ist für die andern sondern der teil, den sie problemlos akzeptieren. die vielen mit ihren ausgeschlagenen händen und gedanken.« (29.11.79) Noch im offi ziellen Umgang mit Ernst Bloch beobachtet Braun die symbolische Misshandlung. »habe mir zugang zur bloch-konferenz verschafft; eine fast geheime ehrung/verunehrung des hundertjährigen im leipziger senatssaal. seine tellheims, teller oder irrlitz, sind nicht geladen. so kann man ihn als bürgerlichen philosophen behandeln. [helmut] seidel, obzwar respektvoll, stempelt ihn noch einmal zum metaphysiker, ›metaphysik des utopischen‹. [...] aber bei allem missverständlichen getöne und geraune des werks: die angeblich metaphysischen kategorien totum, novum, prozessmaterie, tendenz, latenz meinen doch immer die wirkliche bewegung: vorn ist und wird nichts, als was in der sache selbst arbeitet [...]; blochs ganzer hohn ergießt sich über den anamnesis-bann der vormarxschen philosophie, hegel insonders.« Den ob praxisphilosophischer ›Abweichung‹ ins Gebiet der Antike strafversetzten leipziger Philosophen Seidel, den Braun so in die Schranken weist, verehrt er gleichwohl. Anders Manfred Buhr. »buhr, der nach theologie fahndet, wo es um erlösung vom elend geht, behandelt bloch als ketzer, das heißt für ihn: als kriminellen; blochismus eine philosophie ›verfügbar für unfertige individuen‹ – und man sieht buhr an, wie fertig er ist. das alleinseligmachende hat er in der (akten)tasche, blochs kampfposition wird als sozialismusfeindlich verdächtigt. und die angst, dass er marxist sein könnte! das hieße ›begründungspluralismus‹, man habe ›nicht nur für die entwicklung des marxismus, sondern für seine reinheit‹ sorge zu tragen. – ah, in den dreck damit!« (28.6.85)

Vieles sagt Braun gar nicht selbst, sondern lässt es andere sagen. Als rechnete er damit, dass seine Zensoren Zugang zu seinen Aufzeichnungen haben, webt er etwa Kants Erfahrung mit der Zensur als Doppelspiegel ein oder lässt Goethe für sich sprechen: »Ich musste mehrmals meine Existenz aus ethischem Schutt und Trümmern wieder herstellen, ja tagtäglich begegnen uns Umstände, wo die Bildungskraft unsrer Natur zu neuen Restaurations- und Reproduktionsgeschäften aufgefordert wird.« (28.9.85)

Er sagt nicht alles, was er weiß, aber er weiß, was er sagt, wenn er die DDR das Land nennt, »in dem man am besten schreiben und am schwersten publizieren kann« (2.8.77). Und etwas später, angesichts der Dresdner Kunstausstellung: »aber je weniger wir unter der zensur, desto mehr müssen wir unterm dilletantismus leiden. neue vielfalt des mittelmaßes« (21.10.77). Stammen Dunkel und Licht aus derselben Quelle? Mit der Zensur hat es in der Tat seine eigene Bewandtnis. Auf die Vorhaltung seitens der staatlichen Literaturaufseher, er rede immer von Veränderung, wolle also wohl »die verhältnisse umstürzen«, verweist er darauf, dass die »offiziellen denker« bzw. »ihr regierendes bewusstsein« jene »veränderung, von der ich manchmal rede, schon sähen« und dadurch »wieder andere, die noch ein auge auf der wirklichkeit haben, davon[treiben] ins private exil [...]. der übung, alles brisante zuzudecken, entgingen sie, nicht mehr aus sich herausblickend. so sträubten sich die einen wie die andern gegen die realität. indem dies sträuben literatur werde, zeige es immerhin, dass literatur ein gesellschaftliches verhältnis sei.« (30.9.77) Hier ist es das Verhältnis einer Zielgemeinschaft, bei der die herrschende Seite das Ziel als erreicht behauptet, die beherrschte es als erst noch (und anders) anzustrebendes begreift.

Die obersten Zensoren, von denen vor allem Kurt Hager, im SED-Politbüro für Kultur- und Bildungspolitik zuständig, und Klaus Höpcke, stellvertretender Kulturminister der DDR, immer wieder, selbst in Träumen, vorkommen, sind ihrerseits nur begrenzt frei in ihren Entscheidungen, wie ja der DDR-Staat, dem sie dienten, nicht oder nur beschränkt souverän war. Die DDR existierte als Lizenz der SU. Das nominelle Volkseigentum war ordnungsgemäß Staatseigentum, der nominelle Staat des Volkes war, von diesem unkontrollierbar, tatsächlich Eigentum der ihrerseits steil hierarchisch angeordneten Nomenklatura; die Nomenklatura behauptete sich als Mission des Marxismus, dessen Auslegung sie sich strikt vorbehielt. Aber der Marxismus eignete sich schlecht zur Privatsache. So riss er zumindest die nicht korrupten Teile der Nomenklatura hin und her. Höpcke und Hager waren nicht nur Zensoren und Neinsager, sondern auch Zuhörer und Leser, die sich dem Werk von VB nicht einfach verschließen konnten. Die Macht hielt sie fest, wie sie an ihr festhielten, aber Herz und Verstand, nicht freilich der Mund, konnten sich dem Verlangen des Gemeinwesens (und nach ihm), das unter bürgerlichen Bedingungen für gewöhnlich religiös eingekapselt ist, nicht entziehen. »schreibe, auf höpckes rat, eine beschwerde an ihn. (es sollte mich nicht wundern, wenn diese übung bis in die spitze fortgesetzt wird; die es dann wieder der basis geigt.)« (7.5.81) Er gibt seinen Oberen, die gebildet genug sind, ihn als Dichter auf andere Weise über sich zu wissen, immer wieder schwer zu denken, aber wirklich zu denken. Als Höpcke ihm vorhält, die Berichte über Hinze und Kunze seien »unter meinem bewusstsein«, zieht er den Vorwurf ins Poetologische und entlockt ihm das Gegenteil: »das ist ja eine hauptsache beim schreiben: unter dem bewusstsein zu bleiben und sich den dingen zuzuwenden und die verhältnisse neu zu ergründen.« (6.3.83) Zu Hager, der ihn einbestellt hat, sagt Braun: »in meinem alter war schiller tot, und ich werde behandelt wie ein domestik. ja meinst du, erwidert hager, mir ginge es anders? mir wird auch oft die arbeit schwergemacht und verleidet, so dass ich mitunter alles hinschmeißen möchte.« (26.3.86)

Braun wird elendig hingehalten, Genehmigungen werden verweigert, verzögert, widerrufen. Sein Guevara konnte nicht aufgeführt werden. Man hatte es dem kubanischen Botschafter vorgelegt, der darin nicht die offizielle kubanische Guevaralegende respektiert fand. Der diplomatische Einspruch war der Parteispitze willkommen. »höpcke [...] verlangt, den satz das ist die zeit des apparats nicht mehr herauszunehmen - aber dafür habe ich keine zeit« (4.2.77). Fünf Jahre später: »also LENINS TOD nicht wegen den russen, GUEVARA nicht wegen den kubanern, DMITRI nicht wegen den polen, und alles das, weil ich unter den deutschen bin.« (5.2.82)

1984, im selben geschichtlichen Moment, in dem im Westen die DKP ihre Intellektuellen zum konzentrischen Angriff gegen den Kreis um Das Argument aufgeboten hat[4], ist für Volker Braun der Tiefpunkt erreicht: »nichts scheint mehr druckbar«. Diese Notiz ist Teil einer Flucht zumeist unvollständiger Sätze, die, in jähem Stilwechsel zum inneren Monolog, die bei weitem umfangreichste Eintragung ausmachen. Hier spricht er, eingesprengt zwischen viele durcheinanderredende Stimmen in seinem Innern, nun auch über sich als einen, der immer schon »ungehorsam« gewesen ist; »ein jahr bewährungsfrist in der schule, fristlos entlassen in der druckerei, um ein haar exmatrikuliert [...], ich habe immer als ungläubiger geschrieben.« In Ungarn, mit Fühmann und Dante als Reiselektüre, am 21. und 22. August niedergeschrieben – »der urlaub ist verdorben mit dem strich durch die mehrjährige rechnung« –, dokumentieren diese zwölf Druckseiten eine Krise, in der ihn der Gedanke belagert (den er vor der Abreise in einem Brief an Höpcke signalisiert hat), in den Westen zu gehen. »aber wenn das, was ich schreibe, ›im widerspruch zur partei‹ steht, [...] wie kann ich dann mitglied sein? niemand fragt mich das, aber es ist unerträglich, diesen widerspruch zu leben: eine bedeutende kultur- politik mitzutragen und ihr ein ärgernis zu sein«. In Gedanken spricht er mit anderen, etwa Christa Wolf oder Peter Weiss, dessen Satz von der Notwendigkeit, dass wir uns selbst befreien, ihm durch den Kopf geht.

das heißt aber in der partei eigenmächtig

oder der schritt vom genossen in der partei zum genossen außerhalb der partei

Soll er wirklich in den Westen gehen? Nein, widerspricht es in ihm, »der schritt ist keine lösung. ich will mir nur die hände frei machen ... (um sie wem zu geben?) [...] dante hat sich nie abgefunden mit der vertreibung aus der kommunalen gemeinschaft, ›florenz, die brennende wunde ... die er stets von neuem schmerzhaft berühren muss‹ (heintze). so würde es uns im ausland gehn. der sozialismus die heimat, die uns nicht erträgt; die ich verlassen kann, die mich nicht verlässt; die herkunft und die zukunft«.

Der Gedanke an das »illusionäre des sich-nach-drüben-sehnens – was immer das drüben ist« (11.4.85) hält ihn zurück. Die Einsicht, dass, was ihn treibt, zugleich »ein inwendiger hunger« ist, macht ihm klar: »das weggehn – das bleiben, das sind zwei falsche alternativen. ›du fändest ruhe dort‹: wodenn? ich kann nur, die welten wechselnd, die starren sphären durchdringen. auf den kreuzungen stehend, an den grenzen, an der ›nahtstelle der systeme‹, etc. der raum, die ruhe: das ist die arbeit.« (25.5.86) Doch der Arbeit an der Geschichte stößt es schwer auf, dass sie Arbeit in der Geschichte und unter Bedingungen ist, die sie nicht kontrolliert.

VI. Der ›kommunistische‹ Unterstrom der Geschichte

Die Notate zeigen Braun als einen, der den Finger am Puls dessen hat, was man – in einem philosophisch zurückzugewinnenden Sinn – den kommunistischen Unterstrom der Geschichte nennen könnte. Ihm entnimmt Braun das Kriterium, an dem »die tiefere wahrheit [...], die vollkommnere poesie [...] zu messen sein wird« (28.12.79). Es bleibt bei »moralisiererei, wenn nicht die andere möglichkeit durchscheint, nicht als erlösung, nicht als utopie, sondern innewohnende substanz der geschichte« (10.8.78). Letzteres, im Kontext der Konstruktion eines Theaterstücks formuliert, deutet aber die harte Frage an uns und von uns an die Verhältnisse an, die aus den immer gewaltigeren Krisen der postkommunistischen Welt auftaucht und um Worte ringt. Zugleich wird deutlich, dass die DDR trotz des Geburtsfehlers einer stalinistischen »Kolonie« und trotz des darin beschlossenen Verrats am Erbe aller demokratischen Revolutionen eine geschichtliche Würde eigenen Rechts besaß. Sie gründet in der paradoxen Form des Darüber-hinaus und des sie wie ein vorwurfsvoller Schatten begleitenden Selbstwiderspruchs, aber auch darin, dass sie sich in einer Richtung vorantastete, die, in noch kaum vorstellbaren Formen, sich einmal als die gebotene herausstellen wird: Produktions- und Lebensweise der Profitlogik und dem Finanzkapitalismus zu entreißen und solidarisch und dem Biotop der Menschheit gemäß nachhaltig zu gestalten. Wenn Marx sagt, dass die Gesellschaft »nun einmal nicht ihr Gleichgewicht [findet], bis sie sich um die Sonne der Arbeit dreht« (MEW 18, 570), so begreift Braun und verteidigt es gegen André Gorz’ »Abschied vom Proletariat« (10.4.82), dass damit die Frage des Weltfriedens von Grund auf gestellt ist. »die arbeit hat den menschen geschaffen, wie er ist, nur arbeit, andere arbeit, wird ihn ändern.« (13.5.86)

Was ist das für eine Gesellschaft, deren Staat angesichts der erkennbaren Verhandlung ihrer Gestaltungsfragen auf der Bühne oder in der Literatur, wie überhaupt im öffentlichen Diskurs um seinen Bestand fürchten muss? Die polnische ›anti-kommunistische‹ Arbeiterbewegung und das sie unterdrückende Militärregime stoßen Brauns Refl exionen vorwärts: »für den sozialismus ist nichts gefährlicher als die sich revolutionierende klasse« (3.10.80). »in der friedensbewegung steckt ein kommunistischer impuls. auch deshalb haben wir sie nicht auf unseren straßen.« (14.12.81) »die graue farblose masse im morgennebel an den kreuzungen. das war einst die deutsche arbeiterklasse. das geht an die maschinen und frisst die fernsehscheiße. [...] wir sind die bastion des friedens. [...] aber frieden heißt den staat bekämpfen. frieden heißt: die gesellschaft, die sich selbst bestimmt.« (17.11.81) »denn in wahrheit kann sich der reale sozialismus nur als militärdiktatur verstehn.« (25.12.81) »in diesen aussichtslosen zeiten gewinnt das marxsche wort vom kommunismus als wirklicher bewegung seinen subversiven sinn.« (9.10.82) »auf den irgendwann entwickelten sozialismus wird der unentwickelte kommunismus folgen. die befreiung eine lange arbeit, die uns verbraucht und von uns nicht erledigt wird. [...] es geht auf dem theater heute um die entwicklung des sozialismus von der wissenschaft zur utopie. der ausbruch, den das stück selbst leisten muss aus dem fl üchtigen getriebe der alten fabel, ist der in den kommunismus. in den schlimmen zeiten der verfolgung und des schlachtens war die utopie näher [...]. der kommunismus das innerste land, gewiss, aber aller kontinente und rassen [...]. uns müssen aber die vielen interessieren, die ihre chance ergreifen in diesem zähen, kalten, unabsehbaren übergang.« (11.4.85)

Das Paradox löst sich auf, wenn man sich klar macht, wie nahe die DDR an umfassender Demokratie wohnte. Wie fürs klassische Athen in seinen Tagödienwettbewerben war für sie das Theater eine zutiefst politische Angelegenheit. Es hätte ›nur‹ des Wahrmachens des verkündeten Anspruchs bedurft, ein Nur, das freilich ein noch immer Unvorstellbares, weil von der Welt noch nicht Gesehenes birgt. Die Blockierung ihres eignen Anspruchs verwehrte ihr jeden utopischen Vorschein. Daher das von Braun am Beispiel des westlichen Feminismus beobachtete Folgeparadox, dass »in der ›alten welt‹, die die zukunft vereitelt, man näher bei der utopie [wohnt], und man die zukunft in wieder erreichbarer ferne sehn [kann]« (6.9.85).

Es greift zu kurz, in Braun nur den Vertreter der »kritisch-loyalen Intelligenz der DDR« zu sehen (Jens Bisky), statt den revolutionär-kritischen Intellektuellen, der immer klarer sehen lernte, dass eine radikale Umwälzung der Verhältnisse erfordert wäre, um die klassischen Zielvorstellungen zu verwirklichen und den »künftigen freien unvorstellbaren menschen« (25.8.82) den Weg freizumachen.

VII. Die Erfahrung der Lesungen

»gestern lesung beim einstand in rostock, eine großveranstaltung.« (14.6.81) »buchmarkt bei schönem wetter in leipzig. der tisch (gar nichts neues drauf) bricht zweimal zusammen unter dem ansturm. die verkäuferinnen außer atem vom gegenhalten. so eine unvernunft! schreien sie, in die lesehungrige menge.« (19.9.81) Die Notizen über Brauns Begegnungen mit seiner Leserschaft sind wie Seismogramme. Sie vor allem lesen sich »wie die über Jahre fortlaufende Ankündigung einer Revolution« (Bisky). Bei aller Refl ektiertheit wirken sie traumhaft, wie man überhaupt häufig nicht ans eigne Gespür für das glaubt, was heraufzieht. »gestern lesung im überfüllten ahrenshooper kunstkaten. die satiren vor höpckes ohren, er wird, in der ersten reihe, bald lachkarg.« (20.7.84) Der Unterschied zwischen der offiziellen Behandlung, die Braun erfährt, und dem Zustrom und Zuspruch seiner Leserinnen und Leser steigert sich zur unüberbrückbaren Kluft. So am 26.9.85: »ein irrer tag gegensätzlichster empfi ndungen.« Vormittags eine halb verhüllte Disziplinierungsrede Hagers in der Vorstandssitzung des Schriftstellerverbands. »am späten nachmittag autogrammstunde im brecht-zentrum (das 400 expl. reserviert hat); die schlange darf nicht auf der straße stehen, sie muss sich im hofe drängen und durch die hintertür herein.« (26.9.85) Seit sich in der Sowjetunion die Perestrojka anbahnt, werden die registrierten Ausschläge heftiger. Dichterlesungen werden zu den eigentlichen politischen Aussprachen: »lesungen in dresden [...], görlitz, leipzig (hunderte auf den treppen und stufen, eine angstlose atmosphäre; an einer buchhandlung abwaschfest gesprayt: suche hinze und kunze), karl-marx-stadt. cottbus. als kontrastprogramm eine von der bezirksleitung berlin arrangierte (denn dort lief naumann[5] mit dem büchlein durch die fl ure: ›das bin ich!‹) interne diskussion im kulturbund. mürrisch mümmelnde angewiderte greise. man muss ihnen mit den klassikern kommen, gegen unsere lassalleanischen phrasen. [...] diese elite der niederen phrase aber ist taub in der seele« (14.11.85). »lesung in der akademie. hochgepeitschte stimmung.« Aber dann kommt von denen nichts als »erbitterte Blicke«. »naumann ist abgelöst.« (20.11.85) Die Lawinen der Geschichte lassen sich Zeit und sind desto unwiderstehlicher, wenn sie niedergehen. Nicht nur auf der Bühne hat »das geschehen die wucht des unausweichlichen« (25.6.88). Braun spürt das Herannahen eines Umbruchs am Puls seiner Lesergemeinde. »sie suchen, sie stürzen sich derzeit in die debatte, sie nutzen jeden anlass, die debatte ist nicht aufzuhalten. die partei hat nur die wahl zwischen der revolution von oben und der revolution von unten.« (22.6.88) Auch die Zensur ist auf dem Rückzug. 1970 geschrieben, kann Lenins Tod im Juni 1988 aufgeführt werden. Ein knappes Jahr später bei einer Lesung im Jenaer Zeiss-Planetarium »ist die erdatmosphäre explosiv und jeder offene satz schlägt funken« (11.5.89).

Wiederholt zitiert oder umspielt Braun den Satz des Peter Weiss: WENN WIR UNS NICHT SELBST BEFREIEN, BLEIBT ES FÜR UNS OHNE FOLGEN. Sein Praktisch- Werden in der Endphase der DDR, als innersozialistische Selbstbefreiung, hing an einem seidenen Faden. Die überstürzte Kapitulation der Spitze kappte ihn. Dem Volk der DDR blieb keine Zeit, sich, von unten, organisiert zu befreien. Am Ende bildeten sich statt der Räte, zu denen Volker Braun nicht anders als Heiner Müller aufrief, die Runden Tische. Doch diese versöhnende Mitte konnte leichthändig beiseite geschoben werden, was revolutionär-selbstbewussten Räten nicht passiert wäre.

Das Buch endet mit einer Frage ohne Fragezeichen: »oder läuft das aus dem stacheldraht in die zwangsjacke.« (31.12.89) Als die Würfel mit dem Wahlsieg der CDU gefallen sind, gießt Braun im Juli 1990 den historischen Moment in die berühmten Verse:

Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann
bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text.

(Das Eigentum)

Einen Vorgeschmack der Vergleichgültigung des soeben noch Umkämpftesten hatte er im Mai 1988 in China zu spüren bekommen. Seine Reisenotizen lesen sich auf den ersten Blick heiter, als wäre er die Qual der verendenden europäischen Revolution los und als wäre das Verenden der chinesischen seine Tragödie nicht. »alle fragen ersaufen im gelächter. ›über die schwierigkeiten jener jahre möchte ich nichts erzählen‹ – zhao huan und seine gelehrten lachen schallend«. Die Eintragung endet daoistisch: »alles handeln bleibt problematisch.« (17.5.88) Am selben Tag eine zweite Notiz: »eine imponierende aufsteigergesellschaft, die sich den laudse abschminkt. der GROSSE FRIEDE ist schon gar nicht aktuell«. Zwei Jahre später wird in Deutschland keines seiner Stücke mehr »aktuell« sein. Der Große Friede aber ist Brauns ins alte China versetzte große dramatische Parabel über die Dialektik des Kampfes um eine befriedete Gesellschaft. Der Sache nach brennend, ist sie dem öffentlichen Bewusstsein entfallen, das sich zwischen angenehm-katastrophaler Konsumtionsweise und dem Konsum von Katastrophen im Vorfeld erschöpft.

VIII. Perspektive

Auf der Buchmesse 2009 sprach Braun darüber, wie lange er gebraucht habe, um nach dem Verschwinden der DDR wieder ein Vehikel zu fi nden. Eine der Formen, die er gefunden hat, ist die den Kalendergeschichten der Vergangenheit angenäherte Form eines Romans in Schwänken, wie schon im Hinze-Kunze-Roman begonnen. Ein großes Geschenk an Gegenwart und Zukunft ist nun das Arbeitsbuch, das in Form und Inhalt die Brücke von der Vergangenheit ins ungewisse Morgen schlägt und auf seine Weise »selber ein Poem« (Schütt) ist, wenn man darunter nicht das Schlagen der Leier, sondern das mit Bedacht gesetzte Wort versteht, das das Flüchtige zum Bleiben bringt und das Zerfahrende ins Kurze zusammenzieht und verdichtet.

Erschienen in: Das Argument 285 (1/2010), „Intellektuelles Engagement/Ringen um Weltbürgerrechte (II)“, 11-24


[1] Braun, Volker, Werktage 1. Arbeitsbuch 1977-1989, Suhrkamp, Frankfurt/M 2009 (998 S.,geb., 29,80 €).

[2] Gottfried Fischborn, »Drohgebärden und Umarmungen«, in: Die Gazette, Nr. 15, Herbst 2007 (www.gazette.de/Archiv2/Gazette15/Fischborn.html).

[3] Wer den einen theaterästhetischen Strang der Eintragungen vertiefend studieren will, sollte die zehnbändige Ausgabe der Texte in zeitlicher Folge neben das Arbeitsbuch legen, die 1990 bis 1993, im letzten Moment der schon nicht mehr von der SED beherrschten und in ihrem Verlagswesen noch nicht gänzlich von der BRD verschlungenen DDR erschienen ist.

[4] Unter dem Titel Krise des Marxismus oder Krise des »Argument«? (Frankfurt/M 1984)

[5] Konrad Naumann war Erster Sekretär der Berliner SED-Bezirksleitung.