Phantasiewelt „EU 2020“ – Krisenrealitäten heute

Krisenreaktionen der EU

In der EU ist alles im Schatten der Krise. Das gilt auch für die jüngst präsentierte EU 2020-Strategie der Europäischen Union, welche die bisherige Lissabon-Strategie aktualisieren soll. Dies hätte ein Anlass sein können, der Frage nachzugehen, inwieweit die Lissabon-Strategie zur aktuellen Krisendynamik beigetragen hat. Genau dies ist nicht passiert. Auch der Frage, warum vermeintliche Erfolgsgeschichten der Lissabon-Strategie, vor allem in Süd- und Osteuropa, sich in der Krise als Kartenhäuser herausstellten, stellen sich die EU-Gremien nicht. Stattdessen setzen sie darauf, ökonomisch gescheiterte Politikmodelle fortzuschreiben, wie Elisabeth Klatzer und Klaus Dräger in ihren Beiträgen aufzeigen. Auch soziale Themen, speziell klare Zielsetzungen bei der Armut(sreduktion), wurden zwar im Vorfeld diskutiert, finden sich aber im Dokument nicht wieder. Es stellt sich die Frage, wie langfristige EU-Strategie und kurzfristiges Krisenmanagement in der EU zusammenpassen.

Letzteres zieht derzeit ungleich größere Aufmerksamkeit auf sich. Der Fall Griechenland hat die Bruchlinien zwischen Zentrum und Peripherie in der EU zu Tage treten lassen. Länder mit hohen Leistungsbilanzdefiziten und entsprechend hohem externen Refinanzierungsbedarf geraten durch die systematische Herabstufung durch US-Ratingagenturen und die entsprechend erschwerte Kreditaufnahme zunehmend unter Druck. Allen voran Griechenland. Hierbei ist durchaus eine politische Agenda von internationalen Finanzinstitutionen, institutionellen AnlegerInnen und Rating Agenturen erkennbar. Diese setzen primär Regierungen unter Druck, die einen hohen äußeren Finanzierungsbedarf haben und sich nicht auf eine ultraliberale Sparpolitik verpflichtet haben. Die wirtschaftliche Situation ist in Irland deutlich prekärer als in Griechenland. Die wirtschaftlichen Leitsektoren Irlands - Finanz- und Immobiliensektor - liegen darnieder. Allein die Anglo Irish braucht nach aktuellen Berechnungen eine Kapitalspritze von 22,3 Mrd. Euro, was 13% des irischen BIP entspricht (FAZ, 3.4.2010: 14). Das irische Budgetdefizit ist das am schnellsten wachsende in der EU. Aber die irische Regierung verfolgt eine Wirtschaftspolitik der drastischen Budgetkürzungen und des Lohnabbaus nach Geschmack der AnlegerInnen. So ist Irland weniger im Visier der Ratingagenturen. Auch die perspektivlose Entwicklung Großbritanniens ist im Gegensatz zu Spanien kein großes Thema. Anscheinend sollen über die EU-Peripherie Lohn- und Sozialstaatsabbau in der EU in die Wege geleitet werden.

Zögerliches Krisenmanagement

Dies lässt sich sowohl am Stützungspaket für Griechenland als auch in der verschärften Gangart gegenüber Portugal und Spanien erkennen. Die deutsche Bundesregierung hatte sich lange zögerlich gegenüber einem Stützungsprogramm für Griechenland gezeigt. Sie stimmte einem solchen nur unter der Bedingung einer Beteiligung des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu - wohl um den Zorn über die sozial verheerenden Wirkungen nicht allein auf Brüssel und Berlin, sondern auch ein wenig auf Washington zu lenken. Das Stützungsprogramm für Griechenland umfasst 80 Mrd. Euro von den Euro-Zone-Staaten und 30 Mrd. Euro vom IWF. Mit der Eskalation des spekulativen Drucks auf die südeuropäischen Länder verabschiedete die EU am 10. Mai einen allgemeineren Stützungsmechanismus für die Euro-Länder mit hohen Leistungsbilanzdefiziten und Problemen bei der externen Finanzierung. Dieser Mechanismus ist mit 500 Mrd. Euro dotiert. 60 Mrd. Euro sollen von der EU direkt kommen und mit scharfen Konditionalitäten im Kontext von gemeinsamen EU/IWF-Programmen kommen. Weitere 440 Mrd. Euro sind für ein Special Purpose Vehicle vorgesehen, das von den Eurozonen-Mitgliedsstaaten garantiert wird. Weitere 250 Mrd. Euro werden vom IWF erwartet. Diese Summen sind erklecklich. Sie spiegeln das Ausmaß der Inflation bei den Finanzaktiva in den letzten 15 Jahren wider. Das lange Zuwarten bei Stützungsmaßnahmen für die EU-Mitgliedsländer, das ganz im Gegensatz zur Hilfe für Banken in Rekordzeit im Herbst 2008 steht, hat den Einsatz weiter erhöht. Der Druck der SpekulantInnen konnte die derzeitigen Dimensionen annehmen, da in den letzten 18 Monaten der verschärften Krise keine ernsthaften Maßnahmen zu einer stärkeren Kontrolle der Finanzmärkte unternommen wurden. Ebenso wurde versäumt den Bankensektor im Gefolge der Bankenstützungspakete entweder (teil)zuverstaatlichen oder zumindest mit starken Auflagen für die Kreditpolitik zu versehen.

Die mangelnden Auflagen für die Banken stehen im Gegensatz zu den extrem weit gehenden Auflagen für Griechenland und dem verschärften Kurs gegenüber Spanien und Portugal. Zu radikalen Senkungen bei Gehältern im öffentlichen Dienst um etwa 16% und starken Einschränkungen bei Pensionen kommen forcierte Privatisierungspolitik - zugunsten westeuropäischer Konzerne - und Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten hinzu. Das Programm hat den klassischen Zuschnitt der IWF-Programme der 1980er und 1990er Jahre. Die Anpassungslasten werden einseitig den Defizitländern aufgebürdet, die zu einer deflationären Politik angehalten werden. Die Leistungsbilanzüberschussländer, allen voran Deutschland, verweigern sich einer stärker expansiven Lohn- und Fiskalpolitik, die unbedingt erforderlich wäre. Die deutsche Bundesregierung hat potenziellen Unterstützungsmaßnahmen für Griechenland nur unter Beiziehung des IWF, die anscheinend den Zorn von Brüssel und Berlin ablenken soll, und unter der Bedingung einer strikt pro-zyklischen und deflationären Politik zugestimmt. Es gibt Tendenzen, die budgetären Befugnisse der Europäischen Kommission auszuweiten. Hier zeichnet sich ein autoritäres Finanzregime ab, das zunehmend das parlamentarische Budgetrecht aushebelt.

Perspektivlose Sparpolitik

In Griechenland wird das parlamentarische Budgetrecht bereits jetzt ausgehebelt. Die Regierungen der Euro-Zonen-Länder und der IWF haben der griechischen Regierung sehr weitgehende und detaillierte Budget-Auflagen gemacht. An den Ursachen der Krise geht die einseitige Fixierung auf die Budgets vorbei. Steigende Budgetdefizite sind Konsequenzen, nicht Ursachen der Krise. Der Dynamik der privaten Verschuldung, die eng mit der zunehmenden Einkommensungleichheit zusammenhängt, wird nach wie vor kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Die restriktive Wirtschaftspolitik in den Ländern der EU-Peripherie zielt auf eine Deflation. Deflation und Rezession gehen Hand in Hand. Sie verschärfen die Schuldenproblematik. Die Kürzungen der Staatsausgaben sollen sich auf 7% des derzeitigen BIP belaufen und sind bei Stellen- und Gehaltsabbau im öffentlichen Dienst sowie Pensionen konzentriert. Zusätzliche Staatseinnahmen, vor allem über eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes von 19% auf 23%, sollen 4% des BIP einbringen. Eine derart scharfe Sparpolitik wird eine deutliche Rezession auslösen, die wiederum die Budgeteinnahmen einbrechen lässt. So dürfte eine Abwärtsspirale in Gang kommen, die wiederum neue Forderungen nach noch schärferer Sparpolitik auslösen wird. Die Absenkung des Budgetdefizits von 13,6% auf 2,6% bis zum Jahr 2014 ist illusionär. Die Wirkungen einer solchen Politik können klar am Beispiel der gescheiterten Sparpolitik der Regierung Brüning in der Spätphase der Weimarer Republik beobachtet werden. Ähnlich wie nach 1929 sind Tendenzen zu einer ultraliberalen Radikalisierung und Entdemokratisierung der Wirtschaftspolitik in Europa erkennbar.

Die kurzfristigen Anti-Krisen-Politiken und die EU 2020-Agenda gehen in eine ähnliche Richtung der Zementierung neoliberaler Politikmuster. Insofern sind sie konsistent. Sie fördern allerdings auch Desintegrationsprozesse in der EU. In der deutschen, aber auch der österreichischen Debatte wird die Mitgliedschaft der südeuropäischen Länder in der Euro-Zone offen in Frage gestellt. Selbst Stützungskredite für die südeuropäischen Länder werden angesichts von spekulativen Attacken und Panik auf den Finanzmärkten nur sehr zögerlich bereit gestellt. In einer Überschrift charakterisierte die polnische Gazeta Wyborcza (27.3.2010: 2) die Metamorphose der deutschen Bundeskanzlerin „Von Frau Europa zu Madame Non". Die deutsche Politik stellt das EU-Integrationsprojekt durch die zögerliche Haltung zu den Stützungsmaßnahmen und die strategische Weigerung, von einer Politik der Exportüberschüsse zu Lasten anderer EU-Staaten abzugehen, faktisch in Frage. Die Bevölkerungsmehrheiten in der Peripherie erkennen, dass die vermeintliche Krisenbewältigungspolitik einseitig zu ihren Lasten geht. In Griechenland gibt es bereits massive soziale Proteste. Auch in Portugal und Spanien initiierten die Gewerkschaften bereits Streiks im öffentlichen Dienst. Doch sind die Proteste bislang sektoral stark auf den öffentlichen Dienst begrenzt und national zersplittert.

Die Strategie „EU 2020" bietet alten Wein in neuen Schläuchen, wie in den beiden Beiträgen von Elisabeth Klatzer und Klaus Dräger gezeigt wird. Aus der Krise wurde nichts gelernt, wäre da eine mögliche Schlussfolgerung. Diese Lernpathologie ist durch die politischen Kräfteverhältnisse bedingt. Die aktuelle Krise dient nun sogar zu einer Radikalisierung ultraliberaler Politikmuster. Verschärfte soziale Polarisierung ist das unweigerliche Ergebnis dieser Politik - beschleunigte Desintegrationsprozesse sind eine weitere, allerdings von den EU-Regierungen nicht intendierte Folge. Die Frage wird sein, wie diesem massivem Backlash Einhalt geboten werden kann.

Joachim Becker/Christa Schlager

 

Zum aktuellen Kurswechsel 1/2010 "Krise in Europa"