Zwischen Purdah, Bollywood und Politik – Geschlechterverhältnisse und Transformationsprozesse in Afghanistan

in (16.08.2010)

Historisch ebenso wie aktuell sind die Geschlechterverhältnisse und die Frauenfrage in Afghanistan nicht nur ein leidenschaftlich umkämpftes und symbolträchtig aufgeladenes Terrain innergesellschaftlicher politischer Auseinandersetzungen, sondern immer wieder auch Anschlussstelle für externe Einflussbestrebungen. Historisch ebenso wie aktuell sind die Geschlechterverhältnisse und die Frauenfrage in Afghanistan nicht nur ein leidenschaftlich umkämpftes und symbolträchtig aufgeladenes Terrain innergesellschaftlicher politischer Auseinandersetzungen, sondern immer wieder auch Anschlussstelle für externe Einflussbestrebungen. Insbesondere die extrem restriktive Geschlechterpolitik des Taliban-Regimes rückte Ende der 1990er Jahre die Stellung afghanischer Frauen ins Zentrum internationaler medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit. Flammende Kritik wurde von so unterschiedlichen Akteu­ren geäußert wie der US-Regierung, dem Europa-Parlament, der Regierung der Islamischen Republik Iran wie auch aus der internationalen Frauenbewegung. „Stop Gender Apartheid in Afghanistan!", forderte etwa die US-ame­rikanische Feminist Majority Foundation lautstark (Kandiyoti 2009a: 4).

Die Geschlechterpolitik trug wesentlich zur internationalen Isolierung der Taliban bei und beförderte Konstruktionen, die Afghanistan als „Gegenpol der zivilisierten Welt" (Schetter 2001) und Heimstatt eines ‘Steinzeit-Islam' präsentierten. Vor diesem Hintergrund konnte der Krieg, den die ‘Internationale Allianz gegen den Terrorismus' nach dem 11. September 2001 gegen das Afghanistan der Taliban führte, ideologisch weithin erfolgreich als Mission für die Befreiung der afghanischen Frauen legitimiert werden, die - verhüllt durch die medial omnipräsente blaue Burqa - im „Reich der Finsternis"[1] vermeintlich ein unterjochtes und freudloses Dasein führten (Kreile 2002; Khattak 2002).

Die Wiederkehr einschlägiger kolonialer Legitimationsmuster ging Hand in Hand mit identitätspolitischen Diskursen, die die „Frauenfrage" als identitätsstiftende und abgrenzende Marker zwischen ‘ihnen' und ‘uns' konstruierten. Auch in die Politikwissenschaft fanden derartige kulturalistische Imaginationen Eingang. So konstatierten etwa Ronald Inglehart und Pippa Norris in Anknüpfung an Huntington einen „sexual clash of civilizations". Unterschiedliche Normen im Hinblick auf Geschlechterverhältnis und Sexualität seien die „wahre Bruchlinie zwischen dem Westen und dem Islam", und die Werte, die die beiden Kulturen trennten, hätten mehr mit „Eros als mit Demos" zu tun (Inglehart & Norris 2003).

Infolge des Krieges und der Entwicklungsdynamik in der Post-Taliban-Ära gerieten die Geschlechterverhältnisse in Afghanistan zudem zum Katalysator grundsätzlicher feministischer und entwicklungspolitischer Debatten, etwa über Nord-Süd-Dominanzverhältnisse, Bevormundungen und transkulturelle Solidaritäten. Aus postkolonial-feministischer Perspektive wurden Fragen der „Transplantation von Menschenrechten" und Widersprüche advokatorischer Menschenrechtskonzepte diskutiert (­Ehrmann 2009). Debattiert wurde, inwieweit sich westliche Feministinnen für imperialistische Interessen hätten instrumentalisieren lassen oder die afghanischen Frauen exotisiert und zu gesichtslosen ‘Opfern' stilisiert hätten (Kandiyoti 2009a). „Müssen muslimische Frauen wirklich gerettet werden?" fragte Lila Abu-Lughod kritisch (2002). In der Tradition von Edward Saids Orientalismus-Kritik wurde einmal mehr dafür sensibilisiert, wie westliche Repräsentationen der ‘Anderen' im Kontext ungleicher Machtverhältnisse situiert sind (vgl. Conrad & Randeria 2002: 22f) und nicht selten ein diskursives Element der globalen Architektur „des neuen post-kolonialen Imperialismus" (Eckert & Randeria 2009: 15) bilden.

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes wurde auf der Bonner Konferenz 2001 beschlossen, Geschlechtergleichheit als Bestandteil eines internationalen Normen folgenden Staatsbildungsprozesses zu institutionalisieren. Nach UN-Vorgaben wurde das Prinzip des ‘Gender mainstreaming' als zentrale Strategie festgelegt (vgl. Kandiyoti 2009a).

Entsprechend der Bedeutung, die die internationale Afghanistan-Agenda Frauenrechten gab, ratifizierte die Regierung Karsai 2003 die UN-Konvention zur Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung gegen Frauen ohne Vorbehalt. In der Verfassung von 2004 wurden die Frauen rechtlich gleich gestellt. Eine bescheidene Frauenquote für die Nationalversammlung wurde festgeschrieben. Allerdings wurden die Gleichberechtigungszusagen potenziell dadurch in Frage gestellt, dass in der Islamischen Republik Afghanistan laut Art. 3 der Verfassung kein Gesetz „im Widerspruch zu den Grundlagen des Islam" stehen darf. Prinzipiell steht damit die Tür zu höchst unterschiedlichen rechtlichen Interpretationen offen. Tatsächlich aber verfügt laut Art. 121 der Verfassung der Oberste Gerichtshof über die Macht, „Verfassung, Gesetze und Gesetzesdekrete" zu interpretieren. Die Deutungshoheit im Falle von Konflikten obliegt somit einer Instanz, die großenteils aus islamistischen Hardlinern besteht und der keine Frau angehört (Gerber 2007: 99ff).

Trotz vehementer Proteste westlicher Regierungen sowie afghanischer Frauenrechtlerinnen wurde 2009 ein neues Familiengesetz für die schiitische Minderheit, ca. 15-20 % der Bevölkerung, in Kraft gesetzt[2], das die in der Verfassung garantierten Frauenrechte mit einem Federstrich massiv einschränkt und - vermutlich wahltaktisch motiviert - Wünschen extrem konservativer Islamisten Rechnung trägt. Dem Gesetz zufolge dürfen Frauen das Haus nur in dringenden Ausnahmefällen ohne Erlaubnis des Ehemannes verlassen und ohne seine Einwilligung keine außerhäusliche Arbeit aufnehmen. Zudem kann der Ehemann seiner Frau den Unterhalt verweigern, wenn sie ihre ‘ehelichen Pflichten' nicht erfüllt und sich seinen sexuellen Bedürfnissen verweigert (HRW 2009: 3f). Während die Regierung Karsai sich vordergründig bemüht zeigt, Forderungen westlicher Geber nach Gleichstellung der Frau nachzukommen, werden gleichzeitig wieder Schritte unternommen, die Rechte von Frauen und ihre öffentliche Sichtbarkeit einzuschränken.

Im Folgenden möchte ich die komplexe und widersprüchliche Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse fast ein Jahrzehnt nach dem Sturz der Taliban im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Realitäten, machtpolitischen Auseinandersetzungen und pluralen rechtlichen Normierungen genauer untersuchen.

In den Medien und in Teilen der wissenschaftlichen Literatur werden weithin deskriptiv oder essentialisierend ‘der Islam', eine vermeintliche soziokulturelle Rückständigkeit und ‘Traditionalität' der afghanischen Gesellschaft oder ein besonders ausgeprägter männlicher Chauvinismus, der so fest gefügt sei wie die Gebirgsketten des Hindukush (Moghadam 1994: 223), für die Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse verantwortlich gemacht. Jenseits derartiger ahistorischer, kulturalisierender und identitätspolitisch aufgeladener Fehlperzeptionen soll dem gegenüber insbesondere die soziale und politische Logik und Funktionalität nachvollziehbar gemacht werden, die den genderpolitischen Entwicklungsdynamiken strukturell zugrunde liegt[3].

In kritischer Abgrenzung von eurozentrischen modernisierungstheo­retischen Annahmen, die ‘die westliche Moderne' als modellhaften Orientierungsmaßstab globaler gesellschaftlicher und menschlicher Entwicklung konstruieren (Conrad & Randeria 2002: 12f) und dazu neigen, nichtwestliche Gesellschaften in statisch konzipierte ‘Traditions'-Reservate einzusperren, gehe ich im Sinne einer transnationalen kosmopolitischen Neuorientierung der Sozialwissenschaften davon aus, dass ‘alternative Modernen' vielfältig und global miteinander verwoben sind, und dass soziale und politische Akteure in ‘nicht-westlichen Gesellschaften' in vielschichtigen Kontexten und Machtkonstellationen und mit unterschiedlichen Strategien ihre eigenen ‘Projekte' der Moderne umzusetzen suchen (vgl. Randeria u.a. 2004b: 17).

In meinem Beitrag werden folgende Thesen entfaltet: In Afghanistan hat die Frauenfrage als Medium und Instrument für Staatsbildungsbemühungen wie für anti-staatliche Resistenzen wiederholt eine konstitutive strukturelle Bedeutung gewonnen. Der Geschlechterpolitik, dem ‘Kampf um die Frauen', kommt strukturfunktional und historisch eine Schlüsselrolle in den macht­politischen Auseinandersetzungen zwischen dem Staat auf der einen und den familiären, tribalen und religiösen Gemeinschaften auf der anderen Seite zu, die weithin als soziopolitische Konkurrenzorganisationen agieren. Mit einer Zentralisierung des Rechts und einer einheitlichen Reglementierung der Geschlechterverhältnisse versuchte der Staat in Bereiche einzugreifen, die zuvor der ausschließlichen Kontrolle durch die Gemeinschaften unterworfen waren, und so seinen hegemonialen Machtanspruch durchzusetzen. Für die Gemeinschaften hingegen vermochte die Kontrolle über ‘ihre' Frauen, die Identität und Integrität der Gemeinschaften symbolisierten, zum zentralen Ausdruck des Widerstandes gegenüber einem als ‘fremd' und repressiv wahrgenommenen Staat zu werden (Kreile 2008).

Die genderpolitischen Gegensätze der Vergangenheit dauern im Kontext eines internationalisierten Staatsbildungsprozesses in modifizierter Weise im ‘neuen' Afghanistan an. Unter dem Vorzeichen von Global Governance haben sie sich zum einen in den Staatsapparat selbst verlagert, zum anderen prägen und legitimieren sie anti-staatliche Resistenzen.

Während historisch vor allem staatliche und lokale Rechtsnormen koexistierten und konfligierten, werden Frauenrechte heute im Kontext internationalisierter Rechtsetzung und eines komplexen ‘glokalen' Rechtspluralismus verhandelt und umkämpft, in dem die unterschiedlichen Rechtssysteme gleichzeitig uneinheitlich und ungleich interagieren und spannungsvoll miteinander verflochten sind (Randeria 2004; Wardak 2004).

Entsprechend ihrer jeweiligen regionalen, sozialen, kulturellen und ethnischen Zugehörigkeiten und Lebenswelten suchen afghanische Frauen ihre Handlungsfähigkeit (agency) im eigenen Namen zu wahren und Spielräume zu erweitern (Ehrmann 2009). Mit je unterschiedlichen Strategien konterkarieren sie viktimisierende und romantisierende Zuschreibungen gleichermaßen.

Umkämpfte Frauen - ein Blick in die Geschichte

Die rechtliche Stellung der Frauen war seit der Entstehung des modernen afghanischen Staates Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder Kristallisa­tionspunkt der Auseinandersetzungen zwischen der staatlichen Zentralmacht auf der einen und einer „segmentären Gesellschaft" (Grevemeyer 1987: 11), die sich ihre relative Autonomie erhalten wollte, auf der anderen Seite. Der politische Arm der Zentrale reichte nie allzu weit. Außerhalb Kabuls und einiger städtischer Verwaltungszentren existierte fortdauernd ein eigenes gesellschaftliches Milieu, das allerdings 90 Prozent der afghanischen Bevölkerung umfasste. „Kabul repräsentierte den ‘Staat' - das ländliche Afghanistan die ‘Gesellschaft'." (Grevemeyer 1987: 58)

In den ländlichen Gemeinschaften waren Status und Bewegungsspielräume der Frauen je nach regionaler, tribaler und sozialer Zugehörigkeit durchaus unterschiedlich, ungeachtet ihrer deutlich untergeordneten Rechtsposition (Moghadam 1993: 211ff). Nomadenfrauen gingen häufig unverschleiert und genossen generell einen besseren Status und größere Bewegungsfreiheit, während insbesondere Frauen der oberen Schichten in strikter Purdah[4] lebten. Insgesamt stellten die Geschlechtertrennung und der weitgehende Ausschluss der Frauen aus dem öffentlichen Raum allerdings bis in die jüngste Zeit ein zentrales Strukturprinzip der afghanischen Gesellschaft dar (Kreile 1997: 399; Naumann 2009: 168ff).

Jenseits ihres Ausschlusses aus dem öffentlichen Leben erfreuen sich die Frauen in den lokalen Binnenbeziehungen beachtlicher Entscheidungsbefugnisse. Zwar sind die Frauen den Männern untergeordnet, aber im Rahmen von Subsistenzwirtschaft und komplementärer Arbeitsteilung sind beide Geschlechter aufeinander angewiesen, und Intelligenz und Stärke einer Frau gelten als wünschenswerte Eigenschaften, die für die Familie von Nutzen sind. Die Bevormundung bei der Heirat gilt für Frauen wie auch für Männer, da die Eheschließung eine gemeinschaftliche und keine individuelle Angelegenheit ist. Auch wenn Frauen in der Öffentlichkeit keine Stimme haben, vertreten sie dennoch einen eigenen Standpunkt und ihre Sichtweisen werden respektiert. Als Repräsentantinnen der Ehre der Männer und Symbol für die Identität, Integrität und Kontinuität der Gemeinschaften genießen Frauen, sofern sie ihre eigene Ehre zu wahren wissen, sprich die Regeln von Purdah und sexueller ‘Tugendhaftigkeit' befolgen und sich rollenkonform verhalten, besonders als Mütter hohe Wertschätzung (von Moos 1996: 40f).

Grundlegende Reformen zur rechtlichen Besserstellung der Frauen leitete erstmalig König Amanullah seit 1919 in die Wege. Er war beeinflusst von reformislamischen Ideen wie von den Entwicklungen in der Türkei und Iran. Das 1921 erlassene Ehe‑ und Heiratsgesetz sprach den Frauen rechtliche Gleichheit zu. Frau und Mann sollten der Eheschließung zustimmen.

Strukturfunktional betrachtet zielte die staatliche Heiratsgesetzgebung darauf ab, die Eheschließung aus ihrem hergebrachten Bedeutungskontext zu lösen, in dem die Heirat eine Allianz zwischen Familienverbänden konstituierte und die Fortführung der patrilinearen Verwandtschaftsgruppe gewährleistete. Ein komplexer sozialer Prozess, der für den Zusammenhalt der primären Solidargemeinschaften zentral war, wurde gleichsam zur Privatsache, zur Angelegenheit zweier Individuen, der Braut und des Bräutigams, erklärt. Der Versuch, eine Ehe zu propagieren, die individuelle Interessen gegenüber den Belangen der Gemeinschaften favorisierte, war jedoch in einer Gesellschaft, in der vor allem die Zugehörigkeit zum Kollektiv Schutz und Existenzsicherung ermöglichte, zum Scheitern verurteilt.

Gleichzeitig machte der Staat mit seinen familienrechtlichen Reformen den familiären, tribalen und religiösen Patriarchen die Kontrolle über ‘ihre' Frauen streitig und stellte mit seiner Individualisierungsstrategie den strukturellen Zusammenhalt und die Autonomie der Gemeinschaften in Frage. Dem entsprechend stießen die Reformen ebenso wie die Bestrebungen Amanullahs, landesweit Schulen für Mädchen zu etablieren und die Burqa abzuschaffen, weithin auf entschlossene Ablehnung. 1929 wurde Amanullah gestürzt. Im Namen der ‘Heiligkeit des Islam' wurde die Pflicht der Frauen zur Verschleierung aufs Neue bekräftigt, die Mädchenschulen wurden geschlossen.

Auch ein zweiter ähnlicher Versuch in den 1980er Jahren, die Macht des Zentralstaats und mehr Rechte für die Frauen landesweit durchzusetzen - diesmal unter dem Vorzeichen der sowjetkommunistischen Ideologie - hatte nur sehr begrenzten Erfolg. Nutznießerinnen staatlicher Modernisierungs‑ und Individualisierungsstrategien konnten nur kleine Minderheiten von städtischen Frauen werden, die durch Bildung und Beruf nicht existenziell auf Schutz und Unterstützung durch den Familienverband angewiesen waren (Kreile 1997).

Nach 1996 unternahmen die Taliban einen dritten Versuch, die staatliche Kontrolle über die afghanische Gesellschaft zu erringen. Dieser neue Anlauf zu Staatsbildung und Zentralisierung erfolgte nicht wie zuvor unter modernisierungsideologischen Vorzeichen, sondern verknüpfte islamistische und tribale pashtunische Ideologie-Elemente. Eine extrem patriarchale Geschlechterpolitik wurde zum vereinheitlichenden Schlüsselelement der Herrschaftskonzeption der neuen Machthaber[5].

Die Herrschaft der Taliban wurde zunächst weithin begrüßt, da sie versprachen, Laster und Verderbtheit zu bekämpfen und eine wahrhaft islamische moralische Ordnung zu errichten[6]. Angesichts der desaströsen Sicherheitslage in den Jahren zuvor, als die nach dem Sieg über die Sowjet­union regierenden und rivalisierenden Mujaheddin das Land in neues Chaos stürzten und Mädchen und Frauen zum ‘Freiwild' für Kommandeure und Milizionäre machten, nahmen auch zahlreiche Frauen die rigorosen Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit als Preis für mehr Sicherheit in Kauf (Kreile 2002: 49; Rubin 2002: xviii).

Die Moralpolitik, deren Kernelement die Frauenfrage darstellte, war konstitutiv für Staatsbildung, Machtkonsolidierung und für den Erhalt zumindest der ursprünglichen Massenbasis in der Region von Kandahar. Durch die als ‘Schutz' perzipierte Kontrolle der Frauen, die ein „stark aufgeladenes Symbol politischer und sozialer Legitimation in Afghanistan darstellen" (Rubin 1997: 287), knüpften die Taliban an verbreitete Wertvorstellungen an, die sie nun aber zentralstaatlich allgemein durchsetzen wollten. Bestimmte lokale Rechtsnormen wurden von den Taliban jedoch auch als ‘unislamisch' verboten, zum Beispiel die Übergabe von Frauen als Kompensation. Eine derartige Praxis sei nicht vereinbar mit den Lehren des Islam, der verlange, dass Frauen respektiert würden (vgl. Cole 2008: 143).

Im Geschlechterdiskurs überschneiden sich Vorstellungen der Taliban mit transnationalen konservativ-islamisch legitimierten Konzepten. Während ihre Geschlechterpolitik die Taliban zwar im Westen politisch delegitimierte, erbrachte sie erhebliche finanzielle Unterstützungsleistungen seitens saudischer Akteure und transnationaler wahhabitisch geprägter Netzwerke. Hierfür revanchierten sich die Taliban, indem sie zum Beispiel die wahhabitische Institution der ‘Tugend-Polizei' in Afghanistan einführten, die mittlerweile von der Regierung Karsai unter verändertem Namen reaktiviert wurde (Kreile 2002: 58ff; Huber 2003: 15).

Nancy Hatch Dupree weist auf große Unterschiede in Auswirkung, Durchsetzung, Reichweite und Akzeptanz der geschlechterpolitischen Reglementierungen durch die Taliban hin. Die große Mehrheit der Frauen war von den frauenpolitischen Erlassen relativ wenig betroffen, ihr Alltagsleben veränderte sich dadurch kaum. Sie lebt in ländlichen Gebieten, ihre Interessen gelten überwiegend den Kindern und der Familie. Die Einschränkungen waren vor allem im städtischen Umfeld spürbar und verwischten die Unterschiede zwischen den rechtlichen Sphären von Zentrum und Peripherie[7]. Hauptleidtragende waren die gebildeten Frauen aus den modernen städtischen Mittelschichten, die als Lehrerinnen, Ärztinnen, Ingenieurinnen oder Richterinnen gearbeitet hatten und nun in ihren Bewegungs‑ und Handlungsspielräumen extrem eingeschränkt wurden (Dupree 1998: 165f).

Während die patriarchalen Wertvorstellungen der Taliban von weiten Teilen der afghanischen Bevölkerung geteilt werden, stieß ihre Radikalisierung und aggressive Durchsetzung ‘von oben' vielfach auf Ablehnung. Die Taliban beraubten mit ihren Anordnungen die Männer ihres Vorrechts, selbst zu entscheiden, wie ihre Frauen sich kleiden und welche Bewegungsspielräume sie haben sollten (Noelle-Karimi 2002: 7). Außerdem untergruben die eingesetzten Zwangsmittel „die Toleranz, die in der afghanischen Gesellschaft einen hohen Wert darstellt, und dies wird allgemein bedauert" (Dupree 1998: 163).

Internationalisierte Staatsbildung und die Fragilität von Frauenrechten in der Islamischen Republik Afghanistan

Knapp ein Jahrzehnt nach dem Ende der Taliban-Herrschaft stellt sich die Situation der afghanischen Frauen uneinheitlich und widersprüchlich dar. Neben Verbesserungen in den Bereichen Bildung[8], Gesundheitsversorgung und Beschäftigung, die zumindest etlichen Angehörigen der städtischen Mittelschichten zugute kommen, leiden unzählige Frauen unter dramatischer Armut, der Erosion hergebrachter sozialer Schutzmechanismen sowie allgegenwärtiger und zunehmender häuslicher und außerhäuslicher Gewalt (Azerbaijani-Moghaddam 2009).

Insbesondere in den großen Städten arbeiten heute etliche Frauen als Ärztinnen, Lehrerinnen, Professorinnen, Polizistinnen, Rechtsanwältinnen, Richterinnen oder Journalistinnen; einige Frauen engagieren sich politisch. Zunehmend sind öffentlich exponierte Frauen jedoch Bedrohungen von Leib und Leben ausgesetzt. Ermordet wurden unter anderen unlängst die ranghöchste Polizistin des Landes, Malalai Kakar, und die Frauenrechtsaktivistin und Politikerin Sitara Achakzai (HRW 2009: 14ff). Durch die katastrophale Sicherheitslage und die ständige Präsenz zahlreicher Bewaffneter auf den Straßen wird die Teilnahme von Frauen am öffentlichen Leben neuerlich enorm eingeschränkt. Entführungen und Vergewaltigungen sind alltäglich und machen den Weg zu Schule, Universität und Arbeitsplatz für Mädchen und Frauen zum angstbesetzten Dauerrisiko. Die große Mehrheit von Frauen leidet nicht nur unter dem Fehlen von Sicherheit, sondern vor allem auch unter dem Mangel an grundlegenden sozialen Rechten wie dem Zugang zu ausreichender Nahrung, sauberem Wasser, angemessenem Wohnraum und medizinischer Versorgung (Rostami-Povey 2007: 41ff). Durch die Fortdauer von Krieg und NATO/ISAF-Bombardierungen wurden viele Frauen einmal mehr zu Flüchtlingen gemacht und ihrer Familie, ihres Heims oder gar Lebens beraubt (Khattak 2002: 22).

Mehrere neuere Studien zeichnen, was die faktische Umsetzung von Frauenrechten betrifft, ein deprimierend-dunkles Bild (HRW 2009; UNAMA 2009). Millionen von Frauen und Mädchen erleben demnach systematische Diskriminierung und Gewalt innerhalb und außerhalb ihrer Familien und Gemeinschaften. Erzwungene Eheschließungen und die Verheiratung minderjähriger Mädchen sind an der Tagesordnung. Zahllose Frauen, die den hegemonialen gesellschaftlichen Moralvorstellungen, den Idealen tugendhafter Weiblichkeit und traditionellen Rollenbildern zuwider handeln, werden bedroht, landen im Gefängnis oder fallen sog. ‘Ehrenmorden' durch männliche Angehörige zum Opfer. Die wenigsten der an Leib und Leben gefährdeten Frauen finden rechtlichen Beistand und staatlichen Schutz, zumal die juristischen und polizeilichen Organe, die ihre Rechte gewährleisten sollten, ihrerseits weithin die höchst konservativen Moral‑ und Genderdiskurse teilen, die in der afghanischen Gesellschaft vorherrschen. Dies gilt nicht selten auch für Anwältinnen (Jones 2006: 108ff). Zunehmend mehr Mädchen und junge Frauen sehen oftmals keinen anderen Ausweg als, sich das Leben zu nehmen, um unerträglichen Verhältnissen zu entkommen (Koelbl & Ihlau 2008: 246).

In der Islamischen Republik Afghanistan lässt sich eine Fortdauer der strukturellen Widersprüche der Vergangenheit in modifizierter Form beobachten. Auf der einen Seite steht eine schwache, extrem außenabhängige Staatsmacht, deren Durchsetzungskapazitäten kaum weiter reichen als bis zur Stadtgrenze Kabuls. Von einem staatlichen Gewaltmonopol, das die in der Verfassung verankerten Frauenrechte faktisch garantieren könnte, kann nicht einmal entfernt die Rede sein. In den Provinzen liegt die Macht in den Händen alter Stammes‑ und Clanführer und alter und neuer Warlords (­Schetter 2007: 4ff), die nicht zuletzt auch von der westlichen Koalition finanziell und militärisch gestärkt werden, um sie als Verbündete im Kampf gegen die Taliban und Al Qaeda nutzen zu können (vgl. Kandiyoti 2009a: 8). Die in den großen Städten einstmals ansatzweise vorhandene Zivilgesellschaft ist durch den jahrzehntelangen Krieg gleichsam pulverisiert worden und erholt sich nur langsam. Angehörige der modernen Mittelschichten wetteifern heute um Anstellung bei den zahllosen internationalen Nichtregierungsorganisationen, deren Anwesenheit nicht nur Hilfe bringt, sondern auch enorme strukturelle Verzerrungen auf dem Wohn‑ und Arbeitsmarkt. Zahlreiche gebildete Frauen­rechtlerinnen und Aktivistinnen, die viele Jahre in entwicklungspolitischen Projekten und Netzwerken mit ärmeren Frauen gearbeitet hatten, teilweise klandestin auch unter den Taliban, haben ihre Arbeit zugunsten lukrativerer Jobs bei westlichen NGOs aufgegeben (­Kandiyoti 2009a: 6).

Das Überleben ist für viele Menschen sehr schwierig; allerorten fehlt es an einer funktionierenden Infrastruktur.[9] Zu den Ärmsten der Armen, die unter Hunger und Gewalt leiden, gehören besonders viele Frauen, die sich nicht selten durch Prostitution oder Betteln ernähren müssen. Elami Rostami-Povey bemerkt kritisch:

„Frauen sind die Opfer eines Staates, der seine Aufmerksamkeit mehr auf Militarisierung denn auf die Versorgung mit Wohnraum, Gesundheit, Bildung, Infrastruktur und Wohlfahrt gerichtet hat. ... Mit ausländischer Hilfe und Opium-Einkünften wird ein Rentier-Staat ohne Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung gestützt. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in absoluter Armut und Verzweiflung, während sie zusieht, wie eine winzige Minderheit mit Hilfe internationaler Finanzorganisationen reich wird. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) sind vier Millionen Menschen in Afghanistan auf Hilfe angewiesen." (2007: 41f)

Angesichts der allgemeinen Not, Armut und Unsicherheit und eines sicherheits‑ und wohlfahrtspolitisch weitgehend abwesenden und weithin auch abgelehnten Staates sind die meisten Menschen mehr denn je auf die gemeinschaftlichen Strukturen familiärer, dörflicher und tribaler Solidarität angewiesen.

Nicht wenige Frauen äußern Unverständnis und Kritik gegenüber dem Verständnis von Frauenrechten, wie es durch UN-Organisationen und ausländische NGOs vertreten wird. Sie sehen ihre Kultur, in der die Beziehungen zu Familie und Gemeinschaft zentral sind, durch die westliche Kultur des Individualismus bedroht, wie Rostami-Povey mit Äußerungen von Frauenaktivistinnen anschaulich belegt. So erklärt Najia in Jalalabad:

„Es gibt so viele internationale Organisationen, viele versuchen ihr Bestes, aber sie sind meilenweit davon entfernt, unsere Situation und unsere Kultur zu verstehen. Sie reden andauernd über Frauenrechte und Demokratie. Die Menschen sind hungrig und krank. Ich arbeite mit gewöhnlichen Frauen und Männern und versuche ihnen zu erklären, dass der Islam den Frauen Rechte gegeben hat. Das ist der einzige Weg, für Frauenrechte in Afghanistan zu kämpfen, Frauen und Männern die positive Seite des Islam und der islamischen Kultur zu zeigen, nicht von außen und nicht indem die Kultur und die Religion der Menschen beleidigt wird." (Vgl. Rostami-Povey 2007: 51)

Oftmals wenden sich Frauen auch dagegen, dass internationale Hilfsorganisationen ihre Angebote speziell an Frauen richten und die Männer nicht einbeziehen. Nuria aus Mazar-e Sharif bemerkt im Gespräch mit Rostami-Povey:

„Wir hassen sie, wenn sie im Namen von Frauenrechten und Menschenrechten kommen und sich in unsere Privatangelegenheiten einmischen. Sie sagen andauernd, Frauen sollten arbeiten. Sie verstehen nicht, dass Frauen nicht glücklich sind, dass sie Arbeit für Frauen anbieten und nicht für Männer. So funktioniert das nicht in unserer Kultur. Wir wollen Seite an Seite mit unseren Männern arbeiten. Wir können unsere Männer nicht ignorieren. Männer brauchen auch Bildung und Beschäftigung." (Vgl. Rostami-Povey 2007: 40).

Während in früheren Phasen der jüngeren afghanischen Geschichte die geschlechterpolitischen Fronten vor allem zwischen dem Staat und den lokalen Gemeinschaften verliefen, war der radikal-islamistische Staat der Taliban geschlechterpolitisch vor allem von außen seitens der westlichen „internationalen Gemeinschaft" unter Druck geraten, da die modernen Mittelschichten bereits zerrieben waren.

Die heutige Situation ist demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass die bisherigen geschlechterpolitischen Gegensätze nun auch innerhalb des Staatsapparates selbst aufeinandertreffen. Die Regierung Karsai muss nämlich den Drahtseilakt vollführen, einerseits vor der internationalen Gemeinschaft ein einigermaßen ‘frauenfreundliches' ‘gender-bewusstes' Bild abzugeben; andererseits müssen die Anti-Taliban-Kräfte der islamistischen Mujahiddin-Fraktionen eingebunden werden, deren Ansichten zu Frauenrechten sich nicht grundsätzlich von denen der Taliban unterscheiden. Die geschlechterpolitische Fraktionierung innerhalb des Staatsapparates zeigt sich etwa in der Einrichtung eines Frauenministeriums einerseits und der Dominanz der reaktionärsten islamistischen Kräfte in der obersten juristischen Instanz andererseits (Huber 2003: 146f). Nicht zuletzt die jüngsten Auseinandersetzungen um das schiitische Familienrecht zeigen, dass die Regierung Karsai bei Bedarf und nach Möglichkeit Frauenrechte zur politischen Manövriermasse degradiert und umstandslos wahl‑ und machttaktischem Kalkül opfert.

Rechtspluralismus und ‘verflochtene Patriarchate'

Während es in Afghanistan historisch immer wieder zu einem friedlichen, vorwiegend indifferenten Nebeneinander sowie zu Konflikten zwischen zentralstaatlichen und lokalen Rechtsnormen kam, treffen heute im Kontext von internationalen Menschenrechtssetzungen rechtliche Konzepte unterschiedlicher kultureller und sozialer Herkunft vor dem Hintergrund globaler und lokaler Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten verstärkt und oftmals sehr unsanft aufeinander. Die internationalen Bemühungen, modern-westliche Konzepte durchzusetzen, die normativ von der Autonomie und Würde des Individuums ausgehen, spiegeln nicht zuletzt die asymmetrische ökonomische und politische Machtverteilung im internationalen System wider (Kreile 2002: 40). Wo bestehende lokale patriarchale Praxen eine Legitimation für die Etablierung imperialer Herrschaftsformen liefern, sprechen Maria Castro Varela do Mar und Nikita Dhawan von ‘verflochtenen Patriarchaten' (2009: 11).

Neben säkularen internationalen Rechtsnormen ist das islamische Recht in unterschiedlicher Weise konstitutiv für das formelle wie für das informelle Rechtssystem. Ca. 80-85 % der afghanischen Bevölkerung sind Sunniten, die der hanafitischen Rechtsschule folgen. Die 15-20 % Schiiten orientieren sich im Wesentlichen an der jaafaritischen Jurisprudenz. Daneben gelten weithin lokale Rechtstraditionen (customary law) der Gemeinschaften, wie etwa das Paschtunwali, das Stammesrecht der Pashtunen und andere Rechtssysteme. Ali Wardak spricht von einem „symbiotischen Verhältnis" von hanafitischer Schule, lokalen Rechtstraditionen, und sunnitischem „Volks-Islam", das die kulturellen, sozialen und ökonomischen Realitäten der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung widerspiegele (2004: 323ff). Seit den 1980er Jahren wuchsen zudem transnationale Einflüsse von Denkschulen wie dem Deobandi‑ und dem wahhabitischen Islam, die jeweils sehr konservativen Versionen der Scharia anhängen. Diese verknüpften sich nicht selten mit lokalen Rechtstraditionen (ausführlich Kreile 2002).

Insbesondere rechtliche Festlegungen und Konzepte, die die Stellung der Frauen betreffen, werden zwar zumeist unter Berufung auf die Scharia gerechtfertigt, dahinter verbergen sich aber eher tribale ­Wertvorstellungen und Normen des customary law[10]. In weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft regelt vorrangig nicht die Scharia, sondern das Pashtunwali die Geschlechterverhältnisse sowie die Stellung der Frau und prägt nicht selten auch das Islam-Verständnis von Taliban und anderen islamistischen Mujaheddin[11]. Teilweise alternative Regelungen, die für Frauen günstiger sind, finden sich in nicht-pashtunischen lokalen Rechtssystemen in Nord-Afghanistan, etwa bei uzbekischen und tajikischen Gemeinschaften. Hier können Frauen erben, und die Regelung des Pashtunwali, wonach Witwen nicht wieder heiraten dürfen, es sei denn einen der Brüder ihres Mannes, hat keine Geltung. Einschlägige Kritik an pashtunischen Regelungen wird von Akteuren in den drei Nordprovinzen ausdrücklich unter Berufung auf die Scharia formuliert, die im Familienrecht Vorrang vor lokalen Traditionen haben müsse (Barfield 2006).

Angesichts des Selbstverständnisses der Pashtunen als gläubiger Muslime ist es auf den ersten Blick erstaunlich, wie weitgehend das Pashtunwali einschlägig von den Regelungen der Scharia abweicht (Sigrist 1980: 275). So sind beispielsweise nach der Scharia vier Zeugen erforderlich, um Ehebruch nachzuweisen, während im Pashtunwali das Hörensagen ausreicht, um die Sanktion, die Tötung beider Beteiligter, erforderlich zu machen. Denn was hier auf dem Spiel steht, ist die Ehre, als Ansehen in der Gemeinschaft verstanden, nicht die Moral, die von der Scharia als das definiert wird, was erlaubt ist, im Unterschied zu dem, was verboten ist (Kreile 1997: 408ff). In Streitfällen ist das Pashtunwali mehr darauf ausgerichtet, die soziale Harmonie wiederherzustellen, als Strafen zu verhängen. Diesem Zweck dienen zum Beispiel Kompensationszahlungen oder auch der Austausch von Frauen zwischen Konfliktparteien (Barfield u.a. 2006: 11).

Frauen haben nach dem Pashtunwali kein Erbrecht, insbesondere dürfen sie kein Land erben, denn dies stünde im Widerspruch zum patrilinearen Prinzip, das die Grundlage des tribalen Systems darstellt (Roy 1990: 35f)[12]. Demzufolge werden Frauen oftmals davon abgehalten, ihre Erbrechte gegenüber Brüdern geltend zu machen, und stigmatisiert, wenn sie es dennoch versuchen. Viele Shuras bzw. Jirgas nehmen sich nur widerwillig entsprechender Erbstreitigkeiten an. Etlichen Frauen ist jedoch die Bedeutung des Erbrechts für ihre Stellung sehr bewusst; so erklärte eine in Herat einflussreiche Frau, sie könne nur deshalb so aktiv in ihrer Gemeinschaft sein, weil sie von ihrem Vater ihr Haus erhalten habe. Frauen ohne Besitz seien auf Gedeih und Verderb ihren Familien ausgeliefert und hätten keine Stimme (Azerbaijani-Moghaddam 2006: 39).

Die Widersprüche zwischen islamischem Recht und Pashtunwali lassen sich wesentlich daraus erklären, dass beide unterschiedliche Logiken einer sozialen Ordnung repräsentieren, in deren Kontext den jeweiligen Rechtsvorstellungen je unterschiedliche Funktionen zukommen. So dient das Pashtunwali vorrangig dem Zusammenhalt der verwandtschaftlichen Verbände und Stämme in Abgrenzung gegenüber nicht-pashtunischen sozialen Gemeinschaften. Die koranischen Regelungen zielten dagegen in ihrem Entstehungskontext darauf ab, tribale Verbände und Solidaritäten zugunsten der Zugehörigkeit zur Umma, der Gemeinschaft der Muslime, zu transzendieren. Dem partikularistischen Konzept des Pashtunwali steht das universalistische Konzept des Islam gegenüber (Roy 1990: 36).

Die pluralen rechtlichen Diskurse, die heute in der afghanischen Gesellschaft koexistieren, konkurrieren und konfligieren, sind mit wechselvollen Interaktionen und Kräfteverhältnissen zwischen Staat und Gemeinschaften verwoben. Die lokalen Rechtsvorstellungen spiegeln den Vorrang der Gemeinschaft gegenüber den Belangen der Individuen wider. Die Gemeinschaften gewährleisten Solidarität und Schutz, fordern aber Anpassung (Kreile 2008). Dabei sind die informellen Rechtskonzepte keineswegs zeitlos und unwandelbar, sondern flexibel und in hohem Maße auch Gegenstand von inneren Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozessen, in denen Frauen aktiv ihre Interessen vertreten (Barfield 2006).

Da der afghanische Staat bis heute weit davon entfernt ist, staatliche Gesetze allgemein verbindlich gesamtgesellschaftlich durchsetzen zu können und gegebenenfalls die formalen Rechte Einzelner auf Schutz praktisch zu gewährleisten, stehen Frauen, die sich der Obhut und der patriarchalischen sozialen Kontrolle der Familienverbände und Gemeinschaften entziehen wollen, dennoch oftmals auf verlorenem Posten (Kandiyoti 2005: 12). Da sich Identität und Integrität der Gemeinschaften ihrem Selbstverständnis nach vorrangig in der ‘Ehre' ihrer Frauen manifestieren, gehört die Kontrolle über die weiblichen Mitglieder zu den besonders leidenschaftlich verteidigten Autonomieansprüchen der Gemeinschaften. Wenn junge Frauen und Mädchen etwa gegen den Willen des Familienverbandes jemanden heiraten wollen, den sie lieben, wie das heute zunehmend der Fall ist (Kandiyoti 2009c), geraten sie rasch in eine ausweglose Lage. Veena Das verweist auf ein grundsätzliches Problem, wenn sie schreibt:

„Wir wissen, dass die Familie ein Ort des Konflikts ist. Wenn also eine Gemeinschaft behauptet, das Recht auf ihre eigene Kultur schließe das Recht ein, ihre Mitglieder in der Sphäre der Familie rechtlich zu lenken, wohin wenden sich auf der Suche nach Hilfe dann Frauen und Kinder, die durch die Pathologien der Familie und der Gemeinschaft unterdrückt werden" (2004: 146)

Die in der Verfassung garantierten Gleichheitsrechte sind im Hinblick auf die Handlungsspielräume von Frauen zwar durchaus nicht ohne jegliche Bedeutung, insbesondere für diejenigen städtischen Frauen, die über die notwendigen materiellen und sozialen Ressourcen verfügen, um für ihre Rechte zu kämpfen. Angesichts eines Klimas wachsender Gewalt und Bedrohung werden aber auch hier die Spielräume eng.

Für die meisten AfghanInnen bleiben die informellen rechtlichen Institutionen der lokalen Gemeinschaften das Forum, um Streitigkeiten zu regeln. Laut einer Studie würden nur 15 % der Befragten einen Rechtsstreit innerhalb des formalen Systems austragen. Dies mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass die formalen Rechtsinstitutionen ‘schon immer' - wie einige AutorInnen meinen - als elitär und korrupt wahrgenommen wurden und oftmals auch nicht vor Ort präsent sind. Obwohl sich informelle Rechtspraktiken regional und lokal beträchtlich unterscheiden mögen, teilen sie doch bestimmte charakteristische Merkmale: Sie agieren auf freiwilliger Basis, sind konsens-orientiert, stützen sich auf lokal einflussreiche Personen und setzen Entscheidungen eher über sozialen Druck als mit direkten Zwangsmitteln durch (Barfield u.a. 2006).

Selbst dort, wo staatliche Gerichte vorhanden und theoretisch zugänglich sind, suchen die meisten Frauen aufgrund finanzieller Zwänge, begrenzter Mobilität, Unkenntnis legaler Abläufe und einschlägiger sozialer Imperative eher über hergebrachte informelle Mechanismen Gerechtigkeit zu erlangen. Hier verfügen sie auch über enormes Know-How und wissen, wie man wichtige Männer wie den Dorfchef, den Mullah oder den Taliban-Kommandeur beeinflusst (Kandiyoti 2009a: 6). Allerdings sind sie in die informellen Beratungs‑ und Entscheidungsgremien, die Shuras bzw. Jirgas, in der Regel nicht direkt einbezogen (Barfield u.a. 2006: 3).

Bisweilen können Mädchen und Frauen ihre Interessen verwirklichen, indem sie sich kreativ die parallelen rechtlichen Strukturen zunutze machen und vermittelt über eine komplexe Interaktion von lokalen, staatlichen und religiösen Rechtssystemen zu ‘ihrem' Recht kommen. Ein Mitglied des Provinzrats von Takhar erzählt:

„Ein Vater verheiratete seine Tochter gegen ihren Willen mit einem alten Mann, der ihm einen hohen Brautpreis bezahlte. Die junge Frau protestierte mehrmals, aber der Vater weigerte sich zuzuhören. Deshalb flüchtete sie in die Stadt und ging zur Abteilung für Frauen-Angelegenheiten von Takhar, die den Provinzrat um Hilfe bat. Wir gingen in das Dorf, um mit ihr über eine mögliche Scheidung zu diskutieren, aber ihr Vater weigerte sich. Schließlich organisierten wir eine Shura (Versammlung) der Ältesten und der Geistlichen. Sie entschieden, dass Zwangsehen gegen den Willen Gottes und die Scharia sind. Wir zwangen den Vater, die Scheidung zu akzeptieren und das Mädchen nach Hause zurückkehren zu lassen. Dann sandten wir einen Brief an alle Shuras in jedem Distrikt und informierten sie über die Entscheidung der Ältesten und Geistlichen." (Vgl. Barfield 2006: 8)

Krieg, gesellschaftliche Umbrüche und Gewalt gegen Frauen

Die Erfahrungen von jahrzehntelangem Krieg und Exil haben die afghanische Gesellschaft tiefgreifend gewandelt. Durch die Entwurzelung und regionale Vermischung von breiten Teilen der Bevölkerung wie auch durch den Aufstieg neuer politischer Eliten wurde die soziopolitische Struktur des Landes verändert; ganze Bevölkerungsgruppen begannen, sich teilweise auf neue Identitäten und Loyalitäten hin umzuorientieren, die über die Einbindung in die lokalen Solidareinheiten hinausgingen.

Die Auswirkungen der Transformationsprozesse auf Geschlechterbeziehungen und Frauenrechte sind uneinheitlich, widersprüchlich und komplex. Im Exil oder als Binnenflüchtlinge erlebten viele Männer und Frauen ein urbanes Umfeld und humanitäre Hilfsleistungen, inklusive Zugang zu Bildung und Gesundheit, die neue Erwartungen hervorriefen und oftmals auch die Geschlechterbeziehungen dynamisierten. Während sich für manche Frauen neue Handlungsspielräume eröffneten, sahen sich andere mit einer Entwertung ihrer früheren informellen Machtstrategien konfrontiert. Die Erfahrungen und Begegnungen mit Frauenorganisationen in Iran und Pakistan eröffneten zahlreichen Frauen den Zugang zu Diskursen, die mehr Rechte für Frauen innerhalb eines islamischen Bezugsrahmens vorsehen (Rostami-Povey 2007: 102ff). Im Exil entstandene Frauenorganisationen spielen fortdauernd eine wichtige Rolle im Einsatz für Frauenrechte. Im Zuge einer rasanten Urbanisierung[13] kommen viele Männer und Frauen mit neuen Rollenmodellen in Berührung, vermittelt etwa über die Medien, über Familien, die aus dem Exil zurückgekehrt sind, oder über ihre Kontakte mit internationalen Organisationen. Internet und Privatsender eröffnen insbesondere jungen Menschen den Zugang zu neuen Ideen und Informationen (Leslie 2009: 73ff). Viele von ihnen sehnen sich nach veränderten Geschlechterbeziehungen[14].

„Die Moraldebatten entzünden sich nicht mehr an freizügigen Westlerinnen, sondern an indischen Filmen, welche die romantische Liebe feiern. Die jungen Leute wollen auch heiraten, wen sie lieben. Sie orientieren sich nicht an Hollywood, sondern an Bollywood. Diese Modernität ist ihnen näher als die des Westens." (Kandiyoti 2009c)

Zahlreiche männliche Jugendliche in Kabul sehen weder in Barack Obama noch in Osama bin Laden ihr männliches Rollenmodell. Ihr Idol ist der indische Superstar Sharukh Khan (Bhagat 2005). Die verbreitete Begeisterung für Bollywood lässt sich faktisch und metaphorisch als Orientierung und Partizipation an einer alternativen nicht-westlichen Moderne lesen. Lucia Krämers Überlegungen zu Kontinuität und Wandel der Geschlechterrollen im indischen Mainstream-Kino verweisen auf eine vielfältige Anschlussfähigkeit an einschlägige aktuelle Transformationsprozesse in der afghanischen Gesellschaft (Krämer 2008). Indische Filme bieten afghanischen RezipientInnen gleichsam ein dialogisches Feld, das der eigenen Welt ähnelt und zugleich Perspektiven auf nicht-westliche moderne Rollenbilder und Liebesbeziehungen eröffnet. Die Charaktere im indischen Mainstream-Kino stehen vor ähnlichen Konflikten wie junge Menschen im heutigen Afghanistan: Sollen sie zum Beispiel die Person heiraten, die sie lieben, oder doch jemanden, den die Familie ausgesucht hat? Die Narrative vieler indischer Filme werfen derartige Konflikte auf, verhandeln sie und bieten Lösungskonzepte an (Larkin 2002).

Im ländlichen Bereich kam es durch die Jahrzehnte des Krieges zu dramatischen Umwälzungen und Verwerfungen. Die vorwiegend agrarische subsistenz-orientierte Ökonomie wurde weithin zerstört. Es entstand eine Kriegs‑ und Opiumökonomie, die mit einer rapiden Monetarisierung einherging und die ländlichen sozialen Beziehungen nicht unberührt ließ. Die alten ländlichen politischen Eliten wurden teilweise geschwächt, die Geistlichkeit gestärkt. Mit Islamisten, lokalen Kommandeuren und den Chefs von Schmuggel-Netzwerken positionierten sich neue mächtige Akteure (Kandiyoti 2005: 9). Nicht zuletzt kam es durch Geldüberweisungen von Arbeitsmigranten und Flüchtlingen zu Machtverschiebungen innerhalb der Familienverbände und Stammesstrukturen.

In einigen Regionen des Landes entstand eine neue Kategorie junger Männer, die über bedeutende finanzielle Ressourcen aus dem Opiumgeschäft verfügen. Deren Machtgewinn belastet nicht nur die Beziehungen zu ihren Vätern sowie die Autoritätsstrukturen innerhalb der Familienverbände und lokalen Gemeinschaften (Johnson & Leslie 2004: 49), sondern führt oftmals auch zu veränderten Haushaltsstrukturen, da die finanziell unabhängig gewordenen jungen Männer eigene getrennte Haushalte gründen. Wie sich der Opium-Reichtum auf Heiratszahlungen und das Auftreten von Polygamie auswirkt, lässt sich noch nicht umfassend beurteilen (Kandiyoti 2005: 12). Chris Johnson und Jolyon Leslie bemerken:

„Drogengeld zersetzt immer die alten Werte; die Dorfmoschee wird damit gebaut und zuvor unvorstellbare Brautpreise werden gezahlt." (2004: 26)

Viele junge Männer, die keine Arbeit im zivilen Bereich finden, machen in marodierenden Milizen das Land unsicher. Sie halten sich weder an staatliche Gesetze noch an Normen des customary law, denn staatliche Instanzen sind weit entfernt und die früheren lokalen Autoritätsstrukturen teilweise erodiert. Weithin hat sich eine anomische Gewaltkultur entwickelt, in der jeder, der über eine Kalaschnikow verfügt, sich aneignen kann, wonach ihm der Sinn steht, nicht selten auch junge Frauen, wie eine hohe Zahl von Entführungen und Vergewaltigungen deutlich macht (UNAMA 2009).

Oftmals verfestigen die sozialen Verwerfungen und die Erosion der lokalen gemeinschaftlichen Zusammenhänge zunächst die patriarchalen Strukturen in den Geschlechterverhältnissen. Um die ‘Ehre' der Frauen und damit diejenige ihrer Männer zu wahren, mussten zum Beispiel angesichts der relativen räumlichen Enge in den Flüchtlingslagern und der ständigen Präsenz ‘fremder' Männer die Bewegungsspielräume der Frauen erheblich mehr eingeschränkt werden, als dies im dörflichen Umfeld der Fall gewesen war.

Bei zahllosen Menschen, die entwurzelt und verelendet in den Slums von Kabul und anderen Großstädten leben, den glitzernden Luxus moderner Shopping Malls, ‘sündhafte' Frauen und ‘Sittenverfall' faktisch und medial vor Augen (Koelbl & Ihlau 2008: 145; 212), führt die durch das neue Umfeld ausgelöste sozialmoralische Desorientierung ebenfalls nicht selten zu einem geschlechterpolitischen Backlash.

Sozialpsychologisch lässt sich die verstärkte Reglementierung der Frauen wesentlich durch die Verunsicherung vieler Männer erklären, die geographisch und sozial aus ihren bisherigen Zusammenhängen gerissen wurden. Ihren existenziellen Kontrollverlust versuchen sie mittels einer verschärften Kontrolle über die Frauen zu kompensieren. Allerdings halten auch viele Frauen an Purdah, dem System der Geschlechtertrennung, fest. Für sie repräsentiert Purdah den privaten unantastbaren Schutzraum der Familie in einer fremden Welt, einen kulturell vertrauten Kernbereich in einem durch Zerstörung gezeichneten Kontext (Centlivres-Demont 1994: 358).

Die fortdauernden kriegerischen Auseinandersetzungen mögen eine derartige Dynamik strukturell weiter vertiefen. Zahllose Männer haben Besitz und Arbeit verloren und sind heute mehr denn je abhängig von den Rationen der ausländischen Hilfsorganisationen. Zur Bewältigung der normativen und moralischen Krise, die daraus resultiert, dass Männer die tief verwurzelte Männlichkeitsnorm, verantwortlich für den Schutz der Frauen und der häuslichen Sphäre zu sein, oftmals nicht mehr angemessen erfüllen können, werden neben ideologischen nicht selten auch gewaltsame Mittel eingesetzt (Kandiyoti 2005: 7). Verschärft wird die Entwertung des Selbstwertgefühls zahlloser Afghanen durch die Dauerpräsenz von ausländischen Militärs und Zivilpersonen, die eine offenkundige Missachtung gegenüber überlieferten Werten der afghanischen Kultur an den Tag legen (Schetter 2006: 36f).

Wie in anderen durch Krieg zerrissenen Gesellschaften wachsen die Widersprüche zwischen normativen Konzepten und materiellen Realitäten. Durch das völlige Fehlen von Sicherheit und die katastrophale Armut sind die traditionellen Bindungen des Vertrauens und der Solidarität weithin erodiert. In der entfesselten kriminellen Warenökonomie sind die Schwachen besonders brutalen Formen der Unterwerfung und Ausbeutung ausgesetzt. So verkauften etwa in der Provinz Badakhshan zahlreiche verschuldete Drogen­händler weibliche Verwandte, um ihre Verbindlichkeiten zu begleichen. Viele junge Frauen und Kinder in ländlichen Gebieten werden zu Prostitution und Zwangsarbeit gezwungen (Kandiyoti 2007: 21).

Zusammenfassung und Perspektiven

Im Zuge der Internationalisierung der Staatsbildung seit 2001 wurde die ‘Frauenfrage' einmal mehr zum macht‑ und identitätspolitischen Konfliktfeld und auf komplexe Art und Weise dynamisiert (Azerbaijani-Moghaddam 2006: 40f). Unterschiedliche und widersprüchliche Tendenzen konvergieren, konfligieren und verknüpfen sich. Von der einschlägigen internationalen Agenda und den verfassungsrechtlich garantierten Frauenrechten profitiert nur eine kleine Minderheit insbesondere gebildeter, städtischer Frauen. Gleichzeitig sehen sich Frauen, die sich für mehr Rechte engagieren, von konservativen und reaktionären islamistischen Kräften in identitätspolitischer Perspektive als ‘verwestlicht' diskreditiert. Dauerhaft und nachhaltig können Frauenrechte nur dort gesellschaftlich verankert und umgesetzt werden, wo sozial und politisch relevante und einflussreiche innergesellschaftliche Akteure sich für eine entsprechende Agenda engagieren. Sie können nicht ‘by design' (Kandiyoti) von außen implementiert werden, auch nicht in Afghanistan. Deniz Kandiyoti bemerkt kritisch: „Die Frauenrechts‑ und Gender-‘Mainstreaming'-Agenda, welche die von den Gebern unterstützten Maßnahmenpakete für den Wiederaufbau beseelt, praktiziert einen technokratischen Ansatz für fundamental politische Probleme." (2007: 21)

Hamasa, eine Frauenrechtlerin aus Jalalabad erklärt gegenüber Rostami-Povey: „Frauenrechte und Demokratie können nicht nach Afghanistan importiert werden. Wir müssen es gemäß unserer afghanischen Normen und Werte machen, andernfalls verlieren sie ihre Bedeutung." (Vgl. 2007: 129)

Für die meisten Frauen stehen die durch die Verfassung garantierten Rechte bislang nur auf dem Papier. Sie leben in bitterer Armut und eine Verbesserung ihrer Stellung kann nur unter Einbeziehung der Gemeinschaften erfolgen, auf die sie existenziell angewiesen sind.

Verschiedene Autoren werfen die Frage auf, wie sich Frauenrechte im Kontext der koexistierenden und konfligierenden lokalen, religiösen und staatlichen Rechtssysteme stärken lassen (Wardak 2004; Barfield 2006; Kandiyoti 2009b).

Dabei stellt sich ein grundlegendes Dilemma: Lokale Rechtssysteme genießen zwar vor Ort hohe Akzeptanz, legitimieren jedoch nicht selten massive Diskriminierungen von Frauen, wie etwa den Austausch von Frauen zur Friedensstiftung oder zur Sühnung von Straftaten. Staatliches Recht sieht demgegenüber gemäß Verfassung und internationaler Rechtssetzung eine Gleichstellung der Frau vor, verfügt aber in Afghanistan nur über geringe Legitimität und Reichweite. Da nun das religiöse Recht für die meisten Akteure im formellen wie in den informellen Rechtssystemen ihrem Selbstverständnis nach den grundlegenden Bezugsrahmen bildet (Barfield 2006), dürften sich Forderungen nach mehr Frauenrechten am ehesten auf diesem hermeneutischen Feld strategisch aushandeln lassen. Hier können sich afghanische Frauenrechtlerinnen einer breiten Strömung von Frauen in den Welten einer islamischen Moderne anschließen, die mittels einer Reinterpretation der islamischen Quellen den staatlichen, religiösen und lokalen Patriarchen die Deutungshoheit über die religiösen Texte streitig machen und frauenfreundlichere Gesichter des Islam zu enthüllen suchen (Mir-Hosseini 1999). Inwiefern hybride Institutionen (AHDR 2007: 10f) wie etwa Frauen-Jirgas bzw. ‑Shuras[15] dazu beitragen können, Frauenrechte zu stärken, hängt sicherlich nicht zuletzt ebenfalls vom Engagement afghanischer Frauen selbst ab.

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[1]    So der Titel eines am 29. 11. 2001 in ARTE gezeigten Films zur Lage der Frauen in Afghanistan.

[2]    Die Proteste führten zunächst dazu, dass Präsident Karsai im April 2009 eine nochmalige Prüfung des Gesetzes zusagte. Im Juli 2009 wurde es jedoch in einer nur leicht abgemilderten Version verkündet.

[3]    Zur Auseinandersetzung mit neueren Forschungen über Geschlechterordnungen im Orient, die an Saids Orientalismus-Kritik anknüpfen, vgl. ausführlich Kreile 2009: 253ff.

[4]    Das Wort „purdah" heißt „Vorhang", „Schleier" und umfasst als Institution das ganze System der Geschlechtertrennung (Knabe 1977: 136).

[5]    Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, die komplexen internen und externen Erfolgsbedingungen für Auf‑, Ab‑ und Wiederaufstieg der Taliban umfassend darzulegen; vgl. hierzu Kreile 2002: 48ff.

[6]    „Wir kämpften gegen Muslime, die den falschen Weg gegangen waren. Wie konnten wir ruhig bleiben, wenn wir sahen, wie Verbrechen gegen Frauen und die Armen begangen wurden?" erklärte Mullah Omar, das Oberhaupt der Taliban, später den Entschluss, nach dem Kampf gegen die sowjetische Besatzung erneut zu den Waffen zu greifen (Rashid 2000: 25).

[7]    Die Taliban sprachen keineswegs mit einer Stimme; es gelang bisweilen lokalen Autoritäten sowie manchen ausländischen Hilfsorganisationen durch Verhandlungen, Schulen für Mädchen oder Hilfsprojekte weiter zu betreiben (Johnson & Leslie 2004: 66ff).

[8]    Vgl. hierzu auf der Basis umfangreicher empirischer Forschung kritisch und aufschlussreich Naumann 2009, 152ff.

[9]    Vor welch ungeheuren Herausforderungen angesichts einer Verdreifachung der Einwohnerzahl Kabuls die Regierung in diesem Zusammenhang steht, machen Susanne Koelbl und Olaf Ihlau anschaulich deutlich (2008: 212f).

[10]  Zu verschiedenen Systemen des customary law etwa bei Tajiken, Uzbeken, Hazaras, Turkmenen und Arabern vgl. Barfield u.a. 2006.

[11]  Vgl. auch die Bedeutung des ‘Islam' als ideologischer Integrations‑ und Legitimationsformel für den anti-sowjetischen Widerstand; damit sollte jenseits unterschiedlicher verwandtschaftlicher, tribaler und ethnischer Zugehörigkeiten die gemeinsame Zugehörigkeit aller Muslime zur Umma betont werden (Kreile 1997: 408).

[12]  Wo das Erbe aus Land besteht, hätte die Befolgung des religiösen Rechts die Zersplitterung des Landbesitzes der Lineage zur Folge und könnte somit die Einheit der Gruppe gefährden. Um dies zu verhindern, wird nicht nur bei den Pashtunen, sondern bspw. auch in weiten Teilen des Maghreb das strenge koranische Gebot missachtet, an die Töchter zu vererben, denen die Hälfte des Anteils der männlichen Erben zusteht (Tillion 1983: 29f; 135).

[13]  Kabuls Einwohnerzahl hat sich innerhalb von sieben Jahren von ca. 1,5 Millionen auf ca. 4,5 Millionen Menschen verdreifacht (ICG 2009: i; 9).

[14]  Literarische Topoi ‘romantischer Liebe' finden sich bereits bei dem berühmten pashtunischen Dichter Khushal Khan Khattak aus dem 17. Jh.; auf Reflexionen zur aktuellen Rezeption muss ich im Rahmen dieses Beitrags verzichten. Heutige Jugendliche scheinen sich mit ihren ‘romantischen' Wünschen und Problemen eher in den Narrativen indischer Filme wiederzufinden.

[15]  Vgl. kritisch Azerbaijani-Moghaddam 2006: 35.