der regelbetrieb muss vielfältig werden

Gespräch mit dem Migrationsforscher Mark Terkessidis

prager frühling: Mark, seit der rot-grünen Regierungszeit begreift sich Deutschland als Einwanderungsland: ein Fortschritt?

Mark Terkessidis: Auf alle Fälle. Ich hab diese Feststellung ja damals ein wenig belächelt, weil: war ja eh klar. Aber damit ist diese Fiktion verschwunden, dass die so genannten Ausländer irgendwann wieder nach Hause gehen. Jetzt gibt es eine neue Idee von der Bevölkerung.

pf: Würdest Du das rot-grüne Staatsbürgerschaftsrecht denn auch positiv sehen?

Terkessidis: Einerseits ja, weil die deutsche Staatsangehörigkeit bei Geburt zugeschrieben wird. Andererseits gibt es jetzt das „Optionsmodell“, bei dem sich Nicht-EU-Bürger zwischen 18 und 23 für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen. Gerade bei jungen Leuten türkischer Herkunft führt das zu Stress.

pf: Nach der Sarrazin-Debatte haben sie ja auch nicht gerade das Gefühl hier akzeptiert zu sein.

Terkessidis: Genau. Die haben oft das Gefühl, dass sie trotz allem nie wirklich als Deutsche anerkannt werden und da ist die türkische Staatsangehörigkeit eine Art Versicherung – auch in emotionaler Hinsicht.

pf: Also ist der Traum von der multikulturellen Gesellschaft ausgeträumt?

Terkessidis: Traum? Die multikulturelle Gesellschaft war ja nur ein Modell, das während der 1980er auf Probleme mit dem Begriff Integration reagierte. „Integration“ ging von einer kulturellen Norm aus, an die sich die defizitären Einwanderer anpassen sollten. Dagegen haben die Multikulturalisten die Idee der „Bereicherung“ durch andere Kulturen gesetzt. Damit war aber auch oft ein sehr traditionelles Bild von Kultur verbunden – also Kultur gleich Herkunft. Das hat dann dazu geführt, dass viele Straßenfeste gefeiert wurden, in denen alle Kulturen sich angeblich gleichberechtigt präsentieren durften. Und dort wurden dann alle möglichen nationalen Fahnen nebeneinander aufgehängt. Darin kam ja das implizite Raummodell von „Multikulti“ ganz schön zum Ausdruck – statisches Nebeneinander.

pf: Aber der Begriff Integration ist doch noch immer in aller Munde ...

Terkessidis: Ja, der Begriff hat nach 2000 eine Renaissance erlebt. Dabei hat er sich verändert und ist doch gleich geblieben …

pf: Das hört sich widersprüchlich an.

Terkessidis: …weil der defizitorientierte Ansatz der 1970er Jahre oft noch erhalten ist. Und die angeblichen Defizite besitzen eine erstaunliche Kontinuität: Immer noch geht es um Sprachprobleme, patriarchale Familienverhältnisse oder „Ghettobildung“.

pf: Aber die Vorstellung von Gleichheit, die in dem Konzept steckte, könnte man doch auch positiv interpretieren.

Terkessidis: Aber die Vorstellung von Gleichheit basierte immer darauf, dass sie normativ aufgeladen war. In den 1970er Jahren ging es um die Bildung der Arbeiter. Damals wurde ja auch schon kritisiert, dass die Inhalte dieser Bildung an der Mittelschicht orientiert waren. Die defizitären Arbeiterkinder sollten also am Ende nur „verbessert“ werden. Dass die Arbeiter aber spezifische Wissensformen und auch bestimmte kulturelle Artikulationsweisen hatten, die in einen neuen Raum hätten eingebracht werden sollen, das wurde kaum gesehen. Das ist eine Idee von Gleichheit, die Selbstaufgabe bedeutet. Dieses normative Verständnis transportiert der Begriff Integration weiterhin, deshalb halte ich ihn für verbraucht.

pf: Warum hältst du Integration als Ansatz für problematisch?

Terkessidis: Ich denke, dass es angesichts der demografischen Entwicklung keinen Sinn mehr macht, an alten Ideen festzuhalten. In Nürnberg haben 66% der unter-sechsjährigen einen Migrationshintergrund. Was ist da die Norm? Es gibt aber in den Institutionen der Gesellschaft weiterhin eine Vorstellung davon, wer da quasi richtig ist und wer falsch. Und da muss man ansetzen – nicht bei der „Verbesserung“ der defizitären Einwanderer, sondern bei der Veränderung des Regelbetriebes.

pf: Reicht das, um Problemlagen, wie wir sie aus Stadtteilen mit hohem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund kennen, gerecht zu werden?

Terkessidis: Vorausgeschickt: Berlin ist eine Stadt mit speziellen Problemen, vor allem, was die soziale Lage betrifft. So lag 2005 etwa die Erwerbsarbeitslosigkeit von „Ausländern“ bei 45% – das gab es nirgendwo anders in Deutschland. Aber es ist klar: Es gibt eine Überlagerung von Migrationshintergrund und niedrigem Sozialstatus. Das ist eine Folge davon, dass die ausländischen Arbeitskräfte „unterschichtet“ wurden. Die sind ja damals nicht für alle Jobs angeworben worden, sondern nur für schwere Handarbeitsjobs, die kaum Qualifikationen vorausgesetzt haben. Von denen sind nun viele weggefallen, was die hohe Arbeitslosigkeit erklärt. Zudem wird niedriger Sozialstatus bekanntlich oft „vererbt“. Es gibt also eine andere Klassenzusammensetzung bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Allerdings ändert sich das gerade – Einwanderung ist auch vielfältiger geworden.

pf: Dein Konzept dafür nennst du Interkultur. Kannst du es erläutern?

Terkessidis: Nehmen wir mal ein Beispiel. Sprachprobleme sind ja immer das erste, womit man sich hier befasst. Da fungiert Sprache auch als das letzte nationale Refugium. In Kindergärten sind nun Sprachstandsfeststellungen im Alter von vier Jahren eingeführt worden. Diese testen auf deutsch, was Kinder nicht können. Nun bringen viele Familien mit Migrationshintergrund ihren Kindern zunächst ihre Muttersprache bei. Das ist eben die Sprache, die sie am besten sprechen. Das ist auch pädagogisch richtig: Das Allerschlimmste ist, wenn gebrochenes Deutsch weitergegeben wird. Wenn die Kinder nun mit drei in die Kita kommen, weil es davor keine Angebote gibt, ist ja klar, dass sie in Deutsch Defizite haben. Daher wäre es wichtig, auch einen Test in der Muttersprache zu machen, um festzustellen, was die Kinder können.

pf: Erachtest du es trotzdem als sinnvoll, den Kindern Deutsch beizubringen?

Terkessidis: Selbstverständlich, aber nicht so. Nach dem Test schiebt man die Verantwortung zu den KindergärtnerInnen, die kompensatorisch den „defizitären“ Kindern helfen sollen. Dafür sind sie nicht ausgebildet. In einer Evaluation Baden-Württembergs hat sich gezeigt, dass sie oft eine „Sondergruppe“ bilden und Frontalunterricht machen, was überhaupt nichts bringt. Nun haben die Sprachstandsfeststellungen aber auch gezeigt, dass etwa 25% der einheimischen Kinder auch Defizite aufweisen. Da müsste man viel grundsätzlicher über die Sache nachdenken.

pf: Was schlägst du stattdessen vor?

Terkessidis: Der Regelbetrieb muss umstrukturiert werden: In der Ausbildung zum Erzieher muss Spracherwerb verankert werden, die Kinder müssen früher in die Kita. Und wir müssen weg von der Idee der Kompensatorik. Die Hintergründe der Kinder sind vielfältig, und in diesem Sinne zielt moderne Pädagogik auf Individualisierung. Viele Kitas arbeiten ja auch schon so. Aber generell fehlt es an politischem Willen für die Umgestaltung – das sieht man ja auch beim dreigliedrigen Schulsystem, bei dem doch alle wissen, dass es nicht mehr funktioniert.

pf: Gibt es denn Bereiche, in denen die Umgestaltung konkret angegangen wird?

Terkessidis: Ja. Etwa im Bereich der Personalentwicklung. Durch stetigen Druck gibt es etwa bei den Auszubildenden der Verwaltung in Köln mittlerweile einen Anteil von jungen Leuten mit Migrationshintergrund von 28%. In Berlin gibt es dafür die Kampagne „Berlin braucht Dich“. Oder: Der Landesmigrationsbeauftrage der hessischen Polizei – so was gibt es – berichtete mir, dass man dort ganz bewusst den Anteil auf 17 % erhöht hat. Er erzählte auch, dass man über die Eintrittsbedingungen dort nachdenkt. Voraussetzung für den Dienst ist das Abitur, aber es gibt nicht genug Abiturienten mit Migrationshintergrund, die zur Polizei wollen. Die meisten von ihnen wollen studieren. Da eine Senkung der Qualifikation nicht sinnvoll erscheint, gibt es jetzt Überlegungen, Bewerber mit mittlerer Reife zu übernehmen, die dann innerhalb des Polizeidienstes ihr Abi machen. Die niederländische Polizei hat schon seit den 1980er Jahren Programme für interkulturelle Öffnung, aber nur wenig erreicht – offenbar weil die Atmosphäre für die Minderheitsangehörige überhaupt nicht stimmt.

pf: Was meint das Konzept?

Terkessidis: Es geht um ein Programm der Interkultur, nicht nur – wie früher oft bei interkultureller Öffnung – um die Schulung der einheimischen MitarbeiterInnen in interkultureller Kompetenz. Es braucht eine neue Passung zwischen der Bevölkerung und den Institutionen. Diese Passung stelle ich her, indem ich auf der negativen Seite Diskriminierung bekämpfe und auf der positiven Seite Barrierefreiheit herstelle, also freie Zugangs- und Bewegungsmöglichkeiten. Das bedeutet: Mehr Leute mit Migrationshintergrund müssen in die Institutionen hinein. Dann muss sich die Organisationskultur verändern. In Institutionen gibt es gewöhnlich eine Idee davon, wer eine privilegierte Position einnehmen soll und wer nicht. Mit Betriebsverfassungen, „Corporate Codes“, versucht man etwa in US-Unternehmen die unsichtbaren Regeln transparent zu machen, so dass alle sich wohlfühlen. Der dritte Punkt betrifft die Räumlichkeiten. Wie müssen sie beschaffen sein, dass es keine Schwellen gibt und sich alle in ihnen wiederfinden. Die Stadt Stuttgart verlangt übrigens von allen Trägern, die städtische Gelder erhalten, dass sie Diversity-Management machen – auch die Caritas. Das finde ich sehr gut – für die anstehenden Veränderungen braucht es etwas Druck.

pf: Vielen Dank für das Interview!


Dr. Mark Terkessidis war von 1992–1994 Redakteur der Zeitschrift „Spex“. Er ist Mitherausgeber des seinerzeit für die deutschsprachige Diskussion über Popkultur wegweisenden Buchs „Mainstream der Minderheiten“ (1996) und Mitbegründer des Institute for Studies in Visual Culture (ISVC) in Köln (2000). Sein aktuelles Buch „Interkultur“ kann der Interviewer, Thomas Lohmeier, nur empfehlen.