Zwischen Skylla und Charybdis

Streubomben sind Teufelswerk. International weitgehend geächtet gelten sie als hinterhältige, unmoralische Waffe. Die sozialistischen Länder – allen voran die Sowjetunion – geißelten seinerzeit zu Recht den Einsatz der „Ananasbombe“ (BLU-3 Pineapple) durch die USA in ihren Kriegen in Vietnam, Laos und Kambodscha. Das sowjetische Militär fühlte sich davon aber nicht angesprochen. Es setzte diese „Waffe“ ungehemmt in Afghanistan ein. Unmoralisch ist immer nur, was der Andere macht.

Am 3. Dezember 2008 unterzeichnete als erster der norwegische Ministerpräsident die „Streubomben-Konvention“ zum Verbot des Einsatzes, der Herstellung und der Weitergabe bestimmter Arten von Clustermunition. Das war Jens Stoltenberg, der heutige NATO-Generalsekretär … Inzwischen haben 111 Staaten und der Vatikan die Konvention unterzeichnet. Bemerkenswert, wer dies nicht getan hat: unter anderem die USA, Russland, China, die Ukraine, Indien, Brasilien und Israel. Die Genannten sind nicht nur teilweise Anwender dieses Teufelszeugs, die USA, Russland und China gehören auch zu den weltweit größten Herstellern.

Nachdem jetzt US-Präsident Biden erklärt hat, Streumunition an die Ukraine liefern zu wollen, überschlugen sich die russische Regierung und ihre Medien an lautstarken Protesten. Verschwiegen wird, dass die eigenen Truppen Streumunition zum Beispiel gegen die Zivilbevölkerung von Charkiw (u.a. am 15. April und am 16. August 2022; nach Recherchen von Amnesty International Streumunition des Typs 9N210/9N235 sowie Streuminen ) und Cherson (19. bis 22. November 2022) eingesetzt hatten. Auch der Protest der westeuropäischen Friedensbewegung war damals vergleichsweise verhalten. Warum? Der Feind meines Feindes ist mein Freund? Oder gilt da eher das Prinzip, nun ja, kann passieren … Wo gehobelt wird …?

Diese zwiespältige Reaktion, eine Art Dr.-Jekyll-and-Mr.-Hyde-Haltung, führt zu bitter-enttäuschten Kommentaren: „Der Aufschrei der Schein-Moralisten gegen Streumunition kommt ja nur, wenn die Ukraine sich verteidigt und nicht, wenn ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten mit russischer Streumunition ermordet werden.“ So zitiert der Juristen-Blog lto.de Krista-Marija Läbe, die Sprecherin von Vitsche, einem Verein junger Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland. Läbe hat nicht Unrecht, wenn Sie darauf hinweist, dass sämtliche Munition, eigene wie feindliche, fast ausschließlich auf ukrainisches Gebiet niederregnet.

Ich meine schon, wer gegen den Einsatz von Streumunition ist, muss radikal gegen beide Seiten vorgehen. Und gegen deren unterwürfige Helfershelfer, auch wenn da so mancher inzwischen zum deutschen Verfassungsorgan mutiert ist.

Wenn Frank-Walter Steinmeier am 9. Juli 2023 erklärt, die Bundesregierung dürfe den USA in dieser Situation „nicht in den Arm fallen“ – und er sei in der Frage „befangen“, weil er als Außenminister das Anti-Streubombenabkommen unterzeichnet hatte –, macht er zweierlei deutlich: Er degradiert sich selbst zum hilfswilligen Knecht, und er stuft die deutsche Unterschrift als Public Relation ein. Wenn’s notwendig sein sollte, halten wir uns eben nicht dran. Aber wir erröten ein wenig.

Dass Steinmeier damit sein eigenes Amt diskreditiert und uns in die Rolle einer Bananenrepublik drückt, scheint er nicht bemerkt zu haben. Aber die politische Gegenseite ist nicht besser.

Tobias Bank, Bundesgeschäftsführer der Linkspartei am 7. Juli 2023: „Die Verteidigung gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg rechtfertigt nicht den Einsatz völkerrechtlich geächteter Waffen. Man bekämpft einen Völkerrechtsbruch nicht mit einem weiteren Völkerrechtsbruch. […]. Mit der Lieferung von Streumunition würden die USA Beihilfe zu einem neuen Völkerrechtsbruch leisten.“ Gregor Gysi, Außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Partei, lieferte schon am 25. Juni quasi vorab „Butter bei die Fische“, wie es so schön heißt, man müsse sich nämlich „der Eskalationslogik und der fortschreitenden Verrohung entgegenstellen“. Aus der Erkenntnis heraus, dass die Kriegsziele keiner der beiden Seiten durchsetzbar seien, schlägt Gysi im Gespräch mit der Berliner Zeitung eine Art wechselseitige Rücknahme von militärisch vollzogenen Völkerrechtsbrüchen vor: Kosovo (die Untat des Westens) gegen die Krim (die Untat Russlands): „Nun, die Nato hat ihr Ziel bezüglich der Ukraine ja noch nicht definiert. Soll nun die Krim wieder rausgerückt werden oder zunächst nicht? Sagt sie nicht. Irgendwie wiegt es sich auf, Kosovo und Krim.“

Die auf einer solchen Basis zu führenden Friedensverhandlungen wären dann wohl eine Art Neuauflage des Berliner Kongresses von 1878. Dessen Festlegungen führten seinerzeit nur kurz zu einer Beruhigung der Lage auf dem Balkan – um schlussendlich in eine wahre Orgie zunächst territorial begrenzter Kriege zu münden. Am Ende stand das Große Morden von 1914. Und bei aller Hochachtung, Gregor Gysi ist nicht Otto von Bismarck. Eines aber hätten der Berliner Kongreß und sein Krim-Kosovo-Nachfolger dann aber gemeinsam: Die Rechnung würden die Großmächte ohne die Betroffenen aufmachen.

Und deren Stimme, damit sind wir wieder bei Krista-Marija Läbe, interessiert ohnehin nicht viel. Wir schäumen auf, wenn Joe Biden und seine Paladine sich äußern. Wir schauen gebannt auf Präsident Putins Selbst-Inszenierungen oder verfolgen – je nach politischer Position – mehr oder weniger begeistert die Aktionen seiner Warlords wie Jewgeni Prigoschin. Und Wolodomyr Selenskyjs Auftritte belächeln wir gerne in unverhohlener Arroganz – wie jüngst auch in dieser Zeitschrift geschehen – als die eines „Kiewer Staatsschauspielers“. Was ist da los mit uns?

Einen Erklärungsversuch unternahm der Berliner Slawist Georg Witte in der Ausgabe 139 von lettre international. Unter dem Titel „Das Verhör“ versuchte er einen Prozess zu hinterfragen, den er „Selbstimmunisierung“ nennt. Er konstatiert bei sich selbst links und pazifistisch verortenden Kreisen „immer dieselbe, geradezu reflexhafte Abwehr gegen eine Teilhabe am Leiden und am Kämpfen der Ukrainer“. Schlussendlich werden die stets gleichen Relativierungspirouetten gedreht. Und Witte listet auf. Eine kleine Auswahl: „Zwar hat Russland angegriffen, aber es wurde auch provoziert. Zwar ist Russland imperialistisch, aber das ist nichts gegen die NATO = USA. […] Zwar sehen wir schlimme Bilder, aber Selenskyj, TV-Profi, versteht was von Propaganda. Zwar ist das ein scheußlicher Krieg, aber all die anderen Kriege sind es auch“ (Hervorhebungen im Original – G.H.). Die Argumentationsschulen der diversen Parteilehrjahre und Dialektikseminare schimmern immer wieder durch.
Witte hat zwei Linien übersehen. Zum einen wird gebetsmühlenartig – natürlich historisch-materialistisch korrekt verpackt – von den „legitimen Sicherheitsinteressen“ Russlands gesprochen. Diese Fügung ist verräterisch. „Legitim“ unterstellt, dass die Sicherheitsinteressen anderer, also zuvörderst die der Überfallenen, illegitim sind. Das ist ein massiver Angriff auf die Charta der Vereinten Nationen: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“ (Kapitel 1, Art. 2, Absatz 4).

Ergänzend wurde in der UN-Resolution 3314 vom 14. Dezember 1974 der Begriff der Aggression eindeutig definiert: „Aggression ist die Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates gerichtet oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar ist, wie in dieser Definition ausgeführt.“ Nichts anderes praktiziert Russland. Nebenbei bemerkt: Die bewaffnete „Unabhängigkeitsbewegung“ der Volksrepubliken Donezk und Luhansk ist davon – wie alle Befreiungsbewegungen – nachdrücklich ausgenommen. Selbst wenn hier russische Condottieri eine nicht unwesentliche Rolle spielten. Allerdings hat die ukrainische Zentralregierung das Recht, gegen diese Irredenta auch bewaffnet vorzugehen. Das ist eine rein innerukrainische Angelegenheit.

Eine andere Dimension bekam die Sache durch das Andocken dieser Territorien an die Russische Föderation, was nun wieder unter den zitierten Art. 2 (4) der UN-Charta fällt.

Aggression und Annexion bleiben Aggression und Annexion – egal, in was für bunte Papierchen man auch immer sie einwickelt.

Die zweite Linie nenne ich das Akzeptieren der russischen Atomkriegsdrohungen. Ja, die Gefahr besteht. Und der russische Präsident wird den roten Knopf drücken, wenn NATO-Militär russisches Territorium angreift. Wie gesagt, NATO-Militär. Weshalb allerdings ukrainische Raketen nicht auf Moskau abgefeuert werden dürfen, solange Kiew unter ständigen russischen Angriffen leidet, kann nur Dmitri Medwedew erklären. Die atomare Hemmschwelle in den Köpfen russischer Strategen wird allerdings zunehmend niedriger, je mehr die Welt vor dieser Drohung zurückweicht. Und es ist ziemlich egal, ob solche Waffensysteme in Grenznähe stationiert sind oder nicht. Die zum „Gleichgewicht des Schreckens“ führenden Bedrohungspotenziale liegen bei den interkontinentalen respektive submarinen Einheiten der Supermächte. Das war schon zu Zeiten der Indochina-Kriege so. Letztendlich bewirkt diese Argumentationslinie das Einknicken vor den Forderungen des Aggressors, hätte die Preisgabe der Ukraine durch einen faulen, vergifteten Friedensvertrag zur Folge. Damit wären wir wieder beim Berliner Vertrag von 1878 … Der Logik einer Räuberbande darf man sich nicht unterwerfen. Die wird ihre Forderungen im Ergebnis eskalieren lassen.

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