„Das jeweils relevante gemeinsame Dritte finden…“ Rassismuskritik und/oder Antirassismus? Nachdenken über ein erkenntnispolitisches Feld

Widersprüche, Heft 169, 43. Jg. 2023, Nr.3, 45-62

Annita Kalpaka, Paul Mecheril & Efthimia Panagiotidis[1]

 

Das jeweils relevante gemeinsame Dritte finden…“ Rassismuskritik und/oder Antirassismus? Nachdenken über ein erkenntnispolitisches Feld

 

Die Idee für ein Gespräch über Antirassismus in Zusammenhang mit dem Konzept der Rassismuskritik entstand dadurch, dass in beiden Perspektiven sich ähnliche Herausforderungen und Ansprüche stellen, trotz der Abgrenzungen, die oft in rassismuskritischen Beiträgen gegen Antirassismus postuliert werden. Einen spannenden Strang des Gespräches bildet insofern die Frage nach dem Entstehungskontext und dem Wirkungsumfeld der beiden Ansätze, worin sich die beiden unterscheiden und welche Anliegen die beiden Konzepte verbindet. Dieses Gespräch hat die Form eines gemeinsamen Nachdenkens über diese Fragen. Bei der Überarbeitung des Transkripts wurde der Duktus des Gesprächs im Wesentlichen beibehalten.

 

E.P.: Ich freue mich sehr mit Euch, Annita und Paul, zu sprechen, weil ihr auf eine feine, humorvolle, zuspitzende und manchmal poetische Art – wenn ich z.B. an den Text von Annita „Edelsteine und Stolpersteine“ (Kalpaka 2003) oder an Vorträge von Paul denke – das schwermütige Thema Rassismus bewegt. Insbesondere spricht mich das situierte Wissen an, das ihr in den letzten Jahrzenten produziert habt. Es erschöpft sich nicht nur darin, rassistische Verhältnisse zu analysieren, sondern denkt zugleich die Option mit, wie die Subjekte in ihren unterschiedlichen Positionierungen in konkrete Machtverhältnisse verstrickt sind. Vor allem aber ist es vom Willen durchzogen, strukturelle Verhältnisse verändern zu wollen.

Einleitend zum Thema Antirassismus und Rassismuskritik, bin ich aus meiner Situierung heraus während meiner theoriepolitischen Sozialisierung in selbstorganisierten Migrant*innen Zusammenhängen oder antirassistischen Netzwerken, seit Mitte der 90er Jahre, tatsächlich eher dem Begriff des Antirassismus begegnet. In meiner Hochschultätigkeit, seit Mitte der 2000er Jahre, stelle ich jedoch oft fest, z.B. bei Abschlussarbeiten, die sich mit Rassismus auseinandersetzen, dass Studierende sich eher auf das Konzept der Rassismuskritik beziehen. Diese Verschiebung erweckt die Neugier mit Euch darüber zu sprechen, welche Themen ihr aktuell in den Bereichen seht und welche Fragen sich im Laufe Eurer Auseinandersetzung mit dem Komplex Antirassismus und Rassismuskritik auch entwickelt haben.

 

1. Spaltungen und die Schwierigkeit Bündnisse zu schließen

 

P.M.: Ich weiß jetzt nicht, wo wir starten wollen und werden. Ich hatte mir zwei Themen notiert: Das eine wäre das Verhältnis von Antirassismus und Rassismuskritik. Das ist sicher auch ein guter und sinnvoller Einstieg. Und der zweite Punkt: Was halten wir für wichtig, mit welchen Dingen sind wir beschäftigt. Also hoffentlich sind wir mit Dingen beschäftigt, die wir auch wichtig finden – das ist im Leben ja nicht immer der Fall. Aber der zweite Punkt könnte sein, dass wir uns austauschen über Themen, Fragen, Aufgaben, die wir für bedeutsam erachten. 

 

A.K.: Also, ich würde anfangen wollen mit dem, was mich und uns aktuell konkret beschäftigt: Nachdenklich stimmt mich tatsächlich die Frage nach den Spaltungen und die Schwierigkeit, Bündnisse zu schließen, die oft mit einer Hierarchisierung von Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen einhergehen mit dem Effekt, dass die unterschiedlich von Rassismus betroffenen Gruppen wiederum in Konkurrenz zueinander geraten – oft auch um Fördermittel. Gruppen, die es geschafft haben, ihre Anliegen unter einer bestimmten Selbstdefinition oder auch Zuschreibung zu platzieren, kommen in die Förderung rein – weiterhin in der Regel Projektförderung und keine langfristige Finanzierung. Andere bleiben oft mit der Begründung außen vor, sie hätten sich integriert. In dieser Verteilungspraxis kann aber auch ein Opportunismus der Behörden gesehen werden, denn gerade nach den Protesten anlässlich der Ermordung von George Floyd, wurde plötzlich eine Finanzierung – und das ist auch gut so – für Bildungs-, Empowerment- und Vernetzungsprojekte im Bereich des Antischwarzen Rassismus möglich. Gleichzeitig werden Gelder für andere Gruppen und Projekte gekürzt.

Eine Spaltungspolitik „von oben“ ist nicht verwunderlich. Die Hierarchisierung von Migrant*innen- und Geflüchtetengruppen ist ja auch politisch gewollt und in der Gesetzgebung verankert. Erinnern wir uns hier nur an die Privilegierung von Geflüchteten aus der Ukraine. Dies wirkt auch nach innen und nach unten und erschwert zuweilen Bündnisse oder Solidarisierungen. Es stimmt mich nachdenklich, im Rahmen von Netzwerken von Rassismuserfahrenen oder auch bei online-Vorträgen und Workshops, die in der Zeit der Pandemie aufgeblüht sind, zu erleben, wie Menschen ihre Rassismuserfahrungen abgesprochen werden, weil sie per Fremdzuschreibung anhand phänotypischer Merkmale als weiß oder europäisch eingeordnet werden. Und da merke ich, dass durch diese Schwarz-weiß-Gegenüberstellung Rassismus doch auf die Hautfarbe reduziert wird. Das beunruhigt mich, weil wir eigentlich seit Jahrzehnten versucht haben, eine andere Idee davon zu entwickeln, was Rassifizierungsprozesse und Rassismus bedeuten – bei aller Unterschiedlichkeit der Erfahrungen und Konsequenzen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass von einem strategischen Essentialismus in einem schleichenden Prozess nur ein Essentialismus übrigbleibt. Nicht umsonst hat Spivak sich von diesem, von ihr geprägten Begriff, distanziert. 

Mich erreicht auch die Sorge und der Unmut von Leuten, die sagen: „Ah, plötzlich bin ich jetzt privilegiert, weil ich aus Europa komme?“ Wenn Europa jetzt als ein weißes Europa gedacht wird, was ist mit dem Gefälle zwischen Nord- und Südeuropa? Was ist mit den verfolgten Minderheiten, die in Europa leben? Und wo bleibt die Geschichte der „Gastarbeiterzeit“? Wir sehen ja, dass deren Nachfahren noch in der x-ten Generation Benachteiligungen erfahren und sogar zu Opfern von rassistischen Gewalttaten werden. Das zählt alles nicht mehr als rassistische Ausgrenzung? 

Im Rahmen dieser Kämpfe um Sichtbarkeit geht es also oft um die Frage, wer legitimiert ist, über Rassismuserfahrungen zu sprechen und wer nicht und wer darüber urteilen kann. Die symbolischen und materiellen Aus- und Einschlüsse und die damit einhergehende Umverteilung knapp gehaltener Ressourcen sind ein Thema, das mich ziemlich beschäftigt.

 

P.M.: Also ich finde das ist ein ganz wichtiges Thema. Also, den Punkt, den Du jetzt angesprochen hast, bei dem es um strukturelle Konkurrenz von Fördermitteln geht, aber selbstverständlich auch um symbolische Anerkennung und die Frage, wer ist legitime Sprecher*in in Bezug auf den Themenkomplex „Rassismus“. Gerade jetzt, wo Rassismus sozusagen offiziell diskursiv und politisch entdeckt worden ist und wo es vielleicht zum ersten Mal in der bundedeutschen Geschichte etwas Geld für Rassismusforschung und Rassismuskritik gibt. In diesem Zusammenhang wäre für mich ein erstes Anliegen, Räume zu schaffen, in dem gemeinsam ein Verständnis darüber entwickelt werden kann, was eigentlich passiert, mit welchen Konkurrenzen wir es weswegen im Feld der Kritik des Rassismus zu tun haben. Gemeinsam gilt es zu untersuchen, wie die unterschiedlichen Erfahrungen, Ambitionen, Verletzungen und Anerkennungswünsche sich als Geltungsansprüche formieren und durchsetzen, wer davon profitiert und wer eben außen vor bleibt. Das zweite Anliegen wäre die Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine Umgangsweise mit diesen manchmal großen Unterschieden und – was zuweilen entscheidender für das Affektive ist – kleinen Differenzen und den darin deutlich werdenden Begehren aussehen kann (Mecheril 2021). Im Sinne einer rassismuskritischen Wissensproduktion ginge es darum, die Involviertheit aller zum Thema zu machen im Bewusstsein, dass wir alle rassistisch betroffen sind, aber unterschiedlich. Vielleicht bringt sich im Begehren um Anerkennung der eigenen, strukturell vermittelten Geschichte der Degradierung und Verletzung auch eine Art Narzissmus zum Ausdruck. Dann mögen zwar alle narzisstisch sein, haben aber auch unterschiedliche Geschichten, in denen der Narzissmus entwickelt, kultiviert und reflektiert werden konnte. 

In den letzten Jahren ist ein öffentlicher Raum der legitimen Thematisierung von Rassismus und von Rassismuserfahrungen sozusagen von heute auf morgen entstanden. Da ist, trotz anhaltender Diskreditierung von Rassismuskritik, doch eine Tür aufgegangen und zwar nicht von Zauberhand oder von selbst, sondern auf Grund eines jahrzehntelangen politischen und epistemischen Engagements. Es passiert gerade sehr viel, und dadurch entsteht vielleicht auch das Gefühl bei vielen, jetzt rasch und präsent sein zu müssen, nur nicht den Anschluss zu verpassen. Wir müssen uns nur vergegenwärtigen, wie viele einführende Bücher zu Rassismus in den letzten Monaten auf den Markt geworfen wurden – sogar von Autor*innen, die bisher nicht besonders verdächtig waren, rassismuskritisch zu sein. Sich zu diesem Sog zu verhalten und sich nicht allein von ihm irgendwohin führen zu lassen, ist aus rassismuskritischer Perspektive enorm bedeutsam. 

Es ist also wichtig, sich zu dem Umstand zu verhalten, dass ein Markt entstanden ist und mit dem kritischen Sprechen über Rassismus Kapital akkumulierbar geworden ist und dass Räume entstanden sind, die zuweilen als Chance auf eine Art identitätslogische und -politische Tendenz der Rehabilitierung bestimmter rassifizierter Subjekte aufgefasst und durchaus affektiv gestaltet werden. Ich denke an den letzten Satz des Buches „Identitätspolitiken: Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken“ von Lea Susemichel und Jens Kastner (2018), der sinngemäß ausdrückt, dass Identitätspolitik auch als emanzipative Praxis durchaus bedeutsam, aber kein Ende des politischen Engagements sein kann. Konsequenterweise widmet sich das 2021 erschienene anschließende Buch der beiden dem Thema „Unbedingte Solidarität“. Genau diesen Übergang von Identitätspolitik, die zweifellos auch eine emanzipative Energie hat, zu Bündnissen als einer bestimmten Form von Solidarität zu thematisieren, zu gestalten und kritisch zu reflektieren, verstehe ich als Bestandteil des rassismuskritischen Anliegens, also so wie ich Rassismuskritik verstehe und, soweit ich sehe, als Konzept eingeführt habe (Mecheril 2004). 

 

A.K.: Ja und auch die Schwierigkeit, bestimmte Formen der Solidarisierung zu thematisieren inklusive der Frage, wer darf den jeweiligen Aspekt thematisieren? Denn die Ausdifferenzierung spezifischer Rassismen – Antischwarzer, Antislawischer, Anti… – hat ihre Berechtigung und auch eine empowernde Funktion, aber zugleich auch ihre Tücken. Ein weiterer Gedanke, der mich im Hinblick auf Bündnisse begleitet, ist, dass wir oft abstrakt darüber sprechen und dass es eine Verständigung über den Anspruch an Bündnisse braucht. Dass es vielleicht wichtig wäre, sich von der Idee zu verabschieden, die Bündnisse als allumfassend und dauerhaft denkt. Meine langjährige Erfahrung in unterschiedlichen politischen Gruppen und Bewegungen lehrte mich, dass Bündnisse eher temporär beim gemeinsamen Tun entstehen können und nicht für immer Bestand haben müssen oder können. Das jeweils relevante gemeinsame Dritte zu finden, sich für die konkreten Kämpfe zu verbünden, ist nicht immer leicht, aber ein gutes Lernfeld und oft auch effektiv. Dabei ist das Scheitern ja auch Teil des Such- und Lernprozesses.

 

E.P.: Wie jedoch kommt es zu der Vormacht partikularer Interessen statt der Solidarisierung unter Rassismusbetroffenen, wenn Sie die gemeinsame Erfahrung der Ausgrenzung teilen?

 

P.M.: Wo auch immer Menschen zusammenkommen, gibt es Konflikte. Und ich hätte einen großen Vorbehalt gegenüber Orten, an denen es keine Konflikte gibt. Die Konflikte in antirassistischen Zusammenschlüssen haben auch damit zu tun, dass die Beteiligten unterschiedliche politische Vorstellungen haben. Die einen sind irgendwie stärker sozialdemokratisch unterwegs, und die anderen wollen den Staat abschaffen. Das ist ein veritabler Unterschied, der zu Konflikten führen kann. Darüber hinaus haben die Konflikte damit zu tun, dass die Ressourcen beschränkt sind und dass über Bedürfnisse zu sprechen und sich zu artikulieren gerade bei einem so heißen Thema, wie Rassismus sehr ausgeprägt sind, bei dem es immer etwas zu verlieren gibt – und manchmal sind das signifikante Verluste. Diese Konflikte finden also statt und sie müssen auch stattfinden. Es wäre aber mehr als zu begrüßen, wenn die Differenzen, die sich in den Konflikten artikulieren, nicht immer nur auf Gegensatzpaare wie weiß/schwarz, schwarz/migrantisch zurückgerechnet werden würden, weil diese dichotomen Schemata möglicherweise viel mit der Rasse-Logik zu tun haben. Und das glaube ich, ist unsere geteilte Sorge, nicht wahr, Annita, dass in dem Moment, wo Rassismus sprechbarer wird und auch rassismuserfahrene Leute anfangen zu sprechen, Räume entstehen, in denen rassistische Denkfiguren reproduziert werden.

 

A.K.: Das ist aber auch nicht überraschend, denn andererseits wäre es ein merkwürdiges Menschenbild, wenn wir die Erwartung hätten, dass alle Leidenden in einer Konkurrenzgesellschaft nicht in Konkurrenz zueinander treten würden. Vielleicht ist es sogar eher nachvollziehbar, dass Leidende unter verschiedenster Art von Unterdrückung, um etwas kämpfen, was knappgehalten wird und zwar nicht nach oben, sondern gegeneinander. Und dass rassistische Denkfiguren im Sprechen über und im Kämpfen gegen Rassismus reproduziert werden, ist auch nicht verwunderlich. Wichtig dabei ist, ob sie der Reflexion zugänglich bleiben bzw. ob es Räume gibt, in denen Reflexionsschleifen möglich sind.

 

P.M.: Ja genau, das meinte ich anfangs mit dem Verstehen wollen, was da eigentlich passiert. Im Anschluss an das, was Du gesagt hast, Annita, finde ich wichtig, nicht davon auszugehen, dass diejenigen, die strukturell deprivilegiert sind, nur weil sie strukturell benachteiligt sind, irgendwie klügere, sittlichere, angemessenere, professionellere, reflexivere, empathischere, oder nettere Menschen sind. Also auch das würde genau eine manichäistische, kategoriale Logik reproduzieren, in der nicht nur klar ist, dass es die Differenz zwischen Diskriminierenden und Diskriminierten gibt, sondern den Diskriminierten ein zuweilen sakraler Vorrang zukommt. So wichtig es ist, auf strukturelle und damit immer auch verkörperte Ungleichheiten kritisch zu verweisen, so wenig überzeugend ist die Überhöhung derer, die strukturell bedingte Leid- und Missachtungserfahrungen machen. Aus dieser Höhe ist der Fall tief.

 

A.K.: Ja und es geht auch tatsächlich materiell um etwas. Geld zu bekommen für ein Projekt ist eine Währung, die auch Anerkennung bedeutet. Wobei ich in meinem langen, aktivistischen Leben diese Anerkennung auch als Tücke erlebt habe, insofern als z.B. mancher Aktivismus dann eher in die bezahlte Soziale Arbeit übergegangen ist und als Migrations-Sozialarbeit etabliert wurde. Trotzdem ist es im kapitalistischen Kontext eigentlich kein Wunder, das diese Währung zählt. Zwar kann nicht alles mit dem Kapitalismus erklärt werden. Jedoch ökonomische Dimensionen auszublenden, ist auch ein Problem. Dennoch finde ich es wichtig und fernab von Vorwürfen und Moralisieren, nachzuvollziehen und kritisch zu reflektieren, auf welche Logiken man sich bei Beantragung von materiellen Ressourcen und bei der Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung des eigenen Tuns, einlässt.

 

E.P.: Durchaus ist es eine kluge Strategie, dass Töpfe genutzt werden, um auch eine bestimmte Bildungsarbeit zu machen. Ich hänge jedoch immer noch der Frage nach, welche Fäden zu den Konkurrenzen oder Ungleichgewichten führen.

 

P.M.: Ich sehe hier eine doppelte Spur: Erstens hängen die Konkurrenzen um die Nutzung und Gestaltung von Sprechräumen und Sprechautorität mit einer spezifischen Form der Erfahrung der Benachteiligung zusammen und auch mit einer spezifischen Form, auf unterschiedlichen Ebenen immer mehr Aufwand betreiben zu müssen. Im Übrigen auch auf einer affektiven Ebene: Arbeit an Gefühlen, die ich in der Öffentlichkeit oder die ich auch in Beziehungen habe. Zweitens wirkt die Geschichte der multiplen Schwierigkeit, diese Benachteiligung und Mühe zu thematisieren und ihre strukturellen Bedingungen kritisch zu realisieren: Sowohl im Privaten, im Freundeskreis, im Stadtviertel, in der Elternversammlung, in dem Hochschulkollegium, aber auch im politisch-öffentlichen Raum war es über Jahrzehnte kaum möglich, über die Realität von Rassismus und den Umstand, dass Rassismuserfahrungen real sind, zu sprechen, ohne diskreditiert zu werden. Unter diesen beiden Bedingungen signifikanter Missachtungserfahrungen – wir haben dies als primäre und sekundäre Rassismuserfahrung bezeichnet (Çiçek/Heinemann/Mecheril 2022) – und, um es mit einem Ausdruck von Manuela Bojadžijev (2022) zu formulieren, der Verknappung des Diskurses über Rassismus ist für viele eine politisch-persönliche Dringlichkeit entstanden, Dinge zu thematisieren. Wenn dann die Tür ein bisschen aufgeht, wird diese Dringlichkeit deutlich und der nachvollziehbare Bedarf sichtbar, sowohl die individuellen Geschichten und Erfahrungen zu artikulieren als auch die gesellschaftlichen oder organisationalen Verhältnisse kritisch zu benennen, die diese Erfahrungen vermitteln. Letztlich reflektiert dieses Gerangel um Sprech- und Artikulationsmöglichkeiten – wer ist dran, wer darf Gelder in Anspruch nehmen, Projekte machen, die eigenen Erfahrungen zum Ausdruck bringen – die strukturelle Knappheit, die es über Jahrzehnte gegeben hat. Diese Geschichte der Knappheit sollten wir uns rassismuskritisch vor Augen führen.

 

2. Antirassismus und Rassismuskritik

 

A.K.: Aus einer verstehenden Perspektive ist gut erkennbar und nachvollziehbar, dass viele Gruppen den Drang teilen, Raum einzunehmen, in ihren spezifischen Erlebnissen, Erfahrungen und Benachteiligungen wahrgenommen zu werden und nicht zuletzt Ressourcen für ihre Arbeit sicherzustellen. Insofern teilen sie etwas, aber es gibt nicht genug für Alle. Eine Frage, die mich dabei umtreibt, ist, wie finden wir auch andere Formen des Umgangs jenseits der Konkurrenz, die ich nicht als schicksalhaft hinnehmen möchte, und wie finden wir auch eine Form uns aus einer antirassistischen bzw. rassismuskritischen Perspektive einzubringen. Was wären jetzt Interventionsmöglichkeiten, um auch andere Diskussionen oder Selbstreflexivität anzuregen, trotz oder innerhalb dieser Zwänge und Bedingungen? Aus meinem Antirassismusverständnis heraus stellen sich im Hinblick auf das jeweils eigene Handeln aller Beteiligter Fragen wie: Was richtet mein Handeln an? Wie bin ich eingebunden und was reproduziere ich temporär wider besseres Wissen in einem bestimmten Kontext oder einer Konjunktur des Antirassismus? Welche Räume könnten wir für solche Debatten schaffen? Ich spüre dafür auch eine gewisse Verantwortung, zumal wir Konzepte und Analyseperspektiven in die Welt gesetzt haben, die relativ breit rezipiert wurden. Rassismuskritik hast Du, Paul, entwickelt. Das Konzept wurde gut angenommen und natürlich kann man jetzt nicht für alles verantwortlich sein, was die Leute daraus machen. Ähnliches gilt für den Umgang mit antirassistischen Ansätzen. Gleichzeitig wirft diese Aneignung für mich zwei Fragen auf: Erstens, was erlaubt ein Ansatz an Interpretationen, und wo müsste das jeweilige Konzept eventuell ergänzt bzw. präzisiert werden? Die andere Frage wäre: Lässt man den Deutungsprozess dann einfach so laufen und jede*r beruft sich auf den gleichen Begriff mit manchmal abenteuerlichen Auslegungen, so dass man dann das Konzept am Ende nicht wiedererkennt? Denn trotz des Eigenlebens der Begriffe berufen sich Leute auf dich oder auf mich.

 

P.M.: Ich finde diese Frage, die Du gestellt hast, also was legen bestimmte Konzepte nahe, und inwiefern hat Rassismuskritik, als Konzept, bestimmte Ermöglichungsbedingungen geschaffen und andere verhindert, überaus interessant und relevant. Allerdings muss die Praxis der Berufung auf Rassismuskritik nicht immer viel zu tun haben mit dem, was Rassismuskritik konzeptionell meint – zumindest nach meinem Verständnis meint. Und die Berufung auf „mein Verständnis“ ist gar nicht so unkompliziert für mich. Der Ausdruck zumindest hat ja eine gewisse Verbreitung erfahren, und mittlerweile gibt es auch Einführungsbücher zu Rassismuskritik, die von anderen Autor*innen geschrieben werden (z.B. Stender 2023). Wie gesagt, ein Markt ist entstanden. Das heißt aber auch, dass das analytische Anliegen der Rassismuskritik – die Wirksamkeit essentialisierender natio-ethno-kulturell kodierter Differenzschemata bei der Legitimierung der Ungleichheit des Menschen – ebenso wie das normative, nicht dermaßen von diesen Schemata regiert zu werden, diskutiert wird und Verbreitung findet. Zugleich schreckt mich manchmal auch die Selbstgewissheit, in der im Namen der Rassismuskritik geurteilt wird. Ich merke, dass ich mich dann eher zurückziehe, um nicht wie der Johannes Heesters der Rassismuskritik darauf zu beharren, dass diese Selbstgewissheit nun wirklich nicht der Idee der Rassismuskritik entspricht.

Denn mein Verständnis des Anliegens der Rassismuskritik geht in die Richtung: Immer wieder Räume der Sondierung gesellschaftlicher Realität und – um Astrid Messerschmidts (2016) Begriff zu wählen – unserer unterschiedlichen „Involviertheit in Machtverhältnisse“, zu öffnen und die Öffnung als ein gemeinsames Projekt selbstverständlich unterschiedlicher Stimmen und unterschiedlicher Wissenshaushalte bzw. Perspektiven zu begreifen. 

 

A.K.: Es war auch nicht mein Anliegen, dass der Begriff der Rassismuskritik mit einer Art Copyright versehen wird. Mit Verantwortung übernehmen meine ich, eher zu beobachten, was daraus gemacht wird, zu staunen und auch zu überlegen: Braucht der Begriff eine Schärfung? Braucht es einen anderen Begriff bzw. braucht es Ergänzungen nach der Erfahrung der Jahre? Und damit in laufende Diskurse zu intervenieren. Denn das ist mit vielen Begriffen passiert: z.B. auch mit dem Integrationsbegriff, bei dem einerseits der Versuch unternommen wurde, ihn positiv zu besetzen, andererseits dieser aus guten Gründen abgelehnt wurde. Vielleicht klingt Verantwortung zu moralisch: Aber sich von bestimmten Auslegungen zu distanzieren, das Anliegen erneut zu spezifizieren, womöglich auch Aspekte zu ergänzen, nachdem man eine Weile Erfahrungen gesammelt und beobachtet hat, wie sich jetzt die Entwicklung eines Konzepts, wie Rassismuskritik, gestaltet, finde ich wichtig. 

Das Bedürfnis wiederum, so ein Label zu übernehmen, kann als ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit gelesen werden: als das Anliegen zu einer imaginierten Gemeinschaft der Rassimuskritischen dazuzugehören. Allerdings gibt es Rassismuskritik als Begriff, den Du, Paul, in der Migrationspädagogik (Mecheril 2004) eingeführt hast. Antirassismus wurde jedoch nie so explizit als ein Konzept ausformuliert, sondern kommt aus unterschiedlichen politischen Bewegungen. Also ich würde nie zu der Black Lives Matter Demonstration gehen und sagen, ich war bei einer rassismuskritischen Demonstration. Da war ich bei einer antirassistischen Demonstration. Ich würde auch bestimmte Aktionen, an denen ich teilgenommen habe, oder die Antifa bzw. Migrantifa nicht als rassismuskritisch bezeichnen, sondern diese dem politischen Antirassismus zurechnen. 

Was mich aber so ärgert oder überrascht, ist, dass Antirassismus selbst in Texten mit wissenschaftlichem Anspruch ohne Verweise auf Quellen oder anhand von konkreten Beispielen pauschal kritisiert wird. Ich fühle mich da angefasst: nicht, weil ich den Begriff des Antirassismus jetzt hochhalten möchte, sondern weil es für mich ein politisches Projekt ist, das ähnlich wie Rassismuskritik, unterschiedlich ausgelegt wird und der Reflexion zugänglich bleiben muss. Wenn konkrete Ausformungen mit nachvollziehbaren Verweisen beispielhaft kritisiert werden würden, wäre die Kritik belegbar und nachvollziehbar. Eine undifferenzierte Darstellung von einem Konstrukt Antirassismus ist auch deshalb problematisch, weil sie es erschwert, über tatsächliche Fallen antirassistischer Konzepte zu reflektieren, denen übrigens auch rassismuskritische Ansätze nicht entkommen können. Bei allen möglichen Konzepten von Antirassismus oder von Rassismuskritik gibt es mehr oder weniger eine selbstreflexive Perspektive – manchmal aber auch gar keine, weil man sich auf der richtigen Seite fühlt und durch die Abgrenzung die Definitionsmacht beansprucht. Aber das ist kein Merkmal des vermeintlichen Antirassismus, sondern wird täglich mit Bezug auf Rassismuskritik so gemacht. Um eine der vielen Fundstellen hier exemplarisch zu zitieren:

 

„Ferner kann zwischen den beiden Konzepten Anti-Rassismus und Rassismuskritik unterschieden werden: Anti-Rassismus geht davon aus, dass rassismusfreie Räume geschaffen werden können, wenn sich beispielsweise eine Gruppe von besonders engagierten, reflektierten und antirassistischen Personen gegen Rassismus zur Wehr setzt und andere Personen über Rassismus aufklärt. Die Vertreter*innen der Rassismuskritik gehen hingegen davon aus, dass Rassismus ein Strukturierungsmerkmal unserer Gesellschaft ist, sodass sich kein Mensch (auch nicht diejenigen, die sich als „links“ bzw. „Mitte der Gesellschaft“ oder rassismuskritische Wissenschaftler*innen sowie Menschen of Color bzw. ‚mit Migrationshintergrund betrachten‘) aus der rassismusrelevanten Matrix ausnehmen können oder für sich in Anspruch nehmen, aufgrund ihrer Arbeit, rassismusfreie Räume geschaffen zu haben.“ (Fereidooni 2019: 298f.)

 

Das nenne ich unnötige Polemik, wenn nicht sogar Diffamierung. 

 

P.M.: Ja, das finde ich einen sehr wichtigen Punkt. Die Behauptung von Kontrasten funktioniert auch, da sie leicht zum eigenen Vorteil eingesetzt werden kann. Also, wir errichten diese Pappkameraden, die wir in einer Eleganz, die Virtuosität aber nur vortäuscht, umstoßen, um die eigene Perspektive etwas strahlender erscheinen zu lassen. Und das Bild von Antirassismus, das vermutlich auch 2004 in meinem Text erzeugt wurde – da aber mit Literaturhinweisen – hat vielleicht auch den strategischen Sinn, über die Negation dieses Antirassismus oder Bild des Antirassismus den Begriff der Rassismuskritik einzuführen. Und es ist wirklich wichtig bei der Operation der Negation, sich klarzumachen, dass damit der Antirassismus nicht erledigt sein kann, sondern es bedeutsam ist, erstens in sich antirassistisch verstehenden und bezeichnenden Ansätzen das Anliegen zu erkennen, das auch das Anliegen der Rassismuskritik ist und das damit nicht erst mit der Rassismuskritik in die Welt tritt. Zweitens gilt es das Anliegen des Antirassismus als eines zu erkennen, das gegenüber der Rassismuskritik vielleicht nicht nur pointierter, sondern auch mutiger und damit in bestimmten Verhältnissen und Zeiten auch angemessener ist. Wir kommen also nicht gleich ins Paradies, wenn wir uns zur Rassismuskritik bekennen.

 

A.K.: Ja, solche Bekenntnisse sind manchmal befremdend, wenn z.B. sich als rassismuskritisch verstehende Studierende mit einer beeindruckenden Selbstgewissheit behaupten, Antirassismus könne man jetzt nicht mehr sagen und auch ihre Kommiliton*innen in Seminaren mit der Behauptung maßregeln, dass der Begriff out sei. Da denk ich dann an meine Geschichte und an meine Politisierung als Cemal Kemal Altun (1983)[2]aus dem Fenster gesprungen ist, um der drohenden Abschiebung zu entkommen, oder die Organisierung von Bündnissen und Demonstrationen als Ramazan Avcı (1985)[3] umgebracht wurde. Was wir gemacht haben, waren antirassistische Kampagnen. Die konnte man nicht anders nennen. Und da waren wir in dem Sinne auf der richtigen Seite, weil es gegen den Rechtsextremismus und die staatliche Asylpolitik, die Leute zum Selbstmord treibt, ging. Also, auf der richtigen Seite bezogen darauf, wer in dem Moment der Gegner ist. Wo es kein Verhandeln gibt und es lebensbedrohlich wird. Solche Beispiele haben Analogien zu heutigen rassistischen Politiken und Handlungen. Und auch die politische Bildungsarbeit dazu würde ich antirassistisch nennen.

 

P.M.: Ja, was ich wichtig finde, ist, bei aller notwendigen Selbstreflexion und Notwendigkeit, die eigene Normativität, vielleicht auch die eigene Ethik einzuklammern und nicht immer wieder selbstgerecht mit ihr durchzugehen – bei also aller Notwendigkeit des Innehaltens daran festzuhalten, dass es Verhältnisse gibt, zu denen gesagt werden kann und muss, dass sie falsch sind. Und da liegt für mich das große Potenzial des Antirassismus, zu sagen: Das ist falsch! Der Faschismus ist falsch! Der Rechtsextremismus ist falsch! Das ist, glaube ich, die Schwäche der Rassismuskritik, dass sie dies nicht im gleichen Maße sagen kann. Es gibt bestimmte Felder, in denen dieses Ausweisen des Falschen eher vorkommt. Damit werden diese Felder in einem bestimmten Sinne des Politischen, das das Politische an Gegnerschaft knüpft (Mouffe 2014), zu politischen Arenen. Im Sinne dieses Begriffs des Politischen ist Antirassismus für mich eine politische Praxis. Und Rassismuskritik, so wurde diese 2004 eingeführt, ist eine Analyseperspektive, die einen Beitrag dazu leisten soll, weniger auf Rassismen angewiesen zu sein. Insofern es hierbei um einen Einsatz für eine gute Ordnung mit Allgemeinheitsanspruch in Bezug auf die konkreten Verhältnisse geht, kennzeichnet Rassismuskritik selbstverständlich auch eine politische Dimension, und zwar bedeutsam und konstitutiv. Aber vielleicht ist das Politische des Pädagogischen anders als das Politische der Straße: Es ist immer etwas verhaltener, weil es das Lernen der Anderen verantworten muss und ihre, sozusagen, Autonomie. 

 

A.K.: Wobei es auch eine antirassistische Erziehung gab und gibt als Begriff, jetzt nicht in Deutschland, aber aus dem britischen Kontext. Wenn wir uns die Arbeit von Philip Cohen (1994) anschauen, dann gibt es sehr viele Analogien zu dem, was Rassismuskritik meint. Gerade diese politische Dimension fand ich bei Cohen tatsächlich sehr bereichernd. Wenn wir konkret betrachten, wie er mit Jugendlichen gearbeitet hat, wird es deutlich, dass die unterschiedlichen Dimensionen nicht auseinandergerissen werden: hier die Politik des Antirassismus, dort die Pädagogik, die rassismuskritisch ist. Tatsächlich werden bei Cohen das Pädagogische und das Politische zusammengedacht, und zwar auch auf der Ebene der Methodik bis hin zu den einzelnen Übungen, die in Lernprozessen Anwendung finden. Er arbeitet dann auch mit rassistischem Material, was bei Rassismuskritikanhänger*innen teilweise total verboten ist. Das ist eine weitere große Debatte, die auch eine politische und nicht nur eine pädagogische ist. Als Nora Räthzel und ich in den 1980 Jahren unseren Band „Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“ (1986) genannt haben, sprachen wir auch von Antirassismus. Damals gab es den Begriff von Rassismuskritik noch gar nicht. Wir haben damit aber genau diese Verstrickung herausgearbeitet, sich als ein Teil von dem zu begreifen, was man verändern will, und zwar nicht nur als glorreicher, sondern auch als reproduzierender und stärkender Teil von dem, was man abschaffen bzw. mindern will.

 

P.M.: Ja, mich überzeugt, was Du sagst, dass die Trennung zwischen dem Politischen und dem Pädagogischen selbstverständlich so nicht einzuhalten ist und dass das Pädagogische immer politisch ist und gerade eine kritische Pädagogik diese politische als eine Dimension betont, die nicht nur betrachtet, sondern auch kultiviert und entwickelt werden sollte. Ich finde aber die Unterscheidung, die wir jetzt entwickelt haben, bedeutsam und hilfreich für eine Reflexion: also sowohl die Dimension „das Falsche und das Richtige“, als auch „das Politische des Politischen und das Politische des Pädagogischen“. Zu beiden Dimensionen sollte sich eine antirassistische und rassismuskritische Praxis selbstreflexiv verhalten können. Weder können wir Antirassismus allein dem Politischen und Rassismuskritik ausschließlich dem Pädagogischen zuordnen, noch gibt es keine Unterschiede zwischen dem, wofür das eine wie das andere steht. Es gibt allerdings, glaube ich schon, den Unterschied, dass im Antirassismus ein entschiedeneres Zurückweisen bestimmter Tatbestände, Sachverhalte, aber auch bestimmter Akteur*innen, enthalten ist, als in der Rassismuskritik.

Ich habe letztens gehört, dass mit Adorno nicht von Antisemitismuskritik gesprochen werden könne, weil in dem Kritikbegriff immer ein Stück Affirmation dessen enthalten ist, was kritisiert wird. Gesellschaftskritik ist ein angemessener Begriff, weil die Kritik Gesellschaft nicht abschaffen, sondern beobachten und verändern will. Aber Antisemitismuskritik passt nicht, weil da das Wort von Kritik eine Art von Bejahung impliziert. Ich bin unsicher, ob ich dem zustimmen möchte, denke aber darüber nach, inwiefern es in der Rassismuskritik ein verborgenes affirmatives Verhältnis zum Rassismus gibt. 

 

3. Ist Rassismuskritik lau?

 

A.K.: Den Kritikbegriff hätte ich auch angesprochen. Ich weiß um die Ursprünge und Bezüge auf Foucault in der Rassismuskritik. Aber im Alltagssprachgebrauch und oft auch in der pädagogischen Praxis kommen wir nicht so weit, wenn nicht deutlich wird, woher dieser Kritikbegriff kommt und was er alles impliziert. Kritik wird so lau verstanden und hat etwas Relativierendes – zumal es schwierig ist, die Komplexität immer wieder mitzuliefern. Mir begegnet es oft, dass Kritik als ein bloßes Kritisieren – kritisch darüber sprechen – verstanden wird und sich dabei auf die Ebene der Diskurse beschränkt, ohne dass konkretes Handeln daraus folgt oder folgen müsste. Was dann in der Umsetzung von pädagogischen Konzepten oder von Diskursen übrigbleibt, ist tatsächlich so etwas Laues – zumal jede*r etwas reininterpretieren kann.

 

P.M.: Ja und das Lauwarme würde, wenn es denn so ist, vielleicht auch den Erfolg des Ausdrucks Rassismuskritik verständlich machen. Rassismuskritik ist eine wunderbare Möglichkeit, den Stachel der Kritik in Watte zu packen und die Kritik in eine lauwarme Form zu bringen, in der im Unterschied zu bestimmten Formen des Antirassismus weder Nationalstaats- noch Kapitalismuskritik radikal werden kann. 

 

A.K.: Ja, das sind die Risiken und Nebenwirkungen würde ich sagen. Einerseits die Verbreitung, die vielleicht mit anderen Begriffen nicht möglich gewesen wäre, das ist das Plus. Gleichzeitig die Versöhnung und Entschärfung, sodass auch die Behörden heute teilweise den Begriff benutzen können. Wie gesagt, ich habe auch meine eigene Geschichte damit: Wir wurden aufgefordert, nicht mehr von Antirassismus zu sprechen[4]. Unser Vorstand wurde vom Behördenzuständigen aufgefordert, uns zu kündigen, weil wir über „institutionellen Rassismus in den Hamburger Behörden“ gesprochen und publiziert haben und wir dadurch – O-Ton – „meine Beamten als Rassisten diffamieren“ würden, für deren Schutz er zuständig sei. Tatsächlich wird es je nach Begriff vielen Leuten oder auch Institutionen ermöglicht mitzugehen, aber vielleicht nicht weit genug. Ja, das finde ich eine spannende Debatte.

 

P.M.: Das Laue liegt ja letztlich nicht in dem Ausdruck Rassismuskritik, sondern in den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen wir leben und in die wir verstrickt sind. Insofern sollte diese Tendenz des Lauen, also das Verhältnis des Zahmen zu dem Radikalen, der Affirmation zu der Negation, als weitere Reflexionsdimension verstanden werden: Dann hätten wir schon drei Dimensionen zusammengetragen.

 

A.K.: Es ist auch eine strategische Frage: Wen will man und wen kann man mit welcher Sprache erreichen? Und deshalb hat dieses Laue für ein politisches Projekt, was auch breiter Leute erreichen will, seine Legitimation und seinen Sinn. Bezogen auf das pädagogische Handeln hatten wir die Gelegenheit mit Stuart Hall und Phil Cohen, die in den 1990er ein paar Mal in Hamburg waren, uns über Fragen adäquater analytischer Begriffe für das Erfassen rassistischer Verhältnisse hinaus, auch über den Umgang mit rassistischen Begriffen im pädagogischen Kontext, auseinanderzusetzen. Von ihnen haben wir das Arbeiten mit rassistischen Begriffen und Bildern der Teilnehmenden gelernt, die nicht verboten, sondern ausgesprochen werden durften, um eine aktive Auseinandersetzung und Lernprozesse damit zu ermöglichen. Klar will ich dahin kommen, dass die Begriffe nicht benutzt werden und andere nicht verletzten. Die Frage ist, über welche Wege dies zu erreichen wäre.

 

P.M.: Auch mir geht es nicht um Gegenüberstellungen, in denen das Laue als Schwäche gilt. Strategisch, wie Du jetzt sagst, – vielleicht können wir auch pädagogisch sagen – geht es im Rekurs auf zum Beispiel die Überlegungen von Philip Cohen in „Verbotene Spiele“ (1994) nicht in erster Linie darum, die schlimmen Worte zu verbieten, sondern den sozialen Sinn des Gebrauchs dieser Worte zu erkennen und zu rekonstruieren und den Akteur*innen zu ermöglichen, Fehler zu machen oder anders gesagt: Lernprozesse zu machen, und zwar wenn irgend möglich nicht auf Kosten anderer.

 

4. Die Kunst, Rassismus so zu thematisieren, dass gelernt werden kann

 

A.K.: Genau, den sozialen Sinn des Gebrauchs dieser Worte erkennen zu lernen, passiert zu wenig zum Beispiel, wenn unter dem Label Rassismuskritik viel Normatives verhandelt wird, obwohl es doch um Reflexion gehen sollte. Wenn es um die Entfernung des N-Worts geht, fokussiert die Argumentation oft nur die Betroffenheit und den Schutz der Menschen, die durch das "N-Wort" getroffen und verletzt werden können. Das ist ohne Zweifel zentral. Gleichzeitig braucht es aber auch Reflexionsräume, um genauer zu schauen, welche anderen pädagogischen Ziele und Lernprozesse, aber auch strukturelle Mängel dadurch ausgeklammert bleiben, wie z.B. solche, die die Ausbildung von Pädagog*innen betreffen. Denn wenn wir die Pädagog*innen hätten, denen wir vertrauen könnten, dass sie auch mit "N-Wörtern" produktiv und angemessen im Sinne eines Lernprozesses umzugehen wissen, müssten wir uns nicht so große Sorgen machen. Ich verstehe zwar diesen restriktiven Umgang als Schutz – auch als Selbstschutz für die Pädagog*innen selbst. Auch will ich keinem zu nahe treten, aber gleichzeitig ist das zu wenig. Zu bedenken wäre etwa, dass ein homogenisierendes Bild der zu Beschützenden als nur potentielle und wehrlose Opfer verstärkt werden kann, während entwickelte Gegenstrategien und Kämpfe von Rassismuserfahrenen unsichtbar bleiben. 

 

E.P.: Ich fragte mich gerade, als Du, Annita, erneut eingebracht hast, dass wir auch mit problematischen Materialien arbeiten können und Paul auch angesprochen hat, dass Räume der Auseinandersetzung geschlossen werden, wie wir die Diskussion darüber, Räume zu öffnen, aktualisieren können, auch für die Hochschullehre. Wie können wir z.B. in Seminaren mit Zitaten von Franz Fanon umgehen, in denen das N-Wort vorkommt?

 

A.K.: Problematisch erscheint mir die Eindeutigkeit, mit der oft über Streichungen von Begriffen kontextunabhängig entschieden wird. Können wir überhaupt kontextlos und kontextunabhängig darüber sprechen und entscheiden? Geht es nicht viel mehr darum in Lernsituationen uns – Erwachsene wie Jugendliche – in kontextbewusstem Lesen und Hören zu üben und nicht nur reflexartig auf Begriffe, die ohne Zweifel rassistisch sind, mit Streichungen oder Auslassungen zu reagieren? Sollen wir wirklich in Fanons Texten oder Aussagen Martin Luther Kings ‚redigieren‘ und das N-Wort entfernen? Wieviel Schutz von potenziell Vulnerablen ist möglich und nötig? Und ist dieser Schutz durch Verbote und Auslassungen zu erreichen – zumal im Rahmen von Bildungsprozessen, die den Anspruch haben, suchend, subjektorientiert, reflexiv, kontextualisierend, empowernd und nicht widerspruchsfrei zu sein? 

 

P.M.: Ich finde, ein wichtiger Punkt ist, dass Professionelle ausgebildet werden, die Welt zu lesen und zu erkennen. Es geht um das Vermögen, Texte und Bilder zu lesen und zu erkennen, wie Bilder an bestimmte Rasse-Konstruktionen anschließen und diese stärken. Wir können von Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen nicht einfach erwarten, dass sie in der Lage sind, Exotisierungen als solche zu erkennen oder wie koloniale Bilder reproduziert werden. Das müssen sie sich erst einmal aneignen können. Und das braucht aus vielen Gründen Zeit. Das kann man nicht einfach in einem Workshop lernen, weil diese hermeneutischen Vermögen etwas mit Habitualisierungen und Verkörperungen zu tun haben und mit der Notwendigkeit zu verlernen, damit Anderes und Neues gelernt werden kann. Es ist also eine bildungspolitische Aufgabe, in diese Richtung zu gehen: rassismuskritische Ausbildung von Pädagog*innen.

Ein anderer Punkt ist, was für einen Kommunikationsraum kann ich etwa als Seminarleitung verantworten. Kommunikationsräume, in denen alles toll läuft, kann ich einfach verantworten. Ich wäre immer ein wenig skeptisch, wenn alles toll läuft, weil dann die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass bestimmte Fragen und Konflikte nicht thematisiert werden. Wie kann das Frag- und Merkwürdige thematisiert werden, ohne dass Beschädigungen stattfinden, ohne dass Kommunikationsabbrüche stattfinden, ohne dass ein inneres Abspalten stattfindet und ohne, dass meine pädagogische Autorität nicht mehr gegeben ist? Da glaube ich, ist es sehr wichtig, mit einer Art Metareflexion zu beginnen: Was ist das eigentlich für ein Raum des Sprechens und Nicht-Sprechens, den wir hier haben? Was sind legitime Erwartungen und legitime Ansprüche, die formuliert werden können? Wie ist es möglich, über Rassismus kritisch zu sprechen, ohne dass die strukturell Vulnerablen erneut verletzt werden und es zugleich möglich wird, nicht an der eigenen Vulnerabilität zu kleben, sondern sich von ihr zu emanzipieren? Gerade bei solch heißen Themen wie Rassismus braucht es zunächst das Ankommen in einem gemeinsamen Raum der Auseinandersetzung und Erkundung. Vielleicht könnte dazu auch „Arbeitsbündnis“ gesagt werden.

 

A.K.: Es ist aber eine vertane Chance, dass wir darüber wenig reden, ob und wenn ja wie diese Ansprüche unter einen Hut zu bringen wären. Denn geht es überhaupt sich mit Rassismus und Rassismuserfahrungen zu beschäftigen, ohne rassistische Bilder und Begriffe zu thematisieren, zu analysieren, zu kontextualisieren, die unterschiedlichen Blicke und Betroffenheiten bewusst und besprechbar zu machen und sich auch mit rassistischer Sprache auseinanderzusetzen?

Sicherlich ist jeweils abzuwägen, was wir uns als Pädagog*innen in der Auseinandersetzung mit dem Thema bzw. der gelebten Erfahrung Rassismus zumuten können und wollen: Wie wir den institutionellen Rahmen und unsere Handlungsspielräume darin einschätzen? Wie wir die Lerngruppe bzw. die Einzelnen aber auch die Effekte des eigenen Handelns in hierarchischen Lehr-Lern-Verhältnissen einschätzen? Welche Risiken wir in der pädagogischen Arbeit eingehen wollen und können und anderes mehr. Insofern gibt es hierfür keine eindeutigen, kontextunabhängigen Antworten oder Vorgehensweisen. Umso dringender braucht es Diskussions- und Denkräume für die Auseinandersetzungen mit solchen Fragen. Denn indem es eindeutig entschieden zu sein scheint, dass z.B. bestimmte Begriffe nicht zulässig sind, wird auch eine fachliche Debatte erschwert oder sogar verhindert darüber, was für Kompetenzen notwendig wären, um in rassistischen Verhältnissen Lernprozesse mit sehr diversen Lerngruppen begleiten zu können – mit unterschiedlichen sozialen Positionierungen und Vulnerabilitäten. Immer wieder also stellt sich die Frage: Wie können wir Lernverhältnisse ermöglichen, die wir verantworten können, auch wenn das, was wir verantworten, offenbleibt und womöglich verletzen kann? Es bleibt ein Spannungsverhältnis.

 

Literatur

 

Bojadžijev, Manuela 2022: Rassismusforschung in Deutschland: Prekäre Geschichte, strukturelle Probleme, neue Herausforderungen. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hg.): Wissen schafft Demokratie. Tagungsband zur Online-Fachtagung: Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Rassismus. Jena: 14-23. Online unter: https://www.idz-jena.de/wsddet/wsd11-02 

Çiçek, Arzu/Heinemann, Alisha/Mecheril, Paul 2022: Warum Rede, die direkt oder indirekt rassistische Unterscheidungen aufruft, verletzen kann. In: Adamou‚ Jamila/Hentges‚ Gudrun/Jansen‚ Mechtild M./ Nottbohm‚ Kristina (Hg.): Sprache – Macht – Rassismus. Berlin: 273-290

Cohen, Philip 1994: Verbotene Spiele. Theorie und Praxis antirassistischer Erziehung. Hamburg

Fereidooni, Karim 2019: Rassismuskritische Theorie und Praxis der sozialwissenschaftlichen Lehrer_innenbildung. In: Kergel, David/Heidkamp, Birte (Hg.): Praxishandbuch Habitussensibilität und Diversität in der Hochschullehre. Wiesbaden: 293-318

Kalpaka, Annita 2003: Stolpersteine und Edelsteine in der interkulturellen und antirassistischen Bildungsarbeit. In: Stender, Wolfram/Rohde, Georg/Weber, Thomas (Hg): Interkulturelle und antirassistische Bildungsarbeit. Projekterfahrungen und theoretische Beiträge. Frankfurt/M.: 56-79

Kalpaka, Annita/Räthzel, Nora (1986): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Berlin

Mecheril, Paul 2004: Kritik der Fremdheit. Wege aus dem Rassismus. In: Einführung in die Migrationspädagogik (Kap. 6). Weinheim 

Mecheril, Paul 2021: Begehren, Familienähnlichkeiten, postpositivistische Analyse – von Rassismusforschung zu rassismuskritischer Forschung. In: RfM-Debatte 2021. Kommentar zum Initialbeitrag von Maria Alexopoulou: Rassismus als Praxis der langen Dauer. Welche Rassismusforschung braucht Deutschland – und wozu. Online unter: http://rat-fuer-migration.de/2021/11/11/rfm-debatte-2021-kommentar-paul-mecheril/

Messerschmidt, Astrid 2016: Involviert in Machtverhältnisse. In: Doğmuş, Aysun/Karakaşoğlu, Yasemin/Mecheril, Paul (Hg.): Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: 59-70

Mouffe, Chantal 2014: Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin

Stender, Wolfram 2023: Rassismuskritik. Eine Einführung. Stuttgart 

Susemichel, Lea/Kastner, Jens 2018: Identitätspolitiken: Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster 

Susemichel, Lea/Kastner, Jens 2021: Unbedingte Solidarität. Münster

 

Annita Kalpaka

E-Mail: annita.kalpaka@kalpaka.de 

 

Paul Mecheril

E-Mail: paul.mecheril@uni-bielefeld.de

 

Effthimia Panagiotidis

E-Mail: efthimia.panagiotidis@haw-hamburg.de


 

[1]Annita Kalpaka ist Prof. i.R. für Methoden der Sozialen Arbeit und Gemeinwesenarbeit, HAW Hamburg; Paul Mecheril ist Prof. für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Migration an der Universität Bielefeld, Efthimia Panagiotidis ist Prof. für Soziologie an der HAW-Hamburg und hat dieses Gespräch initiiert und moderiert.

[2]https://flucht-exil-verfolgung.de/de/ort/cemal-kemal-altun

[3] https://taz.de/Rechter-Mord-an-Ramazan-Avc/!5735218/; https://www.gegenwind.info/296/avci.html; https://vernetztgegenrechts.hamburg/event/gedenken-an-ramazan-avci/

[4] Gemeint sind hier Nora Räthzel und ich (Annita Kalpaka), die in den 1980er Jahren in einem Stadtteilzentrum in freier Trägerschaft in Hamburg gearbeitet haben, das in Teilen von der Sozialbehörde mitfinanziert wurde.