Die Wahl 2002 und die Krise der PDS

Daß die herbe Niederlage der PDS bei der Bundestagswahl "hausgemacht" sei, gilt inzwischen als Allgemeingut. Ob diese Annahme in dieser Ausschließlichkeit zutrifft, wissen wir nicht. ...

Daß die herbe Niederlage der PDS bei der Bundestagswahl "hausgemacht " sei, gilt inzwischen als Allgemeingut. Ob diese Annahme in dieser Ausschließlichkeit zutrifft, wissen wir nicht. Sie ist auf jeden Fall für diejenigen von Vorteil, die schon seit längerem der Meinung sind, daß die PDS ihre politische Richtung wechseln müsse. Mehr Radikalität, mehr Systemopposition und mehr außerparlamentarischer Kampf seien angesagt, heißt es da. Mit diesem Gestus wurde Gera "gewonnen". Die PDS befindet sich derweil, Meinungsumfragen zufolge, im freien Fall.

Konstellationen

In jeder Wahl finden sich bestimmte Konstellationen wieder, die besonders auf die kleineren Parteien Auswirkungen haben, denen diese sich nicht immer entziehen können. Vor allem die FDP hat damit Erfahrung. Meist mußte sie sich trotz Stammklientel auf wechselnde Koalitionsaussagen stützen, um "drin" zu bleiben. Mit ihrem Projekt 18, eine Art Kunstgriff aus der mediokratischen Wunderkiste, wollte sie den permanenten Drahtseilakt, der mit dem Absturz unter fünf Prozent droht, beenden. Daß ungünstige Konstellationen Parteien, die sich am Rande der Fünf-Prozent-Klausel bewegen, bedrohen können, wissen aber auch die Bündnisgrünen. 1990 rutschten sie unter fünf Prozent. Als typische Vertreter der Nach-68er und der Ost-West-Entspannung erschienen sie im "Einheitsjahr" unzeitgemäß. Hausgemacht war ihr Herausfallen aus dem Bundestag in gewisser Weise dennoch. Nicht zuletzt mit ihrem Festhalten am Rotationsprinzip sorgten sie dafür, daß ihre bekannteren Köpfe nicht wieder antreten konnten. Auch die Medien waren ihnen angesichts des Streits zwischen "Realo-" und "Fundi-Orientierung" nicht wohlgesonnen. Ob sie mit der Wahl 2002 sicheren Boden unter den Füßen haben, ist noch nicht ausgemacht.

Auch bei der Analyse der Wahl 2002 sollte auseinandergehalten werden, mit welcher Grundkonstellation die PDS zu kämpfen hatte und in welcher Verfassung sie sich in dieser Situation präsentierte. Vor vier Jahren lagen die Dinge einfach. Nach 16 Jahren Kohl wollten die Wähler den Wechsel. Die SPD unter Schröder und Lafontaine sollte für mehr soziale Gerechtigkeit und eine wirkungsvollere Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit sorgen. Die PDS war der linke, der konsequentere Teil dieser Wechselstimmung - und außerdem Stimme des Ostens.

Nach vier Jahren Schröder hatte sich Ernüchterung und Frustration breit gemacht. Alles sprach dafür, daß Wählerinnen und Wähler, so sie noch wählen wollten, eher CDU/CSU als Regierende favorisieren würden. Doch die Flutkatastrophe und die Irak-Krieg-Diskussion haben die Dinge entscheidend gedreht. Schröder konnte sich als Krisenkanzler und als umsichtiger, deutsche Interessen wahrender Außenpolitiker profilieren. (1) Die latente Anti-Stoiber-Haltung besonders im Norden und Osten der Republik hatte plötzlich durchschlagende Wirkung. Viele setzten auf eine SPD, von der sie annahmen, daß sie als Regierungspartei mehr für ihre Belange tun kann, als eine nur schwach hörbare oppositionelle Stimme im Parlament. Im Westen schwenkte eine Reihe von Menschen, die für den Frieden stimmen wollten, in letzter Sekunde um. Ein Außenminister Fischer, der seinen Einfluß gegen den drohenden Krieg geltend machen könnte, war ihnen wichtiger als die parlamentarische Existenz einer relativ einflußlosen Anti-Kriegspartei.(2)

Nun wird eingewandt, die PDS habe durch ihre verschiedenen taktischen Manöver dieser Konstellation "zugearbeitet", genauer: Durch ihre gequälten Koalitionsaussagen habe sie sich selbst das Wasser abgegraben. Bei der Prüfung dieser These sollte nicht außer acht gelassen werden, daß der Einfluß der PDS auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, auch auf die Medien, nur sehr begrenzt ist. Kann ernsthaft davon ausgegangen werden, daß die große Wählerschar der politisch nicht überdurchschnittlich Interessierten die jeweiligen Taktiken der PDS sorgfältig beobachtete und daraus Schlüsse gezogen hat? Wohl kaum. Es spricht mehr dafür, daß die PDS in dieser extrem ungünstigen Ausgangskonstellation das Ruder nicht mehr herumreißen konnte. Wie anders ist es zu bewerten, daß die Umfragewerte erst mit der Flut und der Irak-Debatte richtig in den Keller gingen? Einer solchen Konstellation kann man nur entgehen, wenn man sich in der Zeit vor dem Wahlkampf eine solide Stammwählerschaft erarbeitet hat. Deren Anteil lag, verfolgt man die Erhebungen der Forschungsgruppe Wahlen, für die PDS durchweg bei drei bis vier Prozent. Die Grundfrage ist daher, warum die PDS den Vorteil einer Bundestagsfraktion zwischen 1998 und 2002 nicht nutzen konnte, um neue Wählerschichten an sich zu binden. (3)

Irritationen

Mit dem Verweis auf "objektive" Konstellationen ist auch nicht gesagt, die Niederlage sei unabwendbar gewesen. Es wurde sehr früh deutlich, daß der Mobilisierungsgrad der PDS-Basis im Vergleich zu der anderer Parteien signifikant niedrig war. Das bedeutet, daß die Identifikation mit der Partei bereits sehr brüchig geworden war. Vor diesem Hintergrund bekommen die verschiedenen taktischen Manöver der PDS im Wahlkampf, die vor allem in den eigenen Reihen und im Sympathisanten/innen-Umfeld weitere Verwirrung gestiftet haben, einiges Gewicht. Zunächst wurde ohne Wenn und Aber auf Opposition orientiert, dann kam das Angebot, Stoiber verhindern und daher Schröder unter bestimmten Bedingungen mitwählen zu wollen. Das im Spiegel zitierte Papier von Falkner und Christoffers ging noch darüber hinaus und offenbarte nicht nachvollziehbare Illusionen über die SPD. Und was und wen wollten André Brie und Gysi so kurz vor der Wahl mit dem Brief an Lafontaine erreichen?

Die mit dem Kanzler-Wahl-Angebot in der Schlußphase des Wahlkampfs plötzlich ins Spiel gebrachte "Mitte-Links-Option" hatte zudem keinen Grund unter den Füßen. Die einseitige Offerte konnte relativ leicht von Schröder und Co. gekontert werden. Ihr fehlte die Substanz an Glaubhaftigkeit und Eintrittswahrscheinlichkeit, die nötig gewesen wäre, um schwankende Wähler umzustimmen. Ergo: Diese Taktik war unrealistisch. Dennoch sollte man sich davor hüten, den Versuch, konkrete Bedingungen für die Wahl einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung zu nennen, als grundfalsch zu denunzieren. Nur wenn solche Optionen ins Spiel gebracht werden, muß ein solcher Schritt zumindest ansatzweise umsetzbar erscheinen. Im Land Berlin erschien eine rot-rote Regierung bei der letzten Wahl realisierbar. Nur so kann auch das herausragende Ergebnis für die PDS dort erklärt werden. Eine solche Option muß zugleich in eine Gesamtstrategie des politischen Wandels eingebettet sein. Auch daran hat es gemangelt. Die "Mitte-Links-Option" wurde lange Zeit behandelt wie eine heiße Kartoffel. Daß man sie in Gera fallengelassen hat, erscheint mithin konsequent. Doch damit verzichtet die PDS auf eine durchbuchstabierte parlamentarisch-politische Strategie zugunsten einer eher diffusen Erwartung auf gesellschaftliche Bewegungen.

Fehlleistungen

Für die Verunsicherung der potentiellen PDS-Wählerschaft scheinen zwei symbolträchtige Ereignisse von besonderer Bedeutung:

  • die PDS-Fraktion und der Besuch des US-Kriegspräsidenten Bush in Berlin;
  • die Berliner Regierungsbeteiligung: genauer, der Umgang mit dem Bankenskandal und der "miles-and-more"-Rücktritt von Gregor Gysi.

Gerade in der alten Bundesrepublik haben diejenigen, für die Friedenspolitik einen hohen Wert darstellt und die daher mit einer Stimmabgabe für die Anti-Kriegspartei PDS geliebäugelt haben, den Kotau des Fraktionsvorsitzenden Claus gegenüber einem brutalimperial auftretenden Mr. Bush nicht akzeptiert. Wenn die PDS in dieser Situation bereits einknickt, was tut sie erst, wenn sie mitregieren sollte?

Die Berliner Regierungsbeteiligung hatte etwa dieselbe symbolische Bedeutung: Daß dort gespart werden muß, bis "es quietscht", konnten nicht wenige linke Wähler noch nachvollziehen. Aber warum war von der PDS mit dem Regierungseintritt zum Beispiel nichts mehr über den Bereicherungsfilz der vormalig Regierenden zu vernehmen? Koalitionsräson über alles? (4)

Profilverwischung

Diese Verunsicherung der Wählerschar in der Phase des Wahlkampfes muß vor dem Hintergrund eines längerfristigen Prozesses gesehen werden. Die PDS hat mit ihrem Nein zum Krieg in der vorangegangenen Legislaturperiode an Ansehen gewonnen, aber insgesamt an Profil verloren. Doch genau dies war in einer Situation gefragt, in der die Unzufriedenheit mit der Politik der etablierten Parteien zugenommen hat, zugleich aber große Unklarheit herrscht, ob es praktikable Alternativen zur neoliberalen Politik überhaupt gibt.

Mit Gera hat sich die Mehrheit der PDS darauf verständigt, daß der Kurs der Anpassung, der "Sozialdemokratisierung" ursächlich für die Wahlniederlage sei. Doch wer meint, die bloße Abgrenzung zu anderen sei ausreichend profilbildend, springt zu kurz. Profilierung hat verschiedene Facetten.

Ein konsequenterer sozialistischer Oppositionskurs soll nun dafür sorgen, daß die PDS wieder auf die Beine kommt. Dieser Schluß erscheint einigermaßen kühn. Etwa die Hälfte der Stimmenverluste ist auf das Konto der Nichtwähler/innen gegangen. Die andere ging zur SPD. Es darf vermutet werden, daß der Rückgang im Westen von knapp zwei Prozent bei Meinungsumfragen einige Wochen vor der Wahl auf 1,1 Prozent vor allem bei den Grünen zu Buche schlug. Zumindest für diesen Teil der Wählerschaft gilt, daß er zwar der neoliberalen und militärinterventionistischen Politik kritisch gegenübersteht, aber für eine Radikalopposition nicht zu haben ist. Der flotte Spruch, diese Wähler hätten wegen der Anpassungspolitik der PDS lieber das Original, sprich: SPD, gewählt, erklärt hier nichts. Was sollte einen Wähler/eine Wählerin, der/die das kleinere Übel wählt, dazu veranlassen, eine Partei zu wählen, die sich noch viel weiter außerhalb des mainstreams bewegen würde? Für diese Menschen, denen das Hemd näher ist als der Rock, geht es doch gerade um unmittelbare, kurzfristige Einflußnahme - und eben nicht um Bekenntnisse. Ganz nebenbei bemerkt: "Konsequentere Linke" wie DKP oder SAV haben bei Wahlen keinerlei Chancen. Wenn die genannte Schlußfolgerung der Mehrheit des Geraer Parteitages richtig wäre, warum haben diese politischen Gruppierungen so wenig Erfolg?

Auch hier ist also Differenzierung angesagt. Daß knapp die Hälfte der früheren PDS-Wählerschaft zu Hause geblieben ist, verweist auf die bereits erwähnte Irritation über das, wofür PDS steht. Es ist richtig, daß in den neuen Bundesländern ein nicht geringer Teil der PDS-Mitglieder und ihrer Anhängerschaft sich in dem "Modernisierungsbemühen " der sogenannten Reformer-Führung nicht mehr wiederfand. Aber selbst unter diesen Menschen geht es längst nicht allein um das "ideologische" Profil der Partei. Der Anteil derjenigen, die die PDS vor allem als politisch-kulturelle Heimstatt sehen, ist nicht größer geworden, allerdings deren Entfremdung von der Partei. Insofern trifft die Aussage, die PDS-Basis habe die verschiedenen Schritte der "Annäherung" der PDS an den bundesdeutschen Common Sense (zum Beispiel die Verurteilung des Mauerbaus) nicht mitgehen wollen, ins Schwarze. Es ist zumindest eine überdeutliche Kritik an einer Politik des "von oben herab", einer Politik, die nicht mehr angemessen kommuniziert wurde. Diese Entfremdung kann zur Erklärung beitragen, warum die PDS ihr Wählerreservoir nicht ausschöpfen konnte. Aber dieser Ansatz erfaßt eben nur ein Moment der PDS-Niederlage. (5)

Die Frage nach dem sozialkritischen Profil der PDS ist zu Recht aufgeworfen worden. Wir können die Menschen, die mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden und über die etablierten Parteien erbost sind, nur erreichen, wenn deutlich wird, daß die demokratischen Sozialisten eine grundlegend andere Politik als die neoliberal agierenden Parteien wollen. Die PDS-Führung hat es, vor allem in der Nachfolge von Gysi, nicht verstanden, dieses Grundanliegen plausibel zu vermitteln. Sie hat statt dessen zu sehr den Eindruck hinterlassen, um "Normalität" und gesellschaftliche Akzeptanz bemüht zu sein.

Der profilbildende Gestus ist eine Seite der Medaille, die andere die nachgewiesene Fähigkeit, zur praktischen Lösung der Gesellschaftsprobleme beitragen zu können. Der Wahlkampf 2002 unterschied sich von früheren dadurch, daß die PDS eher durch Mißachtung als durch Konfrontation gestraft wurde. (6) Mit anderen Worten: Die PDS mußte dieses Mal aus eigener Kraft überzeugen. Und siehe da, sie hatte zu wenig vorzuweisen. Das Wahlergebnis läßt nur einen Schluß zu: Ihre konzeptionellen Alternativen waren entweder nicht überzeugend, zu wenig nachvollziehbar und/oder sie konnten nicht ausreichend vermittelt werden.

Worauf es wirklich ankommt

Der Bremer Wissenschaftler Christoph Spehr hat in einer eingehenderen Analyse herausgearbeitet: Es komme bei der Entscheidung für eine Partei an: a) auf die Gesichter der Partei, b) auf die konkrete Programmatik, c) auf das Image (Stil und Kultur) und d) auf präzise Aussagen über Regierungsabsichten und die Mehrheit, mit der man gegebenenfalls regieren will. (7)

Die PDS habe, zweitens, deshalb verloren, weil sie all das derzeit nicht habe, worauf es ankomme. Das inhaltlich-programmatische Profil hat sich als unzureichend herausgestellt. Die Absicht, sich im Wahlkampf auf die drei Imagefelder Frieden, soziale Gerechtigkeit, Ostinteressen stützen zu wollen, schien plausibel. Die PDS war in einer breiteren Öffentlichkeit vor allem mit diesen Attributen verbunden. Aber spätestens zu dem Zeitpunkt, als andere Parteien der PDS diese Felder streitig machen konnten, stimmte die Rechnung nicht mehr. Vor allem im Osten konnten Schröder und Fischer mit ihrem Nein zum Irak-Krieg kräftig punkten. Die PDS konnte sich mit ihrer Linie, die Regierung als unglaubwürdig zu entlarven, nicht durchsetzen. Besser wäre es gewesen, die PDS hätte den deutsch-amerikanischen Dissens zu einer grundlegenderen, Sozialdemokraten und Grüne fordernden Auseinandersetzung über die Erfordernisse deutscher/ europäischer Außenpolitik genutzt. Aber seien wir ehrlich: Für das Wahlergebnis hatte dieser Fehler keine Bedeutung. (8)

Eine Partei, die soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat, muß sich vor allem wirtschaftspolitisch profilieren. Dies betrifft Konzepte zur Förderung des qualitativen Wirtschaftswachstums ebenso wie Fragen der wirksamen Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Alle Umfragen belegen, daß die Kompetenz der PDS auf diesen Feldern als außerordentlich gering eingestuft wurde. Selbst in den Ländern, in denen sie mitregiert, werden der PDS hier erschreckend niedrige Kompetenzwerte zugemessen.(9)

Das Image der PDS schließlich war und ist durch ihre Rolle als "Ostpartei" geprägt. Ansonsten überwiegen solche Eigenschaften wie bieder und langweilig. Von einer ansprechenden Diskussionskultur kann ebensowenig die Rede sein. Mit dem Verlust der Bundestagsfraktion sind die Bedingungen, diese Defizite zu beheben, noch viel schwieriger geworden. Mit der Entscheidung von Gera für eine "Bewegungspartei" und dem dazu ausgesuchten Personal scheint diese Frage von der Tagesordnung genommen. Wahrlich ungünstige Vorzeichen für ein Wiedererstarken der PDS!

Es wird Aufgabe derjenigen sein, die sich als "Reformlinke" verstehen, die von der Bundestagsfraktion entwickelten originellen Vorstellungen - öffentlich geförderter Beschäftigungssektor, soziale Grundsicherung, Wertschöpfungsabgabe, Maximalarbeitszeit, Mindestbesteuerung, Vereinbarkeitsgesetz für Kindererziehung und Beruf, Rentenreform - in der innerparteilichen Willensbildung zu verankern und zu deren Popularisierung beizutragen.

Ob es gelingen kann, die Programmdebatte zu nutzen, um eine sachlichere Diskussionskultur zu entwickeln und eine größere geistige Ausstrahlung der Partei zu erreichen, steht derzeit in den Sternen. Noch ist es einen Versuch wert.

Gera oder die Lust am Untergang

Gera war in jeder Hinsicht ein Desaster. Über die klägliche Rolle der sogenannten Reformer braucht hier nicht weiter geredet werden. Der eigentliche Punkt ist, daß sich die PDS nach der Wahlschlappe einen Parteitag leistete, der von Außenstehenden mit den Worten "Lust am Untergang" zutreffend beschrieben wurde. Gewissermaßen qua Tischvorlage wurde eine politische Richtungsentscheidung inszeniert, statt sich die Zeit für eine eingehendere Analyse und angemessene Schlußfolgerungen zu nehmen. Alles wurde über den Leisten des Opportunismus- Vorwurfs geschlagen und das Bedürfnis nach der Beantwortung der offenen strategischen Fragen mit Pseudo-Lösungen bedient. Herauskam eine innerparteiliche Konstellation, die weitere Erosionsprozesse fast zwangsläufig nach sich ziehen muß.

Die falschen Fragen (I): Regieren versus Opponieren

Die ganz überwiegende Zahl der Menschen will mit ihrer Stimmabgabe auf die Auswahl der Regierung Einfluß nehmen. Opponieren als Programm ist nur bedingt aussichtsreich. Schon deshalb ist die Frage, ob sich die PDS an Regierungen beteiligen sollte, verwunderlich. Wenn die PDS, wie in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern überdurchschnittlich verloren hat, dann muß die bisherige Praxis des Mitregierens auf den Prüfstand. Es muß nach Möglichkeit besser regiert werden. Dazu gehört, daß die demokratischen Sozialisten in stetem Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern deutlicher machen müssen, daß sie trotz "realpolitischer" Zwänge an ihren Zielen "mehr soziale Gerechtigkeit", "mehr Demokratie", "mehr Freiheit" festhalten. Sie müssen sagen, wie sie Verbesserungen für die Menschen auf mittlere Sicht erreichen wollen. Regierungsbeteiligung muß den Nachweis erbringen, daß wir möglichst viel anders und besser machen können als die etablierten Parteien. Nach Lage der Dinge geht es gegenwärtig nicht so sehr um "große Würfe" als um kleine, praktische Schritte der Veränderung. Der "öffentlich geförderte Beschäftigungssektor" in Mecklenburg-Vorpommern löst nicht das Problem der Massenarbeitslosigkeit, aber er setzt ein Zeichen, daß andere Problemlösungen möglich wären. Ist das in Zeiten allgemeiner Mutlosigkeit unwichtig? (10)

Man kann der Frage, was die PDS als Regierungspartei erreichen will und auch mit wem, nicht ausweichen. Wer meint, sich den Widrigkeiten des Regierens durch eine "konsequente" Politik der Systemopposition entziehen zu können, der erreicht vor allem eins: Er kommt nicht in die Verlegenheit, seine Konzepte auch umsetzen zu müssen. Auch auf diese Art kann man sich gegen die kritische Prüfung eigener Positionen immunisieren. Man kann sich dadurch selbst bestätigen, die Menschen kann man damit nicht überzeugen.

Nun wird eilig versichert, Gera habe keine prinzipielle Absage an Regierungsbeteiligungen formuliert. Aber der Parteitag der allzu schnellen Antworten hat eine Tendenz befördert, die eindeutig in diese Richtung geht. Alles andere ist Augenwischerei. So berechtigt die kritische Bilanz bisheriger Regierungspolitik gewesen ist, so wichtig wäre es auch gewesen, die grundsätzliche Distanz eines relevanten Teils der Partei zum Mitregieren überhaupt, die erst dazu geführt hat, daß man mit den eigenen Regierungen ausschließlich negativ und defensiv umgegangen ist, ins Visier zu nehmen. Doch das war nicht opportun.

Es ist legitim, nicht nur die Frage aufzuwerfen, wann wir in Regierungen gehen, sondern auch, wann wir sie wieder verlassen müssen. PDS-Minister hätten bei der Beteiligung der Bundeswehr am Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien ihren Dienst quittieren müssen. Als der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern die PDS übertölpelte und seine Zustimmung zum Rentenreformgesetz der rot-grünen Bundesregierung gab, konnte die PDS sich nicht selbst den Stuhl vor die Tür setzen. Niemand im Lande hätte das verstanden. Diese Fragen können immer nur konkret und niemals abstrakt entschieden werden. Noch einmal: Der Parteitag in Gera hat kein allgemeines Verdikt gegen Regierungsbeteiligung ausgesprochen, aber die Erwartungen an mögliches Mitregieren so hoch geschraubt, daß die Orientierung auf eine ausschließliche Oppositionsrolle nahe liegt. Entsprechende Vorstöße in verschiedenen Landesverbänden belegen, daß hier eine Dynamik ausgelöst wurde, die nur schwer zu stoppen sein wird.

Die Formel von Gera "Opposition mit alternativem Gestaltungsanspruch " ist hohl und verdeckt nur, daß man sich vornehmlich als antikapitalistische Opposition sieht. Die Kunst demokratisch-sozialistischer Politik läge jedoch gerade darin, den "Widerspruch" zwischen kapitalismuskritischer, also gesellschaftlicher Opposition und gestaltender Kraft in Gesetzgebung und Exekutive produktiv nutzbar zu machen. Eine der Schwächen der PDS liegt nach wie vor darin, daß sie mit diesem Widerspruch nicht umgehen kann und ständig zwischen diesen Polen hin- und herschwankt.

Falsche Fragen (II): Partei oder Bewegung?

Das Verhältnis zwischen Bewegungen und linker Partei wird zu Recht mit den Begriffen Selbständigkeit und Austausch umschrieben. Die PDS muß sich durch stetes Engagement in den Bewegungen, durch das Aufgreifen dieser Anliegen Vertrauen erwerben. Sie muß kontinuierliche Gesprächsbeziehungen entwickeln. Sie muß zugleich das Verständnis fördern, daß Bewegungen und Parteien auf zwei verschiedenen Spielfeldern spielen: Sogenannte NGOÂ’s, die sich nicht zur Wahl stellen, die nicht den gesamten Kontext der Umsetzung von Forderungen berücksichtigen müssen, können radikaler formulieren, können kategorischer Forderungen stellen (zum Beispiel pazifistische Gruppen die Abschaffung des Militärs), während die Akteure in Legislative und Exekutive Kompromisse schließen müssen. (11)

Michael Chrapa folgert aus seiner Analyse, daß sich die PDS in deutlicher Abgrenzung zu allen anderen Parteien profilieren müsse. Dieser Schluß klingt gut, überzeugt aber nicht. Natürlich muß die PDS ein verläßlicher Begleiter der Bewegungen werden, aber eben mitunter auch ein unbequemer Partner. Zwischen der Artikulation von Protest und der Umsetzung in praktische Politik besteht eine beträchtliche Differenz. Davon können linke Volksvertreter/innen ein Lied singen, die für materielle Verbesserungen der Unterprivilegierten eintreten, aber in ihren Städten und Bezirken nichts zu verteilen haben. Diese Spannung muß ausgetragen werden; großmäuliger Populismus trägt nicht, auch nicht, wenn er von links kommt.

Die PDS ist auch insofern nichts anderes als eine "normale" Partei - eine Partei, die mit den anderen Parteien um maximalen Einfluß auf das Regierungshandeln wetteifert -, als sie sich an die in den etablierten Institutionen geltenden Spielregeln - begrenzte Regelverletzung inklusive - halten muß. Sie wird immer auch die Kommunikation mit den Bewegungen darüber suchen müssen, daß es im institutionellen Raum fast immer um Kompromisse geht, manchmal auch um faule Kompromisse. Sie muß trotzdem Wege finden müssen, glaubhaft machen zu können, daß sie am Ziel der weitreichenden Veränderung festhält. Aber sie kann sich nicht aus dieser Schwierigkeit heraussetzen, auch nicht, indem sie der Fiktion einer reinen Anti-Establishment-Partei nachrennt.

Die PDS kann sich auch nicht darauf reduzieren, den vorhandenen Stimmungen des Protests nur eine politische Stimme verleihen zu wollen. Die Erarbeitung und Popularisierung von Konzepten, wie wir die durch den neoliberalen Kapitalismus verursachten Probleme und Krisen lösen wollen, ist unumgänglich. Sie ist unumgänglich, weil wir nur so breitere soziale Kreise ansprechen müssen und der tief sitzenden Verunsicherung, ob überhaupt grundlegendere Veränderungen möglich sind, begegnen können. Mit voluntaristisch anmutenden Rezepten wie "Reclaim the street" (Chrapa) werden wir keinen Erfolg haben. (12)

Die Kunst linker Politik besteht gerade darin, außerparlamentarische Aktion mit der Kompetenz zu praktischer Problemlösung zu verbinden. Beides gilt für die PDS jetzt besonders: Ohne Repräsentanz im Bundestag ist sie mehr denn je auf den Rückenwind außerparlamentarischer Opposition angewiesen. Aber wenn sie nicht einer größeren Öffentlichkeit deutlich machen kann, was sie konkret in den Parlamenten erreichen will, und zwar wie, wird sie nicht wieder hineingewählt werden.

Diejenigen, die jetzt davon reden, daß für uns ja ohnehin das unbedingte Primat der außerparlamentarischen Aktion zu gelten habe und wir nicht länger Prozentpunkten hinterher rennen sollten, beweisen damit nur, daß sie in der hiesigen Gesellschaft nicht angekommen sind und ihre uralten Klassenkampfträume weiter träumen wollen. Auch eine Methode, sich immer wieder die eigene Unfehlbarkeit zu beweisen.

Falsche Fragen (III): Mitte-Links versus Mitte-Unten

Der Mitte-Links-Option wird in dem mit Gera favorisierten Politikmodell die Option eines Mitte-Unten-Bündnisses entgegengestellt. Gabi Zimmer warf dort die Frage auf, ob ein Mitte-Links-Bündnis überhaupt noch als "klassisches Parteienbündnis" denkbar sei. Sie schwärmte stattdessen von einem strategischen Bündnis jener, die ausgegrenzt seien, und derer, die sich der sozialen Mitte zugehörig fühlten. Hier seien Sozialdemokraten, Grüne, Gewerkschafter, kritische Intellektuelle, solidarisch handelnde Menschen gleichermaßen angesprochen.

Diese tendenzielle Entgegenstellung sozial definierter Bewegungen und Allianzen zu Parteienkoalitionen ergibt jedoch keinen Sinn. Aktionen, Netzwerke, Bündnisse im zivilgesellschaftlichen Bereich sind eine wichtige Grundlage, um in den Institutionen des Staates (i. e. in einem erweiterten Sinne) politische Veränderungen bezwecken zu können. Diese aber vollziehen sich auf absehbare Zeit durch das Wirken der Parteien im Rahmen der parlamentarischen Demokratie. Und für diese Ebene der Politik brauchen wir ein Konzept, wie sich eine Änderung der Kräfteverhältnisse ausdrücken soll. Das abschätzige Gerede von der Parteiendemokratie (Zimmer) führt, wie die Verwechslung der angesprochenen Ebenen - soziale Bewegungen und institutionelle Politik - zu nichts. Es blockiert nur das Nachdenken darüber, wie die Politikfähigkeit der PDS entscheidend verbessert werden kann.

Zimmer hat in Gera für ein Bündnis mit Gewerkschaftern, emanzipatorischen Bewegungen, kritischen Intellektuellen, für ein Bündnis der sozialen Gerechtigkeit geworben und daran die Aussage geknüpft, damit werde "zugleich garantiert, daß wir mit der jetzigen Gesellschaft nicht unseren Frieden machen". Ein Blick auf die Wirklichkeit genügt, um zu der Erkenntnis zu gelangen, daß, von einem harten Kern in den Gewerkschaften, in den außerparlamentarischen Bewegungen und den NGOs abgesehen, der überwiegende Teil der politisch Aktiven Reformen im Rahmen unserer Gesellschaft anstrebt. Was also soll eigentlich ausgesagt werden?

Friedrich Engels hat einer Ideologiekritik der Bourgeoisie die Ansicht gegenübergestellt, daß die ausgebeuteten Klassen vom zwangsläufig falschen Bewußtsein frei seien und die Verbindung von Arbeiterbewegung und "theoretischem Sinn" hervorgehoben. (13) Die Geschichte der Arbeiterorganisationen, mehr noch die Geschichte der "Arbeitermacht", hat diese Mystifikation des Proletariats eindrucksvoll widerlegt. Heute will es scheinen, daß diese Mystifikation durch eine andere ersetzt werden soll: die Mystifikation der subalternen Massen. (14)

Daß die Verbindung der PDS zu den außerparlamentarischen Bewegungen garantiere (sic!), daß sie sich nicht kaufen und verbiegen lasse, ist nichts weiter als eine solche Verklärung. Daß demokratische Sozialisten darum wissen müssen, für wen sie da sind und daß sie der Verselbständigung durch vielfältige Verbindungen mit der gesellschaftlichen Basis wehren müssen, steht außer Frage. Eine Garantie gegen Korruption gibt es nur in unserem Kopf - oder wenn wir uns auf praktische Politik gar nicht erst einlassen. Dafür aber brauchen wir keine Partei. (15)

In der PDS-Öffentlichkeit wurde und wird die strategische Option des Mitte-Links-Bündnisses vorwiegend als Koalitions- und Regierungsfrage abgehandelt. Dies ist ein Kurzschluß. Ob wir mitregieren und mit wem, ist eine abgeleitete Frage: Die PDS versteht sich als linke Reformkraft, die sich der gegenwärtigen Hauptaufgabe verschreibt, die Hegemonie des Neoliberalismus zu beenden und den heutigen Kapitalismus sozialstaatlich zu zähmen. Im Rahmen dieses "Projekts" (!) skizzieren wir, wie und mit wem wir diese Veränderung erreichen wollen. (16)

Unsere strategische Eigenständigkeit besteht darin, daß wir eine Gesellschaft wollen, in der der Mensch und nicht der Profit im Mittelpunkt steht. Die PDS wäre danach eine linke, realitätstaugliche Reformpartei, die sich von der SPD in zwei Punkten grundlegend unterscheidet: Sie will erstens das Prinzip der Profitdominanz außer Kraft setzen; sie will eine andere Gesellschaft, die aber nicht mehr als Negation der alten Gesellschaft verstanden wird, weil an wichtigen zivilisatorischen Errungenschaften der bürgerlichen Ordnung festgehalten wird. Dies gilt insonderheit für den Rechtsstaat und die parlamentarische Demokratie. Und zum zweiten unterscheidet sie sich von der Sozialdemokratie, da sie die Prämissen der Markttheologen und der imperialen Machtlogiker unter keinen Umständen akzeptieren will. (17)

Gabi Zimmer mag recht haben, daß die "klassischen" Überlegungen einer Einheitsfront zwischen Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten nicht mehr up to date sind. Aber die Tatsache bleibt, daß für weitreichende gesellschaftliche Veränderung auch Parteien-Koalitionen/Allianzen in Regierung und Parlament notwendig sind. Dieses Thema wird durch den Hinweis auf die heutige Welt der Netzwerke und informellen Strukturen nicht obsolet. Die angestrebte soziale Regenbogenkoalition muß eine Entsprechung im parlamentarischen Raum finden.

Die Sozialdemokratie der Neuen Mitte bietet wenig Hoffnung, daß aktuell Koalitionen der Veränderung erfolgreich mit ihr praktizierbar seien. Aber wir dürfen uns nicht auf den Status quo fixieren. Wer eine Linksentwicklung von SPD und Teilen der Grünen kategorisch ausschließt, muß sagen, wie er sich gesellschaftliche Transformationen hierzulande vorstellt. Wer ausreichend Gründe erkennt, warum die Sozialdemokratie unsere erste Koalitionsadresse ist, wird sich im politischen Alltag überlegen, wie er diesem Ziel näherkommen kann. Dies heißt mitnichten Anbiederung. Scharfe, aber argumentative Kritik, wo nötig; Diskurs über mögliche Gemeinsamkeiten, wo immer möglich. Im übrigen sollte Abgrenzung für uns kein Selbstzweck sein, sie sollte schon inhaltlich-konkret begründet werden.

Neoliberale Hegemonie und Krise der Linken

Der Siegeszug sozialdemokratischer Parteien in vielen europäischen Ländern im Laufe der 90er Jahre hat zu der Annahme verleitet, die Ära des Neoliberalismus neige sich dem Ende zu. Dies hat sich als Irrtum herausgestellt. Die sozialdemokratischen Parteien hatten nichts Eiligeres zu tun, als das neoliberale Ordnungsmodell zu konsolidieren, in einigen Fällen sogar zu verschärfen. Die Quittung dafür erhielten sie auf dem Wahlzettel. Rechtspopulistische Strömungen nutzten den Frust über die ausgebliebene Abkehr von der herrschenden Austeritätspolitik zu teils spektakulären Stimmengewinnen. (18)

Das Wahlergebnis hierzulande weicht davon ab. Die Rechtskonservativen haben offenkundig ihre Schwäche nach der Niederlage von 1998 nicht völlig überwunden und Rechtspopulisten haben hier (noch) keine Chance. Daher konnten SPD/Grüne noch einmal, gestützt auf die höheren Sympathiewerte für ihre "Leitfiguren", mit einem blauen Auge davonkommen - trotz verbreiteter Unzufriedenheit über ihre Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Dennoch: Während sich in anderen Ländern die verschiedenen Richtungen des herrschenden Blocks schneller abgenutzt haben, konnte sich hierzulande die Regierungskoalition behaupten. Dies ändert nichts daran, daß die Imperative der neoliberalen Marktdogmatik im Prinzip weiter das Regierungshandeln bestimmen. Ob unter Berlusconi oder unter Schröder, ein Ende ist nicht in Sicht. Es geht eben nicht um eine politische Modeerscheinung, sondern um einen neuen Typ kapitalistischer Akkumulation und einer neuen gesellschaftlichen Regulation, der weltweit (Globalisierung) durchgesetzt wird.

Jede Kraft, die konträr zu diesem Herrschaftsmodell steht, hat es schwer - wie der Blick über unsere Landesgrenzen zeigt. Die Linke ist nicht erst seit der Implosion des "realsozialistischen" Lagers in eine tiefe, andauernde Krise gestürzt worden. Dies betrifft die sozialistischen Strömungen in den kapitalistischen Metropolen ebenso wie die Befreiungsbewegungen der Peripherie.

Während auf dem Geraer Parteitag die Krise des sozialdemokratischen Politikmodells unter den gegenwärtigen Bedingungen benannt wurde, wurde die Krise der radikaleren Linken systematisch ausgeblendet. Dies verwundert nicht, da man ja mit Gera zu diesen Ufern aufbrechen will. Doch statt radikal einfache Antworten zu geben, hätte mit Gera begonnen werden müssen, die Fragen radikal zu stellen. Wer die Identitätskrise der Linken leugnet, wird keine neuen Antworten finden. Diese hat ihren Ursprung im Verschwinden der "Arbeiterklasse" als politisch relevante Einheit. Dies meint nicht, daß es die Klasse der Lohnarbeiter nicht mehr gäbe. Es besagt allerdings, daß die sozialen und kulturellen Ausdifferenzierungen, der Zerfall der proletarischen Milieus, die Vorstellung eines einheitlichen und einheitlich handelnden Akteurs haben obsolet werden lassen. Die Frage nach dem gesellschaftsverändernden Subjekt beziehungsweise den Subjekten ist damit neu aufgeworfen. (19)

Die Suche nach dem revolutionären Subjekt oder
Die Partei der Subalternen

Richtig ist: Die wieder recht hohe Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl verdeckt das wahre Ausmaß der inzwischen weit verbreiteten Politikverdrossenheit. Man konnte es auf der Straße spüren, bei den letzten Kommunal- und Landtagswahlen hat es sich manifestiert: Sehr viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich von den Parteien und Politikern im Stich gelassen und hadern mit den vielfältigen sozialen Ungerechtigkeiten. Diese Verdrossenheit ist in den "sozialen Brennpunkten" mit Händen zu greifen. Der Schluß, daß es die genuine Aufgabe der PDS sei, diesen Unmut und Frust der immer weiter an den Rand Gedrängten, der Verunsicherten aufzugreifen und zu bündeln, ist naheliegend. Ist es also nicht das richtige Rezept, die PDS stringent als Partei des sozialen Protests zu profilieren? (20)

Die Partei muß auch Partei des Protests sein, weil ansonsten die rechtspopulistischen Parteien (wie ja bereits in anderen Ländern vorexerziert) ihren Vorteil aus den endlosen Zumutungen neoliberaler Politik ziehen werden. Es trifft auch zu, daß eine Verschärfung der strukturellen Krisen (mit der Folge der Zunahme sozial Marginalisierter) und die Ausbreitung radikalerer Protestbewegungen nicht auszuschließen ist. Trotzdem wäre es kurzsichtig, sich darauf fokussieren zu wollen. Wir müssen dort präsent sein. Hier können wir durch glaubwürdige und beharrliche Interessenvertretung Ansehen und Stimmen gewinnen. Aber eine solide Basis der politischen Arbeit erreichen wir dadurch nicht. Alle Versuche, dort Protestpotentiale zu organisieren, belegen, wie schwierig bis unmöglich es ist, die Betroffenen in eine stetige und verläßliche politische Praxis einzubeziehen. Die existentiellen Sorgen des Alltags scheinen dort übermächtig und blockieren politisches Handeln. Die outcasts sind tendenziell ohnmächtig. Parteien, die sich auf die rebellierenden Ausgestoßenen des Kapitalismus stützen wollen, bleiben daher ghettoisiert und letztlich wirkungslos. (21)

Die PDS wird als sozialistische Partei besonders die abhängig Arbeitenden ansprechen müssen (was nicht bedeutet, die Klein- und Mittelunternehmer zu vernachlässigen). Zu den Lohnabhängigen gehören heute sehr viele disparate Schichten/Gruppen/Menschen: zeitweilig Beschäftigte, Stammbelegschaften der Großbetriebe, hochqualifizierte "Arbeitskraft-Unternehmer". (22)

Linke Politik darf sich nicht auf eine Gruppe - zum Beispiel die Modernisierungsverlierer - verengen. Wir müssen lernen, die verschiedenen Segmente der Lohnabhängigen spezifisch anzusprechen. Eine Partei der Marginalisierten wird chancenlos bleiben. Ohne diejenigen, die in heutigen Schlüsselbereichen wichtige produktive und koordinierende Funktionen haben, wird auf Dauer keine starke außerparlamentarische und parlamentarische Kraft zu formieren sein. Diese Menschen zeichnen sich durch überdurchschnittliche Bildung, Leistungsorientierung, Drang nach Selbstverwirklichung aus. Mit Parolen sind sie nicht zu gewinnen. Der PDS kommt in dieser Lage eine schwierige Brückenfunktion zu. Sie muß eine Verbindung zwischen der Vertretung der an den Rand Gedrängten und der Einbeziehung der im Zentrum der Wirtschaft Tätigen leisten. Sie muß Wege der spezifischen Ansprache herausarbeiten und die beiden Elemente - Protest und kompetente Problemlösungen - miteinander verbinden.

Die PDS ist unerbittlich vor die Aufgabe gestellt, sich eine neue soziale Basis zu suchen. Sie kann sich nicht länger auf die alte Dienstleistungsklasse der DDR stützen. Überlegungen, wie sie ihre Arbeiter- und Gewerkschaftspolitik intensivieren kann, stehen daher ebenso auf der Tagesordnung, wie Fragen nach politischer Sympathiewerbung in den neuen Mittelschichten.

Die Erosion des alten Projekts

Die mehr als zwei Jahrzehnte andauernde Metamorphose des Kapitalismus (Postfordismus) hat zur Auflösung traditioneller proletarischer Milieus geführt. Mit der Durchsetzung eines neuen Akkumulations- und Regulationstyps des Kapitals ist eine Auszehrung der traditionellen Schutzfunktion linker und gewerkschaftlicher Vereinigungen verbunden. Die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu Lasten der subalternen Klassen wirft die Frage auf, mit welchen neuen Konzepten eine Rückgewinnung des verloren gegangenen Terrains erreicht werden kann. Noch ist die Antwort nicht gefunden. Wer diese Frage mit der Haltung des "Trotz alledem" überspielt, wird sie nicht finden. (23)

Mindestens gleiches Gewicht für die Krise der Linken hat der untergegangene Versuch, eine Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft zu bauen. Doch gerade die Idee einer insgesamt gerechten und freien Gesellschaft hat die vielen mühseligen Kämpfe des Alltags, in denen es um bescheidenere Ziele wie Arbeitszeitverkürzung oder höhere Entlohnung ging, befeuert. Sie war ein solidaritätsstiftendes Element in den vielfältigen Einzelaktionen. Diese Wechselwirkung ist heute entfallen.(24)

Wer nun meint, die alte Idee sei, bei "gewisser Anerkennung" geschichtlicher Fehler und Irrtümer, einfach wieder aufzupolieren, irrt. Bei der überfälligen programmatischen Erneuerung der PDS wird nicht zuletzt diese Frage eine entscheidende Rolle spielen: Nur wenn die PDS auf die Frage nach dem Modell einer besseren Gesellschaft eine Antwort gibt, die belegt, daß sie lernfähig, kreativ und zukunftsoffen ist, kann sie sich neue Chancen ausrechnen. Sie darf dabei nicht davon abrücken, daß in ihrer Utopie die Emanzipation der Individuen im Mittelpunkt steht - und nichts sonst. (25)

Wer aus der alten Bundesrepublik kommt, die nunmehr die neue Bundesrepublik dominiert, der weiß, daß eine Umgründung der PDS unter (modifiziertem) neu-kommunistischem Vorzeichen da enden wird, wo die Altkommunisten sich bereits trotzig eingerichtet haben - im Abseits. - Noch kann der Zug der PDS vor einem solchen Entgleisen bewahrt werden.

Erneuerung des Sozialstaates - Zähmung des Casinokapitalismus

Gebraucht werden klare Konzepte eines erneuerten Sozialstaats und der internationalen Einhegung des transnational wuchernden Kapitals, die zu einer Strategie der Beendigung der marktradikalen Hegemonie verdichtet werden müssen. Eine solche Fokussierung - Alternativen zum neoliberalen mainstream - hätte die PDS, freilich ohne avantgardistisches Getöse, emotional und sachkompetent in den Wahlkampf einbringen müssen. Dies ist nicht gelungen.

Die Krise der sozialistischen Linken hat zu derben Einbrüchen in allen westeuropäischen Ländern geführt. Ausnahme war bisher Deutschland wegen der Besonderheit "DDR". Die PDS konnte gesamtdeutsch an das Potential übriggebliebener, früher enorm starker kommunistischer Parteien in Frankreich, Italien, Spanien und anderswo heranreichen und in Ostdeutschland sogar eine Art Volkspartei werden. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, daß sie als bei weitem mitgliederstärkste Partei des Ostens die oben genannte Schutzfunktion (hier: gegenüber dem "Westen") wahrnehmen konnte. Diese Besonderheit schwächt sich aber mehr und mehr ab - schon aufgrund der Altersstruktur der PDS. Ohne eine organisatorische und personelle Erneuerung wird die PDS diese Rolle nicht mehr spielen können. Die Wahl 2002 hat überdies gezeigt, daß der Drang der Ostdeutschen "gesamtdeutsch" zu werden, zunimmt. Die Abfuhr für Stoiber, der als "Spalter" empfunden wurde, die Gewinne für die SPD, von der man sich jetzt eine neue Aufbau-Anstrengung erhofft, aber auch das relativ gute Abschneiden der Grünen ("Fischer-Bonus"), weisen auf diesen Umstand hin. Die Wahlkampflosung der PDS "Macht den Osten stark", die von der Teilung der Republik ausgeht, erscheint wenig einleuchtend und attraktiv. Eine authentische Interessenvertretung wird nur erfolgreich sein, wenn sie sich mehr als bisher als gesamtdeutsche Kraft darstellt und behauptet. Kritik an der anhaltenden Peripherisierung des Ostens muß daher aus der Sicht deutscher/ europäischer Politik formuliert werden. (26)

Schlüsselfrage: Im Westen vorankommen

Die PDS wird den Wiedereinzug in den Bundestag nicht mehr schaffen, wenn sie nicht im Westen nennenswert zulegt. Dies gibt allen Grund, um über die Stagnation der Partei nachzudenken. Umso bizarrer ist es, daß sich der Parteitag in Gera nicht eingehender mit dieser Thematik beschäftigt hat. Doch vielleicht hätte man dann einige der Schlußfolgerungen problematisieren müssen. Das enttäuschende Wahlergebnis kontrastiert zu den Erfahrungen des Wahlkampfes in den alten Bundesländern. Allenthalben war die Akzeptanz der Partei gewachsen, beschäftigten sich mehr Menschen mit den Positionen der Sozialisten. Zeitweilig äußerten weit mehr als zwei Prozent ihre Bereitschaft, dieses Mal PDS zu wählen. Es mag kühn klingen, aber: Das Potential für eine Verdopplung der Stimmen ist vorhanden. Doch die PDS im Westen leidet nicht nur unter dem Ost-Image der Partei, sie ist auch in unseren Breitengraden zu wenig "faßbar". Am Weg, über kommunale Interessenvertretungen Personen bekannter zu machen, führt kein Weg vorbei. Die PDS hat nur noch dann eine Chance, wenn sie neue, kreative Köpfe im Westen gewinnt und gerade hier eine breiter angelegte Politik verfolgt. (27)

Paul Schäfer - Jg. 1949; Diplom-Soziologe, lebt in Köln, bis zur Wahl Referent der PDS-Bundestagsfraktion für Frieden und Abrüstung. Letzte Veröffentlichung: Über Wahrheitsfindung, Nachkriegsordnung und hegemoniale Stabilität, in: U. Albrecht et al. (Hrsg.), Das Kosovo-Dilemma. Schwache Staaten und Neue Kriege als Herausforderung des 21. Jahrhunderts, Münster 2002.

(1) Vor allem in den neuen Bundesländern war nach dem Solidaritätserlebnis bei der Bewältigung der Flut die Hoffnung verknüpft, jetzt endlich ernst genommen zu werden.

(2) Binnen weniger Wochen war aus der fragilen Wechselstimmung der überwiegende Wunsch geworden, dieser Regierung noch einmal eine Chance zu geben. Die Umfrageergebnisse kippten die Konstellation - "ohne PDS ist Stoiber Kanzler" - eine Woche vor der Wahl ins Gegenteil: "Nur ohne PDS bleibt Schröder Kanzler".

(3) Um genau zu bleiben, muß auch gesagt werden, daß diese nicht zu durchschauenden Winkelzüge einem verzweifelten Reflex auf die immer deutlicher werdende, ungünstige Ausgangslage glichen. Es war die Suche nach dem letzten Strohhalm, um die parlamentarische Existenz der PDS zu retten.

(4) Die Umstände des Rücktritts von Gregor Gysi schließlich haben den Eindruck, die PDS sei nicht besser als die anderen, dafür nur weniger clever, noch verstärkt.

(5) Für die überwiegende Zahl derjenigen, die wir ansprechen, geht es um das eigenständige Profil und den Gebrauchswert der PDS. Diese Menschen wollen nicht nur recht haben, sondern auch recht bekommen. Das heißt, sie wollen, daß sich etwas an den materiellen Umständen ihres Lebens ändert. Mit dem schlichten Ruf nach einem radikaleren Gestus ist es nicht getan.

(6) Die "rote Socken"-Kampagnen früherer Wahlkämpfe hatten der PDS in Ost und West Solidarität verschafft und Stimmen zugetragen.

(7) Daß es der PDS nach dem Abgang Gysis an überragenden Köpfen mangelt, ist evident.

(8) Gleiches gilt für wichtige Felder der Gesellschaftspolitik wie Bildung, Gesundheit, Umwelt. All diese Politikbereiche müssen in der öffentlichen Wahrnehmung mit fachkundigen Persönlichkeiten verbunden werden können. Dies war aber ganz offensichtlich nicht der Fall.

(9) Zusammengefaßt: Die intellektuelle Ausstrahlung der PDS war erschreckend gering. Die PDS löste keine strategischen Debatten in der Linken dieses Landes aus, sie gab kaum Anstöße für ein Nachdenken über die Zukunft dieser Gesellschaft.

(10) "Bei einer Regierungspartei erfolgt der Praxistest für die politischen Vorschläge und Projekte nur unmittelbarer und schonungsloser. Eine Flucht in die Opposition würde nur das Eingeständnis der Nichtbehebbarkeit der eigenen Politikschwäche symbolisieren, die Kapitulation vor der politischen Realität." (Michail Nelken)

(11) "Eine linke Politik, die sich nicht als glaubwürdiger Partner dieser emanzipativen Bewegungen zu erweisen vermag, wird als Teil des Establishments angesehen und nicht durch die Anhänger dieser Bewegungen gewählt werden", schreibt der Sozialwissenschaftler Michael Chrapa in seinen Ratschlägen an die PDS.

(12) Die Förderung außerparlamentarischer Selbsttätigkeit ist elementar, damit die Menschen ein Gefühl ihrer Kraft bekommen. In dauerhaftes Engagement wird diese Energie aber nur münden, wenn sich Protesthaltung mit Einsichten in konkrete Veränderungsperspektiven verbindet.

(13) "Hier ist er nicht auszurotten (dieser Sinn, der für revolutionäre Einsicht steht - P. S.); hier finden keine Rücksichten statt auf Karriere, auf Profitmacherei, auf gnädige Protektion von oben." (MEW, Bd. 21, S. 307)

(14) Mit Michael Hardt und Antonio Negri würde man wahrscheinlich von der Menge, der multitude sprechen ("Empire. Die neue Weltordnung", Frankfurt/New York 2002).

(15) Die Ablösung der neoliberalen Ordnung durch einen erneuerten Sozialstaat und globale Weichenstellungen für eine gerechtere Welt sind Herkulesaufgaben, deren Erledigung noch ein Weilchen dauern wird. Wie sich dieser Übergang im Detail vollziehen wird (Crash oder kleine Schritte), wissen wir nicht; wir können lediglich die Inhalte der gesellschaftspolitischen Änderung beschreiben und potentielle Bündnispartner dieses Wandels benennen.

(16) Dies konkretisiert sich im Projekt "Bruch der neoliberalen Hegemonie", geht aber darüber hinaus.

(17) Eine eingehendere Beschäftigung mit den heute im Bundestag vertretenen Parteien führt zu dem Ergebnis, daß es nach wie vor aus der Geschichte herrührende Anknüpfungspunkte zwischen Sozialdemokraten und Sozialisten gibt. Diese historischen Gemeinsamkeiten haben sich, auch wenn dies gegenwärtig kaum zu erkennen ist, nicht erschöpft. Sie beziehen sich auf die Ideen der sozialen Gerechtigkeit, des "Mehr Demokratie wagen", einer europäischen beziehungsweise globalen Friedensordnung. Diese Präferenzen bestimmen darüber, wer sich just diese Partei aussucht (natürlich neben andere Motiven, wie Karriereerwartungen etc.).

(18) Es ist nach dem schwierigen Start dieser Regierung kaum davon auszugehen, daß die Schröder-Regierung dabei ist, ein erfolgreiches und dauerhaftes Modell des "dritten Weges" zu kreieren, das geeignet ist, eine neue Ära zu konstituieren.

(19) Eine der Antworten, die im traditionellen sozialistischen Milieu gegeben werden, lautet: politische Schwerpunktarbeit in den sogenannten "Sozialen Brennpunkten". Dort bei den Ausgegrenzten, Ausgestoßenen lasse sich am ehesten der Widerspruch gegen kapitalistische "Schweinereien" mobilisieren.

(20) Dem Rechtspopulismus entgegentreten, heißt jedoch auch, die Verunsicherung jener Teile der Gesellschaft, die sich durch die Migrationsprobleme in einer doppelten Randlage fühlen - als Arbeitslose/ Rentner und als kulturell bedrängte "Eingesessenen- Bevölkerung" in den Stadtteilen - ernster zu nehmen, als es die PDS im Westen bisher tut.

(21) Die Gewerkschaften können ein Lied davon singen, wie schwierig es ist, gerade die Beschäftigten in den "Wachstumsbranchen" des tertiären Sektors (Dienstleistungen) anzusprechen.

(22) Es geht um die Allianz zwischen den Verlierern der neoliberalen Globalisierung und den aufgeklärten Modernisierungsgewinnern in den Zentren der gesellschaftlichen Produktion und Kultur. Nötig sind übergreifende Bündnisse zwischen den Unterprivilegierten, den unter Druck geratenen Mittelschichten und weitsichtigen Vertretern der bürgerlichen Klassen. Proletarische Parteien im traditionellen Sinne haben keine Zukunft; subproletarische schon gar nicht.

(23) Die Leuchtkraft der utopischen Idee des Kommunismus, der klassenlosen Gesellschaft ist verblaßt und beschmutzt. Die Abgründe der stalinistischen Tyrannei, aber auch der schmähliche Niedergang erstarrter Bürokratenherrschaft hat den Zweifel genährt, ob es überhaupt noch sinnvoll, oder vielmehr überaus gefährlich ist, solche Utopien zu entwickeln.

(24) Die Debatte über das Programm wird zeigen, ob die PDS an einer modernen Definition der sozialistischen Ziele festhält, oder den Rückmarsch zu den alten Losungen antreten wird. Wer an alten Gewißheiten festhält und die konkret vorfindbaren Realitäten verdrängt, der kann nicht verändern, der ersetzt Politikfähigkeit durch die schale "Kunst" der Agitation.

(25) Hierzu gehört heute unweigerlich das Aufgreifen der Forderungen der Globalisierungskritiker. Diese Bewegung ist keine Modeerscheinung. Sie trifft den Punkt. Nicht zuletzt der 11. September hat ins Bewußtsein gerückt, daß wir es heute mit Einer Welt zu tun haben. Globalisierung verbindet sich mit dem Streben der USA, ein neues Empire zu errichten mit dem Herrschaftsregime des Finanzkapitals, ein Regime, das die internationalen Beziehungen ebenso wie nationale Produktionsweisen prägt. ATTAC hat recht, wenn es die internationale Spekulation und den Ausverkauf öffentlicher Güter von Rio bis Rom thematisiert. Hier hat die PDS Nachholbedarf.

(26) Die Probleme einer Marginalisierung der ostdeutschen Bundesländer bleiben, verschärfen sich zum Teil noch. Die davon besonders betroffene jüngere Generation will aber eine Änderung nicht durch Abwendung vom Westen erreichen. Sie fordert zu Recht und rigoros gleiche Lebenschancen ein.

(27) Die PDS wird sich auf die multikulturell geprägten städtischen Bereiche konzentrieren müssen. Hier erreichen die Grünen in aller Regel zwischen fünfzehn und dreißig Prozent, in manchen Stimmbezirken sogar mehr. Daraus folgt zweierlei: Die PDS kann mit einem modernen ökologischen Profil nicht entscheidend gewinnen, aber ohne ein solches entscheidend verlieren. Zum zweiten wird sie ohne Grundstandard an Intellektualität und ohne die Aneignung "bürgerlicher" Umgangsformen nicht weiterkommen. Gregor Gysi hat eben nicht nur die Eliten fasziniert, sondern auch den Menschen "ganz unten" imponiert, weil er es denen "da oben" mit seiner Intelligenz gezeigt hat.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 146 (Dezember 2002), S. 1088-1101