Religion als Utopie

I.   In den Marxistischen Blättern ist Franz Hinkelammerts Beitrag über Marxismus, Humanismus und Religion mit den süffisanten Worten eingeleitet worden, dass vieles an seinen Ausführungen einem „orthodoxen“ Marxismus fragwürdig erscheinen mag. Nach meinem Verständnis würde ein Marxismus kein gutes Bild abgeben, wenn er mit einer solch subtilen Rekonstruktion der Marxschen Gedankenwelt, wie sie von Hinkelammert vorgelegt wurde, und der darauf aufbauenden Begründung einer humanistischen Perspektive prinzipielle Schwierigkeiten hätte: Denn ohne einen normativen Horizont, also einen anthropologischen (die menschlichen Gattungsbedürfnisse thematisierenden) Reflexionshorizont, wäre eine radikale Infragestellung des Kapitalismus nicht möglich. Er ist ja nicht wegen seiner ökonomischen Funktionsdefizite (ungleiche Entwicklung, krisenförmige Bewegungsform) kritikwürdig, sondern wegen der Opfer, die seine verwertungsorientierte Reproduktionsform erfordert. Er verunsichert und instrumentalisiert die Menschen, untergräbt die „Springquellen allen Reichtums ... die Erde und den Arbeiter“ (Marx); er zementiert die Herrschaft des Toten (des Kapitals) über die konkreten Lebensverhältnisse, Entäußerungsformen und Bedürfnisse der Menschen.

Auf der Basis einer weitgehenden Zustimmung empfinde ich jedoch die etwas zu unvermittelte Gleichsetzung Hinkelammerts von Religion und Kapitalismus (dabei bezugnehmend auf das Phänomen eines quasi-religiösen „Glaubens“ an den Kapitalismus) als fragwürdig. Diese Gleichsetzung ist ja in der letzten Zeit mit der Berufung auf eine knappe Bemerkung von Walter Benjamin in Mode gekommen. Auch Marx deutet in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten eine Parallelität zwischen Geld und Religion an. Jedoch fraglich ist, ob die Annahme eines solchen Beziehungsverhältnisses mit der Vielschichtigkeit seines eigenen Religionsverständnisses kompatibel ist.

Um diesen Einwand zu begründen, scheint mir ein kleiner gedanklicher Umweg notwendig zu sein: Marx war bekanntlich der Überzeugung, dass Religion mit der Überwindung der Klassengesellschaft, also im entwickelten Sozialismus, ihren Nährboden verlieren würde. Auch wenn auf Erden nicht das Himmelreich entstünde, so würden doch gesellschaftliche Zustände entstehen, durch die ein „Seufzer der bedrängten Kreatur“ (wie Marx die Religion charakterisiert hat) sich erübrigen.

Damit hat er sich offensichtlich geirrt, denn Religiosität (im Folgenden wird vorrangig auf deren christliche Variante Bezug genommen), wie sie im Rahmen Marxscher Religions-Kritik charakterisiert wird, ist schon im realen Kapitalismus weitgehend verschwunden, und zwar hauptsächlich in den industrialisierten Weltregionen. Trotz zunehmender Kirchenaustritte sind die beiden großen Kirchen nach wie vor Massenorganisation: Sie vereinen immer noch 80 Prozent der westlichen Bundesbürger (im Osten sind es ca. 26 Prozent!) als steuerzahlungspflichtige Mitglieder. Gleichzeitig geben Zweidrittel der Erwachsenen auch an, sich mit dem Christentum „zu identifizieren“. Mit der religiösen Praxis sieht es jedoch schon anders aus. Regelmäßig an den Gottesdiensten nehmen weniger als 15 Prozent der Katholiken und unter 4 Prozent der Protestanten teil.

Wenn Habermas und der Ratzinger-Papst gleichwohl eine Renaissance des Religiösen erkennen wollen, so beruht das nach meiner Wahrnehmung auf einer eklatanten Fehleinschätzung der gegenwärtigen Situation. Zwar gibt es ein gesteigertes Bedürfnis nach Sinn-Surrogaten – und das sollte in einer Gesellschaft zunehmender Perspektiv- und Orientierungslosigkeit nicht überraschen –, doch fraglich ist, ob diese Sinn-Suche noch viel mit traditioneller (christlicher) Religion zu tun hat. Hieran schließt sich auch die Frage an, ob die Praktizierung religiöser Rituale für eine überwiegende Mehrheit nicht doch nur konventionellen Charakter hat.

Eine „sinnstiftende“ Funktion für die Gesellschaft im ganzen (die Habermas konzediert), besitzt das religiöse „Feld“ sicherlich nicht. Meist ist der Glaubenskult von der übrigen Lebenspraxis abgetrennt, sodass eine religiöse Existenzform als Einheit von Leben und Religion auf des Basis eines Erlösungsglaubens nur noch selten existiert: Durch diesen Bruch zwischen Lebensweise und Glauben verändert sich der Charakter des Religiösen, haben seine Restbestände kaum noch eine sozial und kulturell ausstrahlende Wirkung: Es entsteht ein Vakuum, in dem quasi-religiöse Orientierungen (wie die Projizierung von „Erlösungshoffungen“ auf den Kapitalismus), jedoch auch ganz „gewöhnliche“ Irrationalismen sich entfalten können.

Denn was sich metastasenförmig ausbreitet und seinen Einfluss festigt, sind Esoterik, Untergangsphantasien, astrologische Praktiken, Wunder- und Engelsglauben usw. Sie sind die „andere Seite“ einer gesellschaftlichen Dominanz von instrumentellem Denken und abstrakter Verwertungsrationalität. Es ist ein prosperierender Markt entstanden, auf dem, mit steigender Tendenz, in der Bundesrepublik schätzungsweise 20 bis 25 Milliarden Euro umgesetzt werden. Auf diesem Geschäftsfeld tummeln sich neben ganz gewöhnlichen Wahrsagerinnen auch Hexen und Geistheiler. Die Regale in den Buchläden quellen mit entsprechender Literatur über, die nach Gruppen wie Orakel, Tarot, Anthroposophie, Spiritualität und Astrologie sortiert sind. Damit wird dokumentiert, dass esoterische Orientierungen kein Randgruppenphänomen mehr sind, sondern „zunehmend in den ganz normalen Alltag“ eindringen (H. Zinser).

Die Zahlen sprechen für sich: 10 bis 15 Prozent der Bundesbürger sind zur Gruppe der „Spiritualisten“ zu rechnen, die für esoterische Praktiken offen sind; bei Frauen sollen es 20 Prozent sein. Neben den aktiven, esoterisch orientierten „Sinn-Suchern“ gibt es eine weit verbreitete passive Akzeptanz dieser Praktiken und der ihnen zugrunde liegenden Einstellungen. Wird noch der „gewöhnliche“ Aberglaube berücksichtigt, halten 68 Prozent der bundesrepublikanischen Bevölkerung magische, astrologische, okkulte und übersinnliche Orientierungen für überzeugend. Zunehmend wird das Esoterik-Angebot in sektenförmigen Organisationsstrukturen „konsumiert“. Aber auch Volkshochschulen bieten längst Kurse über „Energiearbeit und Bewusstsein“, „Pendeln“ und „Grundlagen des Tarot“ an. Auch Spitzenmanager und Politiker lassen sich (wie zu hören ist) bei wichtigen Entscheidungen von Astrologen und Wahrsagerinnen beraten.

Was die Menschen auf hilflose Weise suchen, gehört zwar zum Bestand des Religiösen, macht jedoch nicht dessen Kern aus: Es geht um Selbsterfahrung und Selbstvergewisserung wie um emotionalen und intellektuellen Halt in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Es wird eine Perspektive für den eigenen Lebensweg gesucht, weil viele traditionelle Orientierungsmuster sich zunehmend als unbrauchbar erweisen. Immer öfter wird psychische „Selbstoptimierung“ angestrebt, um den Anforderungen eines Alltags entsprechen zu können, der durch beruflichen Bewährungsdruck und unsichere Lebensperspektiven geprägt ist. Es wird zu diesem Zweck auch auf die Religionen zurückgegriffen, sie fungieren jedoch meist als Steinbruch, dem das Material für die eignen Konstruktionen einer (spirituellen) Behausung entnommen wird. Viele Elemente erscheinen als beliebig und austauschbar oder werden gleich durch die Esoterik-Angebote ersetzt.



II.

Da aufgrund vielfältiger Defizit- und Bedrängungserfahrungen in einer Welt kalter Rationalität das Verhältnis zum Mitmenschen immer öfter dem Nützlichkeitskalkül unterworfen ist und eine latente Angst vor sozialer Nähe sich verallgemeinert hat, streben die Menschen nach einem neuen „Halt“, aber auch einer psychischen „Selbstoptimierung“, um den Anforderungen und Zumutungen des Alltags entsprechen zu können.

Prinzipiell könnten die institutionalisierten Religionen die ersehnte Zuversicht und einen geistigen Halt bieten. Jedoch zu dieser, Lebenssinn vermittelnden Religiosität können nach meiner Beobachtung die Sinn-Sucher immer seltener finden, weil ihnen durch ihr Leben in diesen risikokapitalistischen Verhältnissen, mit ihrem Zwang zur Selbstinstrumentalisierung, die Fähigkeit zur religiösen Empfindung verloren gegangen ist. Sie sind in einem System von Entfremdung und Selbstentfremdung verfangen, in dem die Phantasiekräfte weitgehend zerstört werden und jenes Gefühl einer unendlichen Gegenwart dominiert, das zur weltanschaulichen Grundorientierung der Epoche geworden ist. Was sich in diesem Kontext lebensweltlicher Fremdbestimmung und Selbstinstrumentalisierung in der Regel entwickelt, sind quasi-religiöse Orientierungen, die weniger Hingabe erfordern und auch leichter konsumierbar sind, weil sie zunehmend in kommerzialisierter Form bzw. mit kommerziellem Hintersinn angeboten werden.

Was all diesen Sinn-Surrogaten fehlt, ist jener Doppelcharakter, den Marx als das Charakteristische der Religion herausgearbeitet hat: Damit wir uns diesen Doppelcharakter noch einmal vergegenwärtigen können, ist es sinnvoll, diese bekannte Passage, in der auch von der Religion als Opium des Volkes die Rede ist, und die zu den zwei, drei am häufigsten missverstandenen Marx-Sätzen gehört, in ihrem ganzen Umfang zur Kenntnis zu nehmen und zu durchdenken:

„Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur [Ehrenpunkt]; ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt ... Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.

Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertals, dessen Heiligenschein die Religion ist.

Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt.“ (K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung)

Zunächst spricht Marx von der Religion als verkehrtem Weltbewusstsein, das jedoch eine alltagspraktische Funktion besitzt. „Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium“. Aber dieses spezifische Weltverhältnis enthält nach seinem Verständnis eine „feierliche Ergänzung“, die darin liegt, dass Religion nicht nur als „Protestation gegen das wirkliche Elend“ fungiert, sondern sich in ihr auch das „Gemüt einer herzlosen Welt“ und „der Geist geistloser Zustände“ zum Ausdruck bringt. Durch diese Fähigkeit ist die Religion „der Seufzer der bedrängten Kreatur“.

Ohne Zweifel geht es Marx zunächst um die Entlarvung der Religion als Herrschaftsmittel: Von der Kritik des Himmels wird übergeleitet zur Kritik der irdischen Verhältnisse. Das sind die beiden grundlegenden Stufen seiner Religionskritik. Sie verbinden Ideologie- und Herrschaftskritik. Jedoch schiebt sich auf dieser Basis die Frage in den Vordergrund, weshalb die Menschen dieses ideologische Konstrukt reproduzieren: Marx begreift die religiöse Reaktion also nicht nur als Unterwerfungshandlung, sondern auch als verzerrte und entfremdete Form eines aktiven Weltverhältnisses, dem eine potenzielle Sprengkraft innewohnt. Beide Seiten bilden im Marxschen Verständnis eine dialektische Einheit. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben: Die Selbstartikulation ist nicht von der Unterwerfung zu trennen und folglich ist die subjekttheoretische Behandlung des religiösen Bewusstseins auch nicht von der Herrschaftskritik zu separieren.



III.

Marx baut zwar auf der Feuerbach’schen Religionskritik auf, die den entfremdeten Charakter des religiösen Weltverhältnisses thematisiert, doch geht er konzeptionell und inhaltlich darüber hinaus, weil er den Doppelcharakter der religiösen Artikulation als Element eines Systems geistig-moralischer Unterwerfung, jedoch gleichzeitig als Ausdruck eines Auflehnungsbegehrens analysiert. Marx gibt sich also nicht damit zufrieden, Religion aus den gesellschaftlichen Umständen der Unterdrückung zu erklären, sondern thematisiert gleichzeitig ihre gesellschaftliche und individuelle Funktionalität.

Trotz der Berücksichtigung der emanzipatorischen Geltungsansprüche religiöser Artikulation verliert Marx nicht die „staatstragende“ Rolle von Kirche und Religion aus den Augen. Deshalb charakterisiert er „die Kritik der Religion ... [als] die Voraussetzung aller Kritik“. Das bleibt angesichts der politischen Kanalisierung von Glaubensdogmen und der Instrumentalisierung religiösen Bestrebens in vielen Teilen der Welt von tagespolitischer Bedeutung. Die Religion bleibt, trotz ihrer Fähigkeit zu einer spontanen „Distanzierung“ von einer dem Menschen feindlichen Welt, für Marx „ein verkehrtes Weltbewusstsein“, weil Staat und Sozietät, auf die es reagiert, „eine verkehrte Welt sind“, und fungiert deshalb als „allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund“. Religionskritik wird deshalb zwangsläufig zur Gesellschaftskritik: „Die Forderung, die Illusion über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim Kritik des Jammertals, dessen Heiligenschein die Religion ist ... Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (Marx)

Gerade weil die Religionskritik von Marx im Grundsatz machtkritisch motiviert ist, kann der Blick hinter die Fassade der Herrenkirche, die vollzogene Perspektiverweiterung hin zur Betrachtung der Funktion des Religiösen aus der Subjektperspektive und die Beschäftigung mit den Motiven der sich religiös artikulierenden Menschen, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Diese Herangehensweise impliziert eine dialektische Theorie des Subjekts, die von Marx nicht ausgearbeitet worden, jedoch seinem Denken inhärent ist, wie gerade die religionskritischen Passagen zeigen.

Trotz der Kritik an den kirchlichen Institutionen, ihrer Identifizierung als Bollwerke reaktionärer Zustände, schiebt sich die Frage nach der „lebensweltlichen“ Rolle religiöser Bilder und Orientierungsmuster in den Vordergrund. Diese zentrale Passage Marxscher Religionskritik erweist sich damit als ein ideologietheoretischer Begründungstext, der bedeutsam bleibt, auch wenn der Reflexionsrahmen der Theorie gesellschaftlicher Bewusstseinsformen in den folgenden Jahren bei Marx breiter wird. Ernst Bloch vermutet wohl richtig, „dass ohne vorangegangene Beschäftigung mit der Religion und der sich anschließenden Religionskritik die Entfremdungslehre und Warenkritik Marxens kaum entstanden wäre ... Zum Himmel fügte er die gesamte Ideologie des Oben und denunzierte statt des abstrakten Menschen das vorhandene Ensemble der kapitalistischen Verhältnisse“.

Auf der religionskritischen Analyseebene ist es Marx durch die Einbeziehung der Subjektperspektive möglich, das menschliche Weltverhältnis auch im Zustand der Entfremdung als ein nach Selbstbestimmung strebendes zu begreifen: Es fließen eigene Interpretationsversuche (in der Form eines „Geistes geistloser Zustände“) und Artikulationsbedürfnisse (als „Seufzer der bedrängten Kreatur“) der Alltagssubjekte in die religiös strukturierten Reaktionen auf die bedrückenden und unterdrückenden Lebensbedingungen mit ein – auch wenn die kulturellen Muster, derer sie sich bedienen, herrschaftskonform vorgeprägt sind.

Die Menschen leisten zwar mit ihrer Glaubenspraxis auch einen Beitrag zur eigenen Unterdrückung, jedoch geht dieses Alltagshandeln in den Machtimplikationen nicht auf. Zwar verschwinden die repressiven Wirkungen der übermächtigen religiösen Bedeutungssysteme – die sich in der historischen Entwicklung aufgetürmt haben – im Prozess religiöser Alltagsartikulation nicht, werden jedoch modifiziert: Im Idealfall vermischen sie sich mit konkreten Ausdrucks- und Distanzierungsbedürfnissen. Sie sind in historischen Krisen- und Umbruchsituationen dazu geeignet, der Bereitschaft zum Widerstand und zur Auflehnung zusätzliche Impulse und – wenn auch in verzerrter Gestalt – eine ideelle Basis zu geben, wenn das Erlösungsversprechen nicht mehr nur auf das Jenseits bezogen, sondern im Hier und Jetzt eingeklagt wird, so wie es in den ersten Jahrhunderten der christlichen Entwicklungsgeschichte (bis das Christentum zur Staatskirche wurde) der Fall war.



IV.

Auf die lange Liste sozialer Bewegungen, die sich vermitteltst religiöser Orientierungsmuster artikulierten und aus ihnen auch ihren Mut schöpften, befinden sich neben vielen anderen Ereignissen die Sektenbewegungen des Mittelalters, Thomas Müntzer und die Bauernkriege, das Gottesreich in Münster und die Befreiungstheologie unserer Tage. Diese historischen Ausbrüche konterkarieren nicht nur die Versuche der Herrenkirche, die „Erlösung“ auf einen Zustand ewigen Hoffens, ohne Weltbezug zu reduzieren, sondern konstituieren eine egalitäre Traditionslinie, der auch der Sozialismus angehört: „Die Geschichte des Urchristentums“, schreibt der späte Engels, „bietet merkwürdige Berührungspunkte mit der modernen Arbeiterbewegung. Wie diese, war das Christentum im Ursprung eine Bewegung Unterdrückter: es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten oder zersprengten Völker. Beide, Christentum wie Arbeitersozialismus, predigen eine bevorstehende Erlösung aus Knechtschaft und Elend; das Christentum setzt diese Erlösung in ein Jenseits nach dem Tod, in den Himmel, der Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der Gesellschaft. Beide werden verfolgt und gehetzt.“

Aber: Mit dem Auftreten des Sozialismus werden die weltanschaulichen Karten neu gemischt: Die Erlösungserwartungen werden auf eine rationale Grundlage gestellt: Der Sozialismus hat, „nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits“ (Marx) etabliert. Was aber als Erbe der christlichen Traditionslinie bleibt, ist die durch die Gestalt Jesu in die Welt gesetzte Vorstellung von der Einzigartigkeit des menschlichen Individuums und seines unhintergehbaren Geltungsanspruchs.

In Folge ihrer Institutionalisierung, ihrer zunehmend „staatstragenden“ Rolle, wurde die religiöse Tendenz zur „Weltabgewandtheit“ privilegiert, jedoch stellt sie nicht ein durchgängiges Prinzip der jüdisch-christlichen Religion dar. Schon das Alte Testament bricht aus diesem Schema aus, appelliert bei den Propheten und im Buch Hiob an die Selbsttätigkeit des Menschen. In solchen Passagen zeigt sich die Bedeutung der Bibel als historische Dokumentation menschlicher Selbstartikulationsbedürfnisse. Diese Substanz wird bei ihrer modephilosophischen Reduktion auf ein „semantisches Zeichensystem“ leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Denn wenn sie nicht nur eine inhaltsleere Floskel ist, dann bedeutet diese Formulierung im Sinne eines gegenwärtigen philosophischen Irrationalismus (dessen maßgeblicher Stichwortgeber der französische Philosoph Derrida ist), dass es keinerlei Verbindung von „Texten“ mit einer wie auch immer gearteten Realität gibt. Tatsächlich jedoch erinnert die Bibel an ein elementares menschliches Streben der Selbstvergewisserung, ist sie faszinierendes Zeugnis der Versuche mythologischer Weltaneignung. Auch wenn sie oft von gegensätzlicher, auch widersprüchlicher Tendenz sind, dokumentieren die Bibel-Erzählungen ein kollektives Erinnern an den Verlust „harmonischer“ Welt- und Naturverhältnisse (Paradies-Erzählung) ebenso wie an die durch Blut und Tränen, unendliche Grausamkeit und irrsinnige Akte der Fremd- und Selbstzerstörung geprägte Durchsetzung klassengesellschaftlicher Verhältnisse. Es gibt keinen Grund, sich wegen dieses symbolischen Realismus von der Bibel zu „distanzieren“.

In diesem Zusammenhang ist auch die Rede vom „Sündenfall“ und der „Erbsünde“ angesiedelt, die nichts anderes thematisiert als die klassengesellschaftlichen Deformationsgeschichte, die kollektive Erinnerung an einen Prozess emotionaler Selbstbeschädigung der Menschen durch den Zwang zu selbstunterdrückender Arbeit. In der um die Erlösungsvorstellung kreisenden „Erinnerungsarbeit“ bewahrt sich eine „kulturrevolutionäre“ Veränderungsperspektive. Eine Trennlinie zwischen Religion (bzw. theologischer Interpretation) und Vernunftorientierung verläuft bei diesem Problem in der Antwort auf die Frage, ob der Mensch diesen Zustand der Selbstverstümmelung selbst überwinden kann, oder einer imaginären „Gnade“ bedarf. Glauben, der darauf beharrt, dass der „Mensch sich nicht selbst erlösen kann“, bleibt herrschaftskonform instrumentalisierbar.

Es ist evident, dass die Widerstandsbereitschaft, wenn sie sich mit Hilfe religiöser Vorstellungen und symbolischen Systemen artikuliert, nicht aus der Religion, sondern den gesellschaftlichen Widersprüchen resultiert. „Denn der einfache Mann, zu sehr geprüft und von ihnen über alle Maßen aufs hinterhältigste bedrückt ... kann und will das hinfort nicht mehr dulden und hat gute Gründe dafür, mit Flegeln und Kolben dazwischen zu schlagen.“ (M. Luther)

In der Revolte schlägt die Transzendenz in eine konsequente Diesseitsorientierung um: „Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk, auch ist’s angezeigt in der Apokalypse im 11. Kapitel, dass für das Reich dieser Welt soll Christus zuständig sein.“ (Th. Müntzer) Mangels anderer Artikulationsmöglichkeiten bedienen sich die Aufständischen zur Rechtfertigung ihres Handelns theologischer Elemente, werden sie durch ihre Glaubenszuversicht und das religiöse Versprechen einer anderen Weltordnung schon im Diesseits motiviert. Durch die Politisierung wird die religiöse Zentrierung überschritten. Spätestens wenn die Jenseitsorientierung abgestreift wird, kristallisiert sich heraus, dass die „religiöse Verkleidung nur als Fahne und Maske für Angriffe auf eine veraltete ökonomische Ordnung“ (Engels) dient. Aber spätestens da hört für eine machtorientierte Glaubenslehre das Verständnis für die Aufständischen auf: „Steche, schlage, töte hier, wer kann!“ (M. Luther)



V.

Nach dieser skizzenhaften Beschäftigung mit einem dialektischen Religionsbegriff kehre ich zu der Ausgangsfrage zurück, ob die sogenannte „Utopie des Geldes“ und die vielfältigen ideologischen Verblendungen über den Charakter des Kapitalismus tatsächlich etwas mit einem religiösen Bewusstsein im Sinne des Marxschen Religionsverständnisses zu tun haben? Oder konkret gefragt: Hat die Rede über die „Religion des Geldes“ nicht eher einen metaphorischen denn einen ein tatsächliches Bedeutungssystem konstituierenden Charakter?

Die Fetischisierung des Geldes mag mit dem religiösen Denken zwar eine gewisse Schnittmenge aufweisen – doch überwiegen nach meiner Auffassung die gegensätzlichen Momente, sodass Fetischismus in seinen aktuellen Formen nicht automatisch mit Religion gleichgesetzt werden kann. Und zwar gerade dann nicht, wenn die Fetischismus-Analyse von Marx und dessen Religionsverständnis gleichermaßen zugrunde gelegt werden.

Worin liegen diese Differenzen? Hauptsächlich, so mein Interpretationsvorschlag, wohl darin, dass durch das fetischisierte Bewusstsein Zustände festgeschrieben werden und dieses Bewusstsein sich in der Tendenz in das Schicksal fügt – unabhängig davon, ob es mit dem Gegebenen zufrieden ist oder eine „Differenz“ geltend machen will. Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal wäre vor allem die Fähigkeit zur Transzendenz, zur illusionären Überwindung der irdischen Bedrückungen zu nennen: Das religiöse Bewusstsein schafft sich dadurch eine eigene Welt, die um die Erlösungsvorstellung kreist, während die schlechte Utopie des Geldes davon ausgeht, es sich in der bestehenden bequem machen zu können. Ein auf das Geld und den Reichtum konzentriertes Hoffen bindet nur noch fester an das Gegebene, denn bürgerliches Denken besitzt in keinem seiner Formen eine Perspektive der „Erlösung“, sondern fordert Hinnahme. Mit ihrem Verzicht auf den Erlösungsanspruch erweist in großen Teilen somit die Theologie des 20. Jahrhunderst bürgerlichen Weltanschauungsbedürfnissen ihre Reverenz. Auf diese Situation reagiert der reaktionäre religiöse Fundamentalismus. Doch resultiert dessen Extremismus aus der faktischen Unmöglichkeit, diesen Widerspruch aufzulösen.

Ich denke, in der biblischen Erzählung über den Tanz um das goldene Kalb wird das Problem durchaus in einem plausiblen Sinne abgehandelt: Der Reichtum ist nur Surrogat, die Menschen sind vom Glanz der Edelmetalle geblendet, doch die mit dem materiellem Reichtum verbundenen Erlösungshoffnungen bleiben illusionär.

Es gibt kein historisches Beispiel dafür, dass mit dem Verweis auf die Pseudo-Utopie des Geldes eine bestehende Herrschaft ins Wanken gebracht wurde: Bei der religiösen Utopie ist das jedoch sehr wohl der Fall. Sie kann zwar, wenn es um Befreiung und Selbstbefreiung geht, die sozialistische Perspektive nicht ersetzen: Sie braucht ihr aber auch nicht im Wege zu stehen!