Die Kapitalrezeption der Neuen Marx-Lektüre

Der Ausdruck »Neue Marx-Lektüre« wurde von den ProtagonistInnen dieser Strömung als positive Selbstzuschreibung entwickelt. Die Gründergeneration, prominent repräsentiert durch Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt, waren als Adorno-Schüler einer dialektischen Sichtweise verpflichtet. Die jüngere Generation, insbesondere Michael Heinrich, orientiert sich an Louis Althusser und dessen Bannflüchen gegen den Empirismus, Historismus und Humanismus. Ich werde mich in dieser kurzen Skizze primär mit der Kapital-Interpretation von Michael Heinrich
auseinandersetzen, zumal sich dessen Schriften in manchen Szenen einer gewissen Beliebtheit erfreuen. Da es hier um die Rezeption des Marxschen Kapital geht, möchte ich einen wichtigen allgemeinen Kritikpunkt nur kurz andeuten. Für die Neue Marx-Lektüre zählen als ernsthafte, wissenschaftliche Grundlage ausschließlich die Marxschen Schriften zur Ökonomie. Dass Marx das Kapitalverhältnis explizit von der Gesellschaft
insgesamt abgrenzt und von Gesellschaften spricht »in welchen [sic!] kapitalistische Produktionsweise herrscht« (MEW 23; 49), dass Marx also zwischen Gesellschaft insgesamt und der in ihr dominierenden Produktionsweise unterscheidet, wird von der Neuen Marx-Lektüre ignoriert. Somit geraten auch Staat und Politik als eigenständige Herrschaftsformen aus dem Blick. Was nun das Marxsche Hauptwerk selbst betrifft, so werden folgende Verschiebungen und Fehlinterpretationen vorgenommen:

Sozialgeschichte wird depotenziert

Heinrich behauptet, dass auf elaborierter, wissenschaftlicher Ebene das Kapitalverhältnis nur im »idealen Durchschnitt« zu analysieren und zu
verstehen sei. Die Sozialgeschichte des Kapitalismus als Basis und Grundlage für das Verständnis des Kapitalismus scheidet methodisch aus. Dabei berufen sich Heinrich und seine Schüler auf einen einzigen (!) Satz im III. Band des Kapital, der da lautet: »Deswegen nicht, weil die wirkliche
Bewegung der Konkurrenz außerhalb unseres Plans liegt, und wir nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in
ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen haben.« (MEW 25; 839) Wobei sie das Wörtchen »sozusagen« beim Zitieren gerne unter den Tisch fallen lassen. Dass uns Geschichte nicht wirklich etwas lehren kann, hat Heinrich von Althusser und dessen Bannfluch gegen den »Empirismus« übernommen. Heinrich steht Althusser viel näher, als er nach außen signalisiert. Dieser ideale Durchschnitt – Durchschnitt wovon, auch von der Zukunft? – lässt das Kapitalverhältnis im Immergleichen erstarren.

»Es herrschen die Dinge,
nicht Menschen über Menschen« wird behauptet


Sehen wir uns einige Sätze an, mit denen Heinrich behauptet, so etwas wie soziale Herrschaft gäbe es im Kapitalverhältnis überhaupt nicht.
»Die einzelnen Akteure sind diesem ›gesellschaftlichen Naturzusammenhang‹ genauso unterworfen wie dem Wetter oder irgendwelchen Naturkatastrophen. … Der Kapitalist exekutiert die Logik des Kapitals, die Arbeiter und Arbeiterinnen erleiden sie.« (Heinrich 2012; 29) »Es ist
nur die andere Seite der unpersönlichen Herrschaft, dass die Individuen einer bestimmten Sachlogik folgen müssen, wenn sie ökonomisch überleben wollen.« (Heinrich 2012; 27) Dass Menschen in ihrem ökonomischen Handeln einer »bestimmten Sachlogik« folgen müssen, gilt in jeder
Gesellschaft und für alle Zeiten. Analytisch können diese Sachzwänge auf das Wertgesetz zurückgeführt werden, im lebensweltlichen Horizont
erscheinen diese aber gerade in verkehrter Form wie Marx immer wieder zeigt. »Das Wertgesetz kann nicht angewandt werden.« (Mattick 1971; 332) Es wirkt hinter dem Rücken, aber nicht als anleitendes Kalkül. Weiter im Text: »In einer Waren produzierenden Gesellschaft stehen die
Menschen (und zwar alle!) tatsächlich unter der Kontrolle der Sachen, die entscheidenden Herrschaftsverhältnisse sind keine persönlichen, sondern ›sachliche‹.« (Heinrich 2004; 73) Es herrschen also nach Heinrich nicht Menschen über Menschen, wenn auch über »Sachen« und Strukturen vermittelt, sondern es herrschen tatsächlich die Dinge. Wer denkt bei den zitierten Aussagen von Heinrich nicht an Passagen im Kapital wie etwa die folgende, dass nämlich »… die unabhängig voneinander betriebenen, aber als naturwüchsige Glieder der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit allseitig voneinander abhängigen Privatarbeiten fortwährend auf ihr gesellschaftlich proportionelles Maß reduziert werden, weil sich in den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, wie etwas das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt.« (MEW 23; 89) Tatsächlich beschreibt dieses Ausgeliefertsein an das hinter dem Rücken wirkende Wertgesetz die Situation des Einzelkapitals.
Für das einzelne Kapital ist es der Zirkulationsprozess, in dem sich »alles« entscheidet. Erst im Tausch W‘ – G‘ erfährt das Einzelkapital seine Position im gesellschaftlichen Gesamtproduktions- und Zirkulationsprozess. (W‘ bezieht sich auf die Tatsache, dass der Mehrwert bereits produziert
ist und seiner Realisierung harrt.) Der einzelne Kapitalist findet die ökonomischen, aber auch juristischen und gesellschaftlichen Bedingungen seiner Plusmacherei als gegebene vor. Klassenkampf kann das Einzelkapital als Einzelkapital gar nicht führen. Eine Ausnahme bilden bedeutende Großunternehmungen, die in der Lage sind, unmittelbar Druck auf Gesetzgeber und Staat auszuüben. Für Heinrich und seine Adepten stellt diese individualisierte Situation des Einzelkapitals den methodischen Horizont ihrer Marx-Lektüre dar. Davon gehen sie aus.
Bei Marx sieht die Sache jedoch ganz anders aus, und zwar mehrfach. Auch im kleinsten kapitalistischen Betrieb existiert soziale Herrschaft. Auch im mittelständischen Betrieb übt das Kapital Druck auf die Belegschaft aus, auch dort führt das Kommando über die Arbeitskraft zu Schikanen, Demütigungen und sexueller Belästigung. Wir müssen nur als Kontrast an selbstverwaltete Betriebe denken, an Betriebe die von der Belegschaft übernommen und auf eigene Rechnung geführt werden. Auch diese Betriebe stehen unter den ökonomischen Zwängen des Marktes – unsere Neuen Marx-Kritiker dürfen jetzt zufrieden nicken. Aber intern gilt zumindest der Anspruch, dass Herrschaft und Willkür der Chefetage überwunden sind. Dass innerhalb von Fabrik und Büro soziale Herrschaft ausgeübt werden muss, daran lässt Marx keinen Zweifel.
»Nun muss auch der Lohnarbeiter wie der Sklave einen Herrn haben, um ihn arbeiten zu machen und ihn zu regieren.« (MEW 25, 399) »… das Kapitaleigentum, das die Eigenschaft besitzt, Kommando über die Arbeit anderer zu sein …« (MEW 25; 395) »Der Ausgangspunkt der Entwicklung, die sowohl den Lohnarbeiter wie den Kapitalisten erzeugt, war die Knechtschaft des Arbeiters. Der Fortgang bestand in einem Formwechsel dieser Knechtung, in der Verwandlung der feudalen in kapitalistische Exploitation.« (MEW 23; 743) Den Text aus dem Kontext der Neuen Marx-Lektüre möchte ich gerne kennen, in dem vom Formwechsel der Knechtung gesprochen wird. Das zum einen.
Zum anderen kann der Klassenkampf nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vom gesamtgesellschaftlichen Kapital gegen die GesamtarbeiterInnenklasse geführt werden und wird auch so geführt. Und zwar in ökonomisch, politischer und juristischer Überblendung. Dass das Kapital dazu fähig, ja genötigt ist, zeigt Marx anhand der Ausgleich der Profitrate: »Man hat also hier den mathematisch exakten Nachweis, warum die Kapitalisten, sosehr sie in ihrer Konkurrenz untereinander sich als falsche Brüder bewähren, doch einen wahren Freimaurerbund bilden gegenüber der Gesamtheit der Arbeiterklasse.« (MEW 25, 208) Den Freimaurerbund in Aktion zeigt Marx unter anderem im I. Band des Kapital anhand des Kampfes um den 10-Stunden-Tag. Da der Klassenkampf jenseits des Horizonts des isolierten Einzelkapitals stattfindet, erklärt ihn die Neue Marx-Lektüre für de facto inexistent. Es war zweifellos nicht das isolierte Einzelkapital, welches die Wende vom Fordismus zum Neoliberalismus ökonomisch, politisch und ideologisch durchgesetzt hat. Es waren auch nicht Besitzer von, sagen wir, Autoreparaturwerkstätten, die die griechische Regierung dem Diktat der EU unterwarfen. Da das in Konkurrenz stehende Einzelkapital als Akteur aus gesamtgesellschaftlicher Ebene ausscheidet, tippt die Neue Marx-Lektüre treffsicher auf »niemand«. Wer Klassenkampf wie Marx auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene als ökonomisch-politische-juristischer Angriff der herrschenden Klasse dokumentiert, handelt sich von der Neuen Marx-Lektüre den Vorwurf ein,
Verschwörungstheoretiker oder Schlimmeres zu sein. Die Antisemitismuskeule liegt ständig bereit.

»Nachträgliche Vergesellschaftung«

Methodisch verabsolutiert die Neue Marx-Lektüre die Situation des isolierten Einzelkapitals. Deswegen kann oder will ihr Vordenker Heinrich
den Perspektivwechsel zum Gesamtkapital und seine politischen und sozialen Repräsentanten nicht vollziehen. Das Gesamtkapital stellt für ihn eine leere Kategorie dar. Das hat tiefe methodische Gründe. Er nennt sie selbst, es ist die nachträgliche Vergesellschaftung. Heinrich liest die
Ausdrücke »privat« und »Privatarbeit« bei Marx konsequent als Ungesellschaftlichkeit. Privatheit ist für Heinrich keine spezifische Form von Gesellschaftlichkeit, sondern schlichtweg der Gesellschaft vorgelagert. Nur der Tausch stelle Gesellschaftlichkeit her. Die Kategorie der »gesellschaftlichen Gesamtarbeit« (MEW 23; 86, ebenso 87, 90, 122) ergibt für ihn keinen Sinn. »Die Privatarbeit wird also erst nachträglich zur gesellschaftlichen Arbeit« (Heinrich 2012; 19), wird da vollmundig behauptet. Dass Privatarbeit eine Form der gesellschaftlichen Arbeit sein könnte,
kommt ihm nicht in den Sinn. Bei Marx steht es anders: Die »gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten« »erscheinen … erst innerhalb
des Austausches.« (MEW 23, 87, Herv. K. R.) Die Privatarbeiten haben nach Marx bereits gesellschaftlichen Charakter, aber er erscheint erst im Tausch. Heinrich will nicht akzeptieren, dass seine Privatarbeiter und ihre Produktion bereits unter gesellschaftlichen Bedingungen stehen, bevor sie den Markt betreten. Die gesellschaftliche Gesamtarbeit weist eine innere Gesetzmäßigkeit und Logik auf, die durch Konkurrenz am Markt erscheint, aber dadurch nicht entsteht. Die gesellschaftliche Gesamtarbeit ist kein bloßes Aggregat individueller ökonomischer Aktivitäten, sondern weist spezifische Gesetzmäßigkeiten auf, die Marx nach und nach im Kapital entfaltet. Das »proportionelle Maß« (MEW 23; 89) wird von Marx mit den Kategorien der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, (sowohl hinsichtlich der Produktivität als auch hinsichtlich des Verhältnisses von Zufuhr und Nachfrage), wie durch das Verhältnis zwischen Produktionssektor und Konsumsektor (Reproduktionsschemata) weiter bestimmt. Jede (!) Gesellschaft erfordert ein ausgewogenes Verhältnis dieser Sektoren. Die Frage ist nur, ob es sich krisenhaft durchsetzt oder geplant werden kann. Methodisch schlagend wird die Kategorie der gesellschaftlichen Gesamtarbeit insbesondere beim Ausgleich der Profitrate. Es ist das Ganze (der gesamtgesellschaftliche Wert und Mehrwert), das die Teile (den Profit der Einzelkapitale) bestimmt. Marx rechnet hier vom gesellschaftlichen Gesamtwert auf das Einzelkapital hinunter. Umgekehrt geht es nicht. Mit dieser Methode errechnet er den Profit des Einzelkapitals. Wert und Mehrwert werden endgültig zu einer gesamtgesellschaftlichen Kategorie, für das Einzelkapital gilt nun der Kostpreis und der Produktionspreis. Wer wie Ladislaus von Bortkiewicz oder Michael Heinrich versucht, vom Einzelkapital ausgehend die Durchschnittsprofitrate zu errechnen, handelt sich unlösbare mathematische Probleme ein. Für Heinrich bleibt das Einzelkapital und dessen Mehrwert die Basiskategorie, die Wende zum Gesamtkapital im III. Band wird von ihm nicht mitvollzogen. Daher verwirft er auch konsequent folgende Feststellung von Marx: »Hiernach muß die Summe der Profite aller verschiednen Produktionssphären gleich sein der Summe der Mehrwerte und die Summe der Produktionspreise des gesellschaftlichen Gesamtprodukts gleich der Summe seiner Werte.« (MEW 25; 182) Der Zusammenhang von Werten und Produktionspreisen wird zum Rätsel. Konsequent behauptet Heinrich daher, »ein irgendwie geartetes Umrechnungsverfahren von Werten in Produktionspreise« (Heinrich 2004; 147) könne es gar nicht geben. Der Unwillen von Heinrich, die kapitalistische Produktionsweise vorab als vergesellschaftet und die entsprechenden Formen (Ware, Wert usw.) als Ausdruck dieser vorab gegebenen spezifischen Vergesellschaftung zu begreifen, wirkt sich bei allen anderen Themen aus. Seine nachträgliche Vergesellschaftung steht auch hinter seiner befremdlichen Ansicht, der Wert würde tatsächlich im Tausch entstehen – als ob Marx nicht eindeutig das Gegenteil geschrieben hätte. »Weitere Analyse des letzteren [des Tauschwerts K. R.] zeigt mir, dass der Tauschwert nur eine ›Erscheinungsform‹, selbstständige Darstellungsweise des in der Ware enthaltenen Werts ist, und dann gehe ich an die Analyse des letzteren.« (MEW 19, 369) »Der Austauschprozess gibt der Ware, die er in Geld verwandelt, nicht ihren Wert, sondern ihre spezifische Wertform.« (MEW 23, 105) Im Warenkapital schlummert bereits Wert und Mehrwert, weil es »bereits mit Mehrwert geschwängert ist, die Realisierung seines Werts zugleich die Realisierung von Mehrwert ist«. (MEW 25, 354) Heinrich hingegen schlägt sowohl Wertgröße wie auch Wertsubstanz dem Tausch zu. Er behauptet »den Waren [käme] erst innerhalb und durch den Tausch Wert und Wertgröße zu.« (Heinrich 1999, 232) In anderen Texten spricht Heinrich davon, diese »Werteigenschaft der Waren« existiere erst »im Tausch« (Heinrich 2004, 51), oder käme nur den »ausgetauschten Waren« (Heinrich 2004, 81) zu. Konsequent gedacht führt diese Fehlbestimmung zu absonderlichen Konsequenzen. Besitzt einmal gegen Geld getauschte Ware permanent Wert, oder blitzt die Werteigenschaft der Ware im Tauschakt nur für diesen Moment auf? Wenn der Tausch der Ware den Wert verleiht, genügt da ein erster Tausch um die Werteigenschaft für allemal zu sichern? Oder sinkt die Ware nach dem Tauschakt wieder zum bloßen Arbeitsprodukt herab und nur ein weiterer Tauschakt kann ihr die Weihe des Wertseins verleihen? Kann es in der Konzeption von Heinrich überhaupt Wertvernichtung durch Verderben von Waren und Zerstörung von Produktionsanlagen geben? Einmal verkauft, für immer Wert? Nie verkauft, niemals Wert? Dass Heinrich die glasklaren Aussagen von Marx, die Waren gingen bereits gesättigt mit Wert in
die Zirkulation ein, ignorieren muss, ergibt sich konsequent aus seiner These der nachträglichen Vergesellschaftung.
Resümieren wir: Der Wert ist ein gesellschaftliches Verhältnis. Da immer schon vergesellschaftete Menschen in gesellschaftlichen Zusammenhängen produzieren, haben alle ihre Tätigkeiten vorab einen gesellschaftlichen Charakter. Da es sich beim Kapitalismus um scheinbar unabhängige ProduzentInnen handelt, wird der latent gesellschaftliche Charakter ihres Tuns erst durch den Tausch manifest. Diese dialektischen Vermittlungen der Privattätigkeit mit dem gesellschaftlichen Zusammenhang weist Heinrich strikt zurück. Wie sein Mentor Althusser verwirft er die Dialektik und setzt an ihre Stelle zwei separate Reiche. Strikte ungesellschaftliche Privatheit hier, Gesellschaftlichkeit dort. Der Tausch fungiert als einziges Scharnier. Die Ökonomie des Tausches wird zum Schlüssel für das gesellschaftliche Sein.
Die Theorie der nachträglichen Vergesellschaftung setzt sich in der Behauptung Heinrichs fort, es gäbe keinen Zusammenhang zwischen der tatsächlich verausgabten Arbeitszeit und der wertbildenden Arbeitszeit. Auch hier, bestenfalls Halbwahrheiten: Die Tatsache, dass die je individuell
verausgabte Arbeitszeit nicht unmittelbar die wertbildende ist, wird für das Ganze genommen. Tatsächlich konstatiert Marx eine permanente Tendenz der Angleichung von tatsächlicher, mit der Uhr messbarer Arbeitszeit und wertbildender Arbeitszeit. Das produktivere Avantgardekapital lukriert durch geringere Arbeitszeit als die Durchschnittsproduktion einen Extramehrwert, tatsächliche und wertbildende Arbeitszeit weichen voneinander ab. Aber nach und nach muss sich diese produktivere Methode verallgemeinern, es kommt zur Identität zwischen diesen beiden »Zeiten«. Dieses Spiel gilt auch für die gesamtgesellschaftliche Zufuhr und Nachfrage für eine bestimmte Warensorte. Sind diese beiden Größen im Ungleichgewicht, so ist es auch die reale und die wertbildende Arbeitszeit in dieser Sphäre. Aber dieses Ungleichgewicht muss sich ausgleichen, es kommt erneut zur zeitlichen Identität, die freilich wiederum durch die Dynamik des Kapitalismus in Nichtidentität kippt.
Für Heinrich ist hingegen die Nichtidentität ein starres, unaufhebbares Faktum. Es stellt sich die Frage, was an dieser wertbildenden Arbeitszeit unter dieser theoretischen Annahme überhaupt noch Zeit sein soll, wenn sie mit Uhrzeit nichts mehr zu tun hat. Tatsächlich führt die völlige  Entkopplung von realer und wertbildender Zeit zu amüsanten Formulierungen im Kontext der Neuen Marx-Lektüre. Da Vergesellschaftung für die Neue Marx-Lektüre aus der Produktion vor dem Tausch ausgeschlossen ist – hier herrscht strikte und unbedingte Privatheit – ist es für diese ärgerlich, dass Marx die wertbildende, abstrakte Arbeit, (oder Arbeit an sich, wie er sich ausdrückt), als »produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« (MEW 23; 58, ebenso 85) bestimmt. Arbeit an sich soll die gesellschaftliche Wertsubstanz schaffen, obwohl diese noch in der Sphäre der Privatheit vor dem Tausch verausgabt wird? Eine für die Doktrin der Neuen Marx-Lektüre unannehmbare Position. Die Depotenzierung dieser ganz zentralen Definition mittels einer Passage aus der französischen Ausgabe des Kapital scheint auch nicht so ganz zu funktionieren, in der Marx von der Abstraktion von der konkreten Arbeit im Tausch spricht. Zu viele Aussagen von Marx passen nicht in die Denkschemata der Neuen Marx-Lektüre, also ist philologische Akribie auch nicht die endgültige Lösung. Daher erklärt man diese Definition als Missgeschick und Rückfall in die Denkwelt Ricardos. (Meine Position zur Gesellschaftlichkeit der abstrakten Arbeit findet ihr in Reitter 2015a.) Wird der Widerspruch zu Marx zu offensichtlich, wird dies Marx als Defizit angerechnet. Die bürgerlich-akademische Marx-Rezeption applaudiert.

Marx sei (fast) vollständig gescheitert

Dass die Interpretationen der Neuen Marx-Lektüre sich letztlich nicht mit den Aussagen von Marx vereinbaren lassen, ist nicht zu verbergen.
Wird dies von der Neuen Marx-Lektüre auch offen zugestanden? Im Prinzip ja. In seinen populären Einführungsbüchern ist die Theoriewelt bei Marx für Heinrich ganz in Ordnung. Kritik an Marx wird eher verhalten vorgetragen, heikle Punkte vermieden. In den exklusiveren, wissenschaftlichen
Publikationen klingt das anders: Da zählt die Behauptung, Marx hätte uns ein nur sehr unvollständiges, ja hoch problematisches Werk hinterlassen, zum Repertoire der Neuen Marx-Lektüre. Die Bandbreite der Urteile reicht vom Befund, Marx habe uns Fragmente mit »enormen Lücken« hinterlassen, welche von Engels »zu einem guten Teil überkleistert wurden« (Heinrich 2011, 190) bis zur These, Marx selbst wäre nicht in der Lage gewesen, seine Werttheorie authentisch auszuformulieren. Die von Marx geschriebenen Texte seien »als Surrogat des ursprünglich geplanten Werks« (Backhaus 1997, 18) aufzufassen. Statt einer Zusammenfassung: Das Schweigen der Neuen Marx-Lektüre zum eigentlichen Anliegen von Marx »Andererseits, wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechende Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.« (MEW 42; 93) Die Aussagen der Neuen Marx-Lektüre zu dieser Thematik können nicht kritisiert werden – sie existieren einfach nicht.

Literatur
Altvater, Elmar, (2015) »Engels neu entdecken«, Hamburg
Backhaus, Hans-Georg, (1997) »Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Ökonomiekritik«, Freiburg
Bortkiewicz, Ladislaus von, (1976) »Wertrechnung und Preisrechnung im Marxschen System«, Gießen, Erstveröffentlichung 1907
Heinrich, Michael, (1999) »Die Wissenschaft vom Wert«, 2. überarbeitete Auflage, Münster
Heinrich, Michael, (2004) »Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung.«, Stuttgart
Heinrich, Michael, (2011) »Entstehungs- und Auflösungsgeschichte des Marxschen Kapital«, in: W. Bonefeld, M. Heinrich (Hg.) Kapital & Kritik, Hamburg, Seite 155–193
Heinrich, Michael, (2012) »Individuum, Personifikation und unpersönliche Herrschaft in Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie.« Quelle: http:// www.rote-ruhr-uni.com/ cms/ Individuum-Personifikation-und.html
Krätke, Michael, (WWW) »Das Marx-Engels-Problem: Warum Engels das Marxsche Kapital nicht verfälscht hat.« http:// www.das-kapital-lesen.de/wp-content/ uploads/2008/04/ kraetke_meproblem.pdf
Marx, Karl, (MEW 19) »Randglossen zu A. Wagners ›Lehrbuch der politischen Ökonomie‹« Seite 355–383
Marx, Karl, (MEW 23) »Das Kapital« Band 1, Berlin
Marx, Karl, (MEW 24) »Das Kapital« Band 2, Berlin
Marx, Karl, (MEW 25) »Das Kapital« Band 3, Berlin
Marx, Karl, (MEW 42) »Grundrisse der politischen Ökonomie«, Berlin
Mattick, Paul, (1971) »Marx und Keynes. Die Grenzen des gemischten Wirtschaftssystems«, Frankfurt am Main
Reichelt, Helmut, (2008) »Neue Marx-Lektüre. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Logik«, Hamburg
Reitter, Karl, (2015a) »Rubin, Backhaus und in Anschluss Heinrich – Wegbereiter der Neuen Marx-Lektüre. Oder was mit dem Vorwurf »Naturalismus«, an die Adresse von Marx eigentlich transportiert wird« in: Karl Reitter (Hg.) »Karl Marx – Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals? – zur Kritik der Neuen Marx-Lektüre«, Seite 119–152, Wien
Reitter, Karl, (Hg.), (2015) »Karl Marx – Philosoph der Befreiung oder Theoretiker des Kapitals? – zur Kritik der Neuen Marx-Lektüre«, Wien