„Krieg ist der Massenmord auf Befehl“

Rede von Bernd Drücke, gehalten am 4. Dezember 2023 auf der Kundgebung „Schutz und Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus Russland, Belarus und der Ukraine“

Um ein Ende der Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren in ihren Herkunftsstaaten zu fordern und den Druck auf die Bundesregierung und die EU zu erhöhen, geflüchtete Militärdienstpflichtige aufzunehmen, führten vom 4. Dezember über den „Internationalen Tag der Menschenrechte“ am 10. Dezember 2023 über 40 Friedensgruppen aus ganz Europa antimilitaristische Kundgebungen und Aktionen durch. Sie fordern Aufnahme und Schutz für alle, die sich dem Krieg in der Ukraine entziehen.

Die Aktions-Rundreise zur #ObjectWarCampaign (1) startete am 4. Dezember mit einer antimilitaristischen Kundgebung vor dem Rathaus des Westfälischen Friedens in Münster. Veranstaltet wurde sie unter anderem von der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienstgegner:innen (DFG-VK), Connection e.V. und der Redaktion der Graswurzelrevolution. Wir dokumentieren die dort vorgelesene Grußbotschaft des in Kiew unter Hausarrest stehenden Pazifisten Yurii Sheliazhenko (siehe Seite 16), und den für die GWR redaktionell überarbeiteten und ergänzten Redebeitrag (2) des GWR-Redakteurs. (GWR-Red.)
 

Die #ObjectWarCampaign ist eine internationale Kampagne für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer. Besonders von der Militarisierung betroffen sind die Menschen aus Russland, Belarus und der Ukraine. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 14. Februar 2022 haben mehr als 250.000 Kriegsdienstpflichtige Russland verlassen – sie wollen sich nicht am Massaker in der Ukraine beteiligen.

Aus der Ukraine sind seit Kriegsbeginn über 300.000 Kriegsdienstpflichtige vor der Einberufung geflohen – teilweise nach Deutschland. Schutz wird ihnen aktuell nur bis März 2025 gewährt.

Auch in Belarus gibt es tausende Kriegsdienstentzieher. Dort wurde jetzt die Todesstrafe für Deserteure eingeführt. Es sieht danach aus, dass die dortige Lukaschenko-Diktatur die direkte Kriegsteilnahme am Ukrainekrieg vorbereitet. Das verbrecherische belarussische Regime steht an der Seite des russischen Kriegsverbrechers Putin.

Unter Putin wurde Russland von einer Autokratie in eine Diktatur verwandelt. Das imperialistische Regime hat jetzt angekündigt, die Zahl der russischen Soldaten um 15 Prozent auf 1,3 Millionen zu erhöhen. Weitere 170.000 Männer aus der Russländischen Föderation sollen zum Kriegsdienst gezwungen werden.

Die Ukraine hat das Recht auf Kriegsdienstverweigerung 2022 ausgesetzt und nach eigenen Angaben mittlerweile 800.000 Männer unter Waffen. Männer zwischen 18 und 60 können die Ukraine nicht legal verlassen und werden zum Kriegsdienst gezwungen.

Die Menschen in der Ukraine erleben einen blutigen Krieg mit Hunderttausenden Toten auf beiden Seiten. Was bekommen wir hier davon mit? Eigentlich nur wenig. Wir erleben eine vom deutschen Verteidigungsminister propagierte „Kriegstauglich“-Machung der Gesellschaft, eine Remilitarisierung und Kriegspropaganda auf allen Kanälen. In den Talkshows des Landes sitzen Kriegspropagandist:innen, Waffenlobbyist:innen und Generäle, aber es kommen keine Antimilitarist:innen, keine Menschen aus der Friedensbewegung zu Wort. Auch Kriegs-gegner:innen, Pazifist:innen und Deserteure aus der Ukraine, Belarus und Russland sind in den deutschen Massenmedien kaum zu hören.

Das ist ein Skandal. Wir wollen, dass den Staaten die Mittel und das „Menschenmaterial“ für den Krieg entzogen wird. Von den über 250.000 Menschen, die seit Kriegsbeginn aus Russland geflohen sind, um sich dem Massenmord auf Kommando zu entziehen, konnten nur wenige in die Europäische Union fliehen. Die EU lässt Deserteure und Verweigerer meistens gar nicht erst über die Grenze. Georgien hat allein mehr russische Kriegsdienstentzieher aufgenommen als die gesamte EU.

Der deutsche Staat gewährt bisher nur einem Bruchteil der russischen Deserteure und Kriegsdienstverweigerer Asyl. Von Beginn des russischen Angriffskriegs bis September 2023 wurde nur 90 russischen Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern Asyl gewährt. Das sind nur 2,6 Prozent der über 3.500 eingegangenen Asylanträge kriegsdienstpflichtiger Russen. Das ist beschämend.

In der EU bekommen Deserteure in der Regel kein Asyl. Das ist ein politischer Skandal, gegen den wir hier heute demonstrieren.

Das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung ist noch immer nicht durchgesetzt. Selbst während eines Angriffskriegs, wenn Menschen fliehen, um sich nicht an einem Massaker zu beteiligen, wird ihnen in diesem Land kein Asyl gewährt. Das müssen wir ändern. Wir wollen, dass auch Menschen aus der Ukraine, aus Belarus und Russland den Kriegsdienst verweigern und ihr Land verlassen können. Wir wollen ihnen hier Schutz gewähren.
 

Wie endet dieser Krieg?
 

Der Krieg in der Ukraine ist seit vielen Monaten ein Stellungskrieg. Manchmal kommt die russische Armee ein paar hundert Meter voran, und dann kommt wieder die ukrainische Armee ein paar hundert Meter voran. Es ist eine Situation, wie wir sie aus dem Ersten Weltkrieg kennen, ein Stellungskrieg, wie ihn Millionen damals an der Westfront erlitten haben, mit unzähligen Opfern auf beiden Seiten.

Heute gibt es einen „Abnutzungskrieg“ an der „Ostfront“, mitten in der Ukraine. Es gibt zwei hochgerüstete Armeen, die beide ohne Skrupel völkerrechtswidrige Waffen einsetzen. Es werden sogar Streubomben eingesetzt. Das sind unfassbar grausame Waffen, die wegen ihrer oft Jahrzehnte andauernden verheerenden Wirkung von 110 Ländern geächtet wurden. Trotzdem setzen beide Kriegsparteien diese Waffen ein. Nicht nur der Aggressor Russland. Das heißt, dass ganze Gebiete mit Minen übersät und verseucht werden, dass sie vielleicht über Jahrzehnte kaum bewohnbar sind. Streumunition ist besonders fürchterlich. Aber auch die anderen Waffen wirken tödlich.

Es ist ein Menschenrecht und sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass allen Menschen, die sich dem Krieg entziehen wollen, Solidarität und Unterschlupf gewährt wird, dass sie unterstützt werden. Wenn den Armeen die Soldaten ausgehen, dann können sie auch keine Kriege mehr führen. Das hat auch der Erste Weltkrieg gezeigt. Also, die von Kriegsminister Boris Pistorius beklagte Kriegsmüdigkeit, das ist etwas, das wir anstreben müssen. Wir sollten dafür sorgen, dass auf allen Kriegsseiten Kriegsmüdigkeit entsteht, dass das entsteht, was zum Beispiel auch dazu beigetragen hat, dass die US-Armee den Vietnamkrieg beendet hat und aus Vietnam abgezogen worden ist. Der Vietnamkrieg wurde vor fünfzig Jahren auch deshalb beendet, weil in den westlichen Ländern, vor allem auch in der Hegemonialmacht USA, eine Antikriegsstimmung entstanden ist, weil immer mehr Menschen erkannten, dass der Krieg ein Massenmord ist.

Jeder Krieg, auch der Krieg in der Ukraine, ist ein Verbrechen an der Menschheit.

In der Ukraine werden seit fast zwei Jahren jeden Tag hunderte Menschen getötet.

Dabei verübt nicht nur der Aggressor Russland Kriegsverbrechen, sondern auch die ukrainische Armee. Die Verwüstungen passieren auf beiden Seiten und traumatisieren unzählige Kinder und Erwachsene. Wie wird der Krieg in der Ukraine enden?

Es ist wahrscheinlich, dass er ähnlich „enden“ wird wie der Koreakrieg. Der Koreakrieg war von 1950 bis 1953 ein Krieg mit Beteiligung der USA auf der einen und China und der Sowjetunion auf der anderen Seite. Dieser Krieg forderte fast vier Millionen Tote. Er wurde offiziell nie beendet. Seit 1953 gibt es einen Waffenstillstand. Zwischen Nord- und Südkorea liegt eine Demarkationslinie, auf beiden Seiten befinden sich stark aufgerüstete Armeen. Es gibt keinen Friedensvertrag, die Menschen aus Nord- und Südkorea können nicht zusammenkommen.

Die Staatsgrenzen sind ein Problem. Menschen, die jahrzehntelang zusammengelebt haben, können sich nicht mehr besuchen, weil sie sich durch die erzwungenen Grenzverschiebungen plötzlich auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs befinden.

Ähnliches erleben die Menschen in der Ukraine. Der von Putin angefangene imperialistische Krieg führt auch dazu, dass Familien auseinander gerissen werden, Menschen, die zusammengelebt haben, die jahrzehntelang miteinander befreundet waren, sollen nun auf Befehl aufeinander schießen, auf Befehl Menschen umbringen. Denn nichts anderes ist Krieg. Es ist der Massenmord auf Befehl. Und diesem Befehl sollten wir uns verweigern. Deshalb ist es unsere Aufgabe, alle Kriegsdienstverweigerer, alle Deserteure zu unterstützen, egal von welcher Kriegspartei. Deshalb stehen wir heute hier und demonstrieren für: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Asyl für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer!

 

Bernd Drücke

 

Anmerkungen:

1) Weitere Infos: www.objectwarcampaign.org

2) Die Rede wurde ohne Manuskript gehalten und von MünsterTube gefilmt: https://www.youtube.com/watch?v=KoxQgADv3Hc
 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 485, Januar 2024, www.graswurzel.net