Wer immer noch meint, dass Geheimdienste in demokratisch verfassten
Staaten eine Daseinsberechtigung, wohl gar eine Mission („Schutz der
Demokratie") zu erfüllen haben, der lese Peter-Ferdinand Kochs jüngst
erschienenes Buch „Enttarnt". Und wer sich davon nicht eines Besseren
belehren lässt, der darf fürderhin zu Recht das Gütesiegel „Unbelehrbar"
für sich in Anspruch nehmen, denn was der Autor da an
Geheimdienstgeschichte, -geschichten und -geschichtchen aus dem
deutschsprachigen Raum ausbreitet, ergibt ein wahrhaft gruseliges
Pandämonium.
Zu den besonderen Scheußlichkeiten zählt dabei der Sachverhalt, dass
sowohl die Organisation Gehlen wie auch der aus ihr hervorgegangene
Bundesnachrichtendienst (BND) ohne jegliche moralische Skrupel Personal
rekrutierten, das sich seine Qualifikation und seine beruflichen Meriten
in einschlägigen Körperschaften des Dritten Reiches erworben hatte, ob
sie nun Reichssicherheitshauptamt (RSHA), SD, Gestapo, Abwehr oder
anders hießen. In den 50er Jahren und darüber hinaus arbeiteten laut
Koch bis zu 200 ehemalige Angehörige des RSHA für die Organisation
Gehlen und den BND. Dazu gehörte zum Beispiel SS-Oberscharführer
Karl-Josef Silberbauer, nachmals Polizeiangehöriger in Wien, dessen Name
wohl längst in Vergessenheit geraten wäre, hätte er nicht als
SD-Scherge im August 1944 in Amsterdam Anne Frank und ihre Familie
verhaftet und der Mordmaschine des Holocaust überantwortet. Ironie der
Geschichte: Unter den in den BND integrierten Alt-Kadern waren auch
etliche, die zuvor in sowjetischer Gefangenschaft „umgedreht" worden
waren und nun für Moskauer Dienste arbeiteten. So Ex-SS-Obersturmführer
Heinz Felfe, beim BND zum Zeitpunkt seiner Enttarnung sinnigerweise
Leiter des Referats „Sowjetunion" („Gegenspionage"); ihm vertraute der
Gründer und erste BND-Chef Reinhard Gehlen - selbst ein Alt-Kader: von
1942 bis 1945 Chef der Abteilung „Fremde Heere Ost" des deutschen
Generalstabs - blind, und zwar so sehr, dass Gehlen andere
BND-Mitarbeiter, die Verdacht gegen Felfe äußerten, als „Landesverräter"
hinter Schloss und Riegel bringen ließ. Im Übrigen war der BND mit
seiner Praxis, bevorzugt ehemalige Nazis zu rekrutieren, kein
Ausnahmefall sondern eher die Regel; dazu Autor Koch: „SS-Angehörige,
Todesurteile fällende NS-Richter, Hitler vergötternde NS-Journalisten,
NS-Ärzte, NS-Offiziere oder NS-Bürokraten - die Bundesrepublik
Deutschland trat stillschweigend das braune Erbe an ..."
Kochs Buch ist eine aufschlussreiche Lektüre nicht zuletzt deshalb, weil er an Denkmälern rüttelt - etwa an dem des Magazins Spiegel als Flaggschiff des investigativen Journalismus in der Bundesrepublik. So hatte der Nimbus des Spiegel seinen
Ursprung in einer 1949/50 publizierten 29-teiligen Serie mit dem Titel
„Glanz und Elend der deutschen Kriminalpolizei". Das Material dafür
hatte im Wesentlichen der ehemalige SS-Hauptsturmführer Bernhard Wehner
geliefert, und die Serie selbst war weniger investigativ als vielmehr
ein Stück beschönigender Vergangenheitsbewältigung, denn es wurde
„zugleich nebenher ein... Teil der SS von ihren NS-Verbrechen
‚gereinigt'". Und das blieb kein singulärer Fall. Das Magazin
kooperierte mit weiteren Tätern aus der Nazi-Zeit oder eröffnete diesen
gar Chancen für eine Nachkriegskarriere. Als Informant agierte laut Koch
zum Beispiel auch SS-Brigadeführer Franz Alfred Six, im SD für
Propagandaaktionen in Sachen „Judenfrage" zuständig. Durch Six wiederum
kamen die SD-Kameraden und SS-Hauptsturmführer Horst Mahnke und Georg
Wolff zum Spiegel.
Der eine, Mahnke, schaffte es bis zum Ressortchef
Internationales/Panorama, der andere wurde Auslandschef und
stellvertretenden Chefredakteur des Magazins. Damit nicht genug: „Über
den Spiegel betrieben SS-Angehörige ihre öffentliche Rehabilitierung ..."
AuchSpiegel-Gründer
Rudolf Augstein selbst erwarb sich in diesem Zusammenhang höchst
zweifelhafte Meriten. Ernst Kaltenbrunner etwa, der Nachfolger Heydrichs
an der Spitze des RSHA und in Nürnberg als einer der
Hauptkriegsverbrecher gehängt, war in der Charakterisierung von Augstein
ein „Mann mit Manieren" und ein „glänzender Logiker". Zugleich
denunzierte der Spiegel Zeitgenossen,
die den Amerikanern beim Aufspüren von Nazi-Funktionsträgern behilflich
waren, und erreichte dabei, so Koch, „das Niveau des ‚Stürmer'".
Mit dem Vermögen zum Investigativen war es im Übrigen auch ein paar Jahre später noch nicht weit her. So brachte der Spiegel im
Jahre 1954 eine Titel-Story über Reinhard Gehlen. Im Vorfeld war es zu
einer von Mahnke vermittelten Begegnung zwischen Autor Hans Detlev
Becker und Gehlen gekommen, der sich nach der Veröffentlichung
ausdrücklich beim Autor bedankte. Der allerdings war Gehlens eigener
Legendenbildung so weit auf den Leim gegangen, dass sich der Spiegel viele
Jahre später von maßgeblichen Inhalten des betreffenden Beitrags quasi
selbst distanzierte - in einer Serie „Pullach intern", an der als
damaliger Spiegel-Redakteur auch Peter-Ferdinand Koch mitwirkte.
Apropos Spiegel und
Organisation Gehlen sowie BND: Praktisch bis weit in die 60er Jahre
hinein bediente und benutzte man sich gegenseitig. Dabei überließ Gehlen
nichts dem Zufall - Mahnke beispielsweise stand hauptberuflich auf
seiner Gehaltsliste. Kooperiert haben beide Seiten auch bei einem
Beitrag des damaligen Redakteurs und späteren Regierungssprechers Conrad
Ahlers mit dem Titel „Bedingt abwehrbereit" im Oktober 1962; der
Beitrag erschien erst, nachdem er vom BND abgesegnet worden war. Und er
löste die legendäre Spiegel-Affäre aus, die zu einer Razzia der Bundesanwaltschaft in der Spiegel-Redaktion,
zur Verhaftung von Ahlers und Augstein und nachfolgend zur ersten
Staatskrise der BRD und zum Sturz des damaligen Verteidigungsministers
Franz Josef Strauß führte. Die Affäre beförderte im Übrigen die Nähe des
Nachrichten-Magazins zum BND weiter: „Jeder Redakteur wollte mit
Pullach irgendwie verschmelzen, jeder. Denn nur dort gab es die ‚heißen
Geschichten'. Wer geheimdienstliches Material exklusiv in Händen hielt,
durfte fortan mit Gehaltserhöhungen rechnen."
Das andere Monument, an dem Autor Koch rüttelt, ist das des langjährigen
Chefs der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS (HVA), Markus Wolf. Der
habe bei der Rekrutierung von Top-Spionen, so im Fall des
Verfassungsschützers Klaus Kuron, keineswegs immer das ihm
zugeschriebene geheimdienstliche Genie gezeigt. Und Aufbau sowie
Leistungsfähigkeit der HVA schreibt Koch ganz wesentlich dem in der
Öffentlichkeit kaum bekannten Stellvertreter Wolfs, Hans Fruck, zu -
verurteilter kommunistischer Widerständler im Dritten Reich und
MfS-Führungskader der ersten Stunde. Fruck war auch der „Erfinder" der
„Kommerzielle Koordinierung" (KoKo) genannten Formation, die unter
Leitung von Alexander Schalck-Golodkowski für die DDR dringend benötigte
Devisen beschaffte und Geschäftspartner im Westen geheimdienstlich
abschöpfte: „Ein Konzept, das sich als nachrichtendienstlicher Klassiker
herausstellen sollte."
Als wenn auch nicht auslösendes, so doch verstärkendes Moment für die
geheimdienstliche Tätigkeit der DDR benennt Koch im Übrigen die
historische Entwicklung: „Mit Errichtung der DDR im Oktober 1949 fielen
antikommunistische Rechthaber aus dem Westen in Massen in den deutschen
Rumpfstaat ein, aufgestachelt von rund 50 geheimdienstlichen
Organisationen ... Sie alle wollten dasselbe: Ulbrichts Gebilde in die
Knie zwingen ... Die ‚Expansion' des MfS war lediglich die Reaktion auf
diese gigantische Invasion."
Peter-Ferdinand Koch: Enttarnt. Doppelagenten: Namen, Fakten, Beweise, Ecowin Verlag, Salzburg 2011, 472 S., 24,90 Euro