Hintergründe der Welternährungskrise

Carlo Morelli beleuchtet die Ursachen des Anstiegs der Lebensmittelpreise, die Auswirkungen des Klimawandels auf die weltweite Nahrungsmittelproduktion und erklärt, dass das grundsätzliche Problem in der nicht-nachhaltigen Organisation der industriellen Landwirtschaft liegt.

„Die Aufhebung der Korngesetze in Großbritannien 1846 – der Vorgänger der modernen Lebensmittelpolitik – wurde von einer Zunahme der Unruhen innerhalb der anwachsenden Städte der industrialisierten Wirtschaft begleitet. 1848 explodierten diese Unruhen in eine Serie von Revolutionen quer durch Westeuropa.“

Nicht oft warnt die Financial Times vor einer bevorstehenden Revolution, falls die Regierungen nicht handeln, um die Folgen des ungehinderten Marktkapitalismus einzudämmen; aber genau das hat Alan Beattie im April 2008 argumentiert.1

Die Führer der Welthandelsorganisation (WTO), des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der britische Premierminister Gordon Brown, um nur einige zu nennen, haben ähnliche Stellungnahmen wiederholt. Sie haben allen Grund zu warnen. Allein im April 2008 ereigneten sich Hungerrevolten in Mexiko, Haiti, der Elfenbeinküste, Guinea, Senegal, Mauretanien, Marokko, Ägypten, Jemen, Mosambique, Indien und Indonesien. Kasachstan, Ukraine, Russland, China, Indien, Vietnam, Kambodscha und Argentinien haben Einschränkungen für Exporte eingeführt. Selbst große US-Anbieter haben begonnen Reis zu rationieren. Schnell steigende Lebensmittelpreise destabilisieren große Teile der Welt, was das Leben von Milliarden Menschen beeinflusst. Die Grafik rechts zeigt, wie schnell die Lebensmittelpreise gestiegen sind, und der Preisanstieg wird wahrscheinlich anhalten. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) schreibt, dass die weltweiten Lebensmittelimporte im Jahr 2008 erstmals über eine Billion Dollar betragen, eine Steigerung um 20 Prozent zum Vorjahr. Die Importkosten der ärmsten Länder, diejenigen mit einem Lebensmitteldefizit, werden wahrscheinlich auf 169 Milliarden Dollar ansteigen, ein Anstieg um 40 Prozent. Und es ist „unwahrscheinlich, dass die Preise wieder auf den niedrigen Stand der Vorjahre sinken werden“.2

Lebensmittel-Preis-Index
Quelle: Food and Agriculture Organisation

119morelli1

Gegenwärtige Ursachen

Vier Hauptfaktoren verursachten die jüngsten Preissteigerungen:

• Zu wenig Regenfälle in Australien und zu viel Regen in Nordeuropa führten zu sinkenden Ernteerträgen. Dies deutet darauf hin, dass der Klimawandel einen Einfluss auf die geografische Verteilung der Lebensmittelproduktion hat.

• Der Großteil der US-Maisernte wurde für die Produktion von Biotreibstoffen verwendet, welche von Regierungssubventionen unterstützt wird. Das allein ist verantwortlich für ein Drittel des Anstiegs der Getreidepreise.

• Steigender Fleischkonsum der Mittelklasse in China und Indien ließ die Nachfrage nach Getreide für Tierfutter ansteigen.

• Jeder Anstieg der Öl- und Gaspreise erhöht auch die Landwirtschaftskosten, weil die Kosten des Transports, der Mechanisierung und der Pestizide und Stickstoffbasierten Düngemittel (welche mit energieintensiven Prozessen hergestellt werden) steigen.3 Das Unvermögen des Systems der weltweiten Lebensmittelproduktion, auf die gegenwärtigen Probleme zu reagieren, weist auf einen tieferen und längerfristigen Fehler im System hin. Während des 20. Jahrhunderts gab es immer einen Überschuss an Lebensmitteln auf der ganzen Welt; Hungersnöte resultierten aus falscher Verteilung, nicht aus mangelnder Produktion. Aber heute „sind die Getreidevorräte … auf einem 40-jährigen Tiefstand, das entspricht gerade mal 15 bis 20 Prozent der jährlichen Nachfrage“.4 Das bedeutet, dass klimabedingte Ernteausfälle in einer Region katastrophal für die ganze Welt werden können. Wir haben nun ein Problem mit der Produktion und nicht nur mit der Verteilung. Das beginnt mit der Organisation des kapitalistischen Marktes.

Wie der Markt die Lebensmittelversorgung bedroht

Steigende Lebensmittelpreise waren ein explizites Ziel und kein unwillkommenes Nebenprodukt der Liberalisierungwelle der Agrarmärkte in den letzten zwei Jahrzehnten. Der IWF schätzte 2006, dass die Importkosten für Netto-Lebensmittelimporteure um „300 Millionen auf 1,25 Milliarden Dollar wachsen werden, abhängig vom Grad der Liberalisierung“. 5 Die Weltbank erwartete, dass die vollständige Liberalisierung die internationalen Warenpreise durchschnittlich um 5,5 Prozent steigen lassen würde.6

Ein Schlüsselelement in den Strukturanpassungsprogrammen – welche durch den IWF seit den 1980ern in Entwicklungsländern durchgesetzt und vor kurzem in Armutsreduzierungsprogramme umbenannt wurden – war die Verlagerung der Ökonomien der Entwicklungsländer auf die Produktion von „cash crops“7 für den Weltmarkt. Die Entwicklungsländer könnten die Einnahmen dann zum Kauf von anderen billigen Lebensmitteln verwenden und so den Lebensstandard ihrer Bevölkerungen erhöhen.

Bis Ende der 1990er Jahre haben mehr als achtzig Entwicklungsländer diese Programme implementiert.8 Kaffee war ein solches „cash crop“. Im Jahr 2000 war es in mehr als achtzig Ländern verbreitet, bedeckte über 100.000 Quadratkilometer Land mit einem Ertrag von 5,7 Millionen Tonnen pro Jahr.9 Dasselbe passierte etwa mit Tabak in Malawi, Orangen in Brasilien, Baumwolle in Burkina Faso und Schnittblumen und Gemüse in Kenia. In jedem Fall ersetzte ein „cash crop“ in großen Teilen des Landes die Lebensmittelgrundlage für die örtliche Bevölkerung.

Die ökonomische Theorie der „komparativen Kostenvorteile“ untermauerte diesen Ansatz. „Wohlstandseffekte des Handels“ („gains from trade“) würden entstehen, wenn jede Ökonomie ihre Produktionsprozesse spezialisierte. Die Theorie ignoriert jedoch, wie der Markt tatsächlich funktioniert. Joseph Stiglitz, früherer Chef-Ökonom der Weltbank, kritisierte den Ansatz des IWF als „auf der veralteten Ansicht basierend, dass der Markt von selbst zu effizienten Ergebnissen führt.“10

Dominante Unternehmen sind in der Lage, ihre Marktmacht einzusetzen, um Gewinne auf Kosten schwächerer Akteure einzufahren. Eine Möglichkeit dafür ist, die strikte Kontrolle über die Lieferketten sicherzustellen. So kontrollierten Ende der 1990er Jahre sechs Firmen über 84 Prozent von Kenias Gemüseexport.11 Die fünf größten Handelsketten in Groß-britannien geben strenge Liefertermine, größere Produktuniformität und aufwändigere Verpackungsformen vor – diese Bedingungen können nur von großen, kapitalintensiven Unternehmen erfüllt werden. Diejenigen am unteren Ende der Lieferkette – die 15.000 KleinproduzentInnen, und unter ihnen die hunderten und tausenden Subsistenz-BäuerInnen und landlosen ArbeiterInnen, die das Gemüse für den Export liefern – erhalten für ihre Arbeit gerade mal genug Geld zum Überleben. Kapitalistische Akkumulation in der weltweiten Lebensmittelindustrie beinhaltet die Ausweitung und Intensivierung der Ausbeutungsstrategien auf der ganzen Welt.

Die schnelle Ausweitung des Anbaus von „cash crops“ führte über viele Jahre zu einem Überangebot von Waren und starken Preisschwankungen, die hauptsächlich die kleinen und mittleren Bauern und Bäuerinnen treffen. Die Kaffeeproduktion zum Beispiel wuchs in zwei Jahrzehnten bis 2004 doppelt so schnell wie der Konsum, und der Kaffeepreis fiel um zwei Drittel. Ähnliche Entwicklungen führten dazu, dass die Preise für alle Landwirtschaftsexporte bis Ende der 1990er auf niedrigem Niveau blieben.12 Die Märkte für „cash crops“ waren durch anarchische, unkoordinierte Investitionsmuster gekennzeichnet. Die Nutznießer sind Firmen, die am oberen Ende in der Lieferkette angesiedelt sind, und die den Angebotsmarkt beherrschen, die Preise diktieren und große Profite einfahren können. Wal-Mart, Tesco, Nestlé, Monsanto und Starbucks zeigen, wie gut Verarmung für das Geschäft in den 1990ern war.

Schließlich wurde erkannt, dass der Ansatz des IWF nicht zu Entwicklung führte, und die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von Nahrungsmittelhilfen und Weltbankkrediten zugenommen hat, statt abzunehmen. Die Dominanz des Big Business stellte jedoch sicher, dass die Schuld auf die immer noch bestehenden Restriktionen des Agrarmarktes und nicht auf die Liberalisierungsmaßnahmen geschoben wurde. Das Resultat war das „Übereinkommen zur Landwirtschaft“, welches aus den Verhandlungen der Uruguay-Runde des General Agreement on Tariffs and Trade (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen, GATT) im Jahr 1992, zusammen mit der Weltbank, entstanden ist. Darin wurde eine weitere Intensivierung des Prozesses der Marktliberalisierung durch die Reduzierung von Regierungssubventionen gefordert. Damit wurde beabsichtigt, dass die „Marktsignale“ noch stärker an die ProduzentInnen übertragen werden.13

Eine Antwort auf die gegenwärtige Krise der Lebensmittelpreise ist die noch stärkere Marktliberalisierung. Es ist jedoch nicht die Unfähigkeit der Ökonomien der Entwicklungsländer, auf die Marktsignale zu reagieren, sondern das Problem ist, dass der Markt selbst die Instabilität erzeugt.

Kapitalismus führt zu Armut

Bisher haben wir gesehen, dass Handelsliberalisierung zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise führen sollte und nicht dazu, sie zu senken. Ebenso sollten höhere Investitionen der landwirtschaftlichen Großbetriebe gefördert werden, sodass Großproduzenten den Hauptteil der „Wohlfahrtseffekte“ aus komparativen Vorteilen erhielten. Der Liberalisierungsansatz geht davon aus, dass die Zahl der ländlichen Armen nur reduziert werden kann, indem man sie aus der Landwirtschaft in die städtische Produktion transferiert. Das tatsächliche Ziel war also die Zerstörung der ländlichen Communities und die Entwicklung von großindustrieller Landwirtschaft. Im Bericht der Weltbank über die „Landwirtschaft für Entwicklung“ heißt es: „Landwirtschaftliches Wachstum war der Vorläufer der industriellen Revolution, die sich in den gemäßigten Zonen von England Mitte des 18. Jahrhunderts bis Japan im späten 19. Jahrhundert verbreitete. Ebenso war das schnelle Wachstum der Landwirtschaft in China, Indien und Vietnam in der jüngeren Vergangenheit der Vorläufer für den dortigen Aufbau der Industrie.“14 Demnach setzte die Industrielle Revolution die Vertreibung der Menschen vom Land voraus – durch die Einhegungen in England und Schottland. Genauso werden die landlosen ArbeiterInnen, Klein- und Subsistenzbauern und -bäuerinnen in den Entwicklungsländern als Hindernis für die ökonomische Entwicklung des globalen Südens gesehen. Schätzungen durch die UN im Jahr 2000 wiesen darauf hin, dass durch die Liberalisierungsmaßnahmen zwischen 20 und 30 Millionen Menschen ländliche Gebiete verlassen haben.15 Entwicklung heißt offenbar im engen kapitalistischen Rahmen der Ausbeutung von Lohnarbeit die Verarmung des Großteils der Bevölkerung, und dass eine kleine Minderheit von der extremen Polarisierung des Reichtums profitiert. Solch ein System ignoriert die Nachhaltigkeit sowohl in Hinblick auf die globalen Ressourcen als auch die Auswirkungen auf die Armen der Welt.

Sogar innerhalb der Logik des Kapitalismus liegt der primäre Grund für den Misserfolg der Entwicklungsländer nicht in der Struktur der landwirtschaftlichen Förderung und Unterstützung, sondern bei der Begrenzung des Exports der Entwicklungsländer in die entwickelten Länder. In der EU und den USA hat diese Art der Subventionierung noch größere Bedeutung. Hier werden die Großproduzenten seit mehr als einem halben Jahrhundert gefördert; direkte Zahlungen an die Landwirtschaft erreichten im Jahr 2003 235 Milliarden Dollar.16 Der landwirtschaftliche Sektor in den entwickelten Ländern wird seitdem die Entwicklungsländer zu mehr Liberalisierung gezwungen wurden nicht weniger, sondern noch stärker subventioniert.

Auch dort, wo die Entwicklungsländer ihren Anteil am Handel beibehalten konnten, wurde die Armut nicht verringert. Von 1990 bis 2005 – ein Zeitraum in dem der Welthandel um ca. 200 Prozent gestiegen ist – konnten Länder mit niedrigem Einkommen ihren Anteil am Export von landwirtschaftlichen Produkten bei 15 Prozent halten. Selbst Afrika, der Kontinent, dessen ökonomische Entwicklung weit hinter den meisten Entwicklungsländern zurückgefallen ist, konnte seinen Anteil von 3,4 Prozent am Weltexport halten. Während sich aber die Exporte der Entwicklungsländer von Fleischprodukten, Gemüse und Ölsaat mehr als verdreifacht haben, ist der heimische Konsum von Grundnahrungsmitteln seit den 1980ern annähernd gleich geblieben und der Lebensmittelimport von 7 auf 11 Prozent des Welthandels gestiegen, sodass die Entwicklungsländer ein Abladeplatz gestützter Exporte der Industrieländer geworden sind.17

Ernährungssicherheit, die Fähigkeit der Regierungen, die heimische Produktion von Grundnahrungsmittel zu schützen, ist kontinuierlich ausgehöhlt worden, sodass die Armen der Welt den Schwankungen der Lebensmittelpreise immer stärker ausgesetzt wurden. Das Problem des Lebensmittelmarktes ist nicht, dass die Marktsignale nicht auf die Entwicklungsländer durchschlagen, sondern die unkontrollierbaren Ergebnisse dieser Signale. Marktsignale stellen Informationen über die gegenwärtigen Preise bereit, aber sie bieten keinen Mechanismus zur Koordination und Planung für die Zukunft. Als die Lebensmittelpreise niedrig waren, gab es so gut wie keine Investitionsmöglichkeiten für kleine und mittlere Bauern und Bäuerinnen, die die Grundlage der Lebensmittelversorgung in den meisten Entwicklungsländern sichern. Die Ausweitung der Marktmechanismen bedeutet, dass Bauern und Bäuerinnen selbst abhängig davon werden, bestimmte Lebensmittel zu kaufen. Zusätzlich müssen sie auch mehr für landwirtschaftliche Produktionsmittel bezahlen – Düngemittel, Pestizide und Kraftstoffe: „Als sich der Preis von Reis in den letzten Monaten verdoppelte, hatten die meisten Farmer nur wenig davon – selbst in Vietnam, dem zweitgrößten Reisexporteur der Welt. Ihre Einnahmen sind gewachsen, aber ebenso die Kosten – vor allem für Düngemittel, derem Preis eng an die Energiepreise gebunden ist. Kraftstoffe, die benötigt werden um Wasser in die Reisfelder zu pumpen und ihre Ernte zu transportieren, sind ein weiterer schnell wachsender Kostenfaktor. In Gesprächen in ganz Vietnam berichten Bauern und Bäuerinnen ausnahmslos, dass sich ihre Kosten seit dem letzten Jahr verdoppelt haben, was eine Einkommenssteigerung trotz der ansteigenden Preise für Reis auf den heimischen und den Weltmärkten unmöglich machte.“18 Unabhängig davon, ob Lebensmittelpreise hoch oder niedrig sind, die Millionen Kleinbauern und -bäuerinnen der Welt sind dazu verdammt, unter dem jetzigen System zu leiden.

Spekulation und Preise

Das Leiden sowohl der Kleinbauern und -bäuerinnen als auch derjenigen, die von ihren Produkten abhängig sind, wird durch einen weiteren Faktor verschärft: die Spekulation. Warenmärkte für Lebensmittel funktionieren jetzt genauso wie andere Märkte. Jede Warengruppe hat Börsen für Termingeschäfte (futures, hedging, price guarantees). ZwischenhändlerInnen, große Handelskonzerne und Firmen nutzen Prognosen, um Risiken zu minimieren; dadurch glaubt man, einen Mechanismus zur Stabilisierung der Preise gefunden zu haben. Aber Warenbörsen tun noch einiges mehr: sie befördern Spekulationen stärker als produktive Investitionen. Spekulation beruht auf der Fähigkeit, Markttrends zu erkennen und kurzfristige Käufe und Verkäufe zu nutzen um in bestimmten Märkten zu bestimmten Zeitpunkten hohe Renditen zu erzielen. Diese spekulativen Investitionen können hochgradig destabilisierende Effekte auf die Märkte haben. Der Zusammenbruch der „dotcom“-Spekulationsblase, und später der Immobilien- und Banken-Spekulationsblasen, haben die Möglichkeiten für spekulative Investitionen auf kurzfristigen Märkten drastisch eingeschränkt. Man richtete die Aufmerksamkeit auf Warenmärkte – Lebensmittel eingeschlossen – um zukünftige Lieferungen zu kaufen, in der Annahme, dass deren Preise mit Sicherheit steigen würden; und genau dadurch werden die Preise weiter nach oben getrieben. Die Financial Times berichtete: „Institutionelle und private Investitionen in Waren sind nach oben geschossen – angelockt durch Recherchen, die zeigen, dass Waren den Wertpapierbestand diversifizieren können; und durch „performing-chasing“ [Jagd nach der besten Wertentwicklung] fließt Geld in Sektoren, die Geld machen. Laut dem Unternehmensberater Philip Verleger hat sich die Höhe der Investionen auf diesem Wege verfünffacht – auf ungefähr 250 Milliarden Dollar in nur drei Jahren.“19

„Der Umfang der Spekulationen ist steil angestiegen. Seit 2003, so Stanley Morgan, sind Getreide-Termingeschäfte von 500.000 auf knapp 2,5 Millionen Verträge gestiegen … Mehr spekulatives Geld wird hineinfließen und wird dadurch selbst eine größere Rolle beim Preisanstieg spielen. Und – natürlich – mehr Menschen in den ärmsten Ländern werden hungern.“20

Laut IWF sind Spekulationen zwar nicht die Ursache des Preisanstiegs, aber sobald die Preise steigen, fließen spekulative Investitionen in den Markt.21 Wie neuartig diese Spekulation ist, kann an nachstehender Tabelle abgelesen werden:

Tab. 1: ausgewählte Warenpreise (2005 = 100%)
Quelle: IWF

Während sich die Preise aller Rohstoffe zwischen 1998 und 2005 verdoppelten, stiegen die Lebensmittelpreise nur unwesentlich von 92 auf 100 Prozent; aber seit 2005 steigen die Preise sehr viel schneller als zuvor. Doch die verheerenden Auswirkungen der Spekulation sind nur in Zusammenhang mit den tiefer greifenden Veränderungen des Welternährungssystems zu verstehen.

Horror-Szenarien

Wenn die gegenwärtige Lebensmittelkrise durch die Unkontrollierbarkeit der Marktmechanismen verursacht ist, wie sehen dann die langfristigen Perspektiven aus?

Es gibt zwei weit verbreitete Ansichten. Die eine ist, dass der derzeitige Anstieg der Lebensmittelpreise mit dem letzten großen Anstieg von 1972/73 vergleichbar ist. Damals fiel ein plötzlicher Anstieg der Nachfrage für Getreide aufgrund eines kurzen weltweiten Booms mit dem Eintritt der UdSSR in den Getreideweltmarkt wegen eigener Ernteengpässe zusammen. Die steigenden Lebensmittelpreise trugen zur weltweiten Inflation bei, ebbten aber in den späten 1970er Jahren ab und fielen dann über einen langen Zeitraum im Vergleich zu anderen Preisen. Aus dieser Sicht mögen die gegenwärtigen Preissteigerungen zwar verheerende Konsequenzen zeitigen und dazu führen, dass bis zu 100 Millionen Menschen hungern, weil die Weltbehörden unfähig sind, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Aber die Katastrophe würde nur einige Jahre dauern.

Die andere Position zeichnet ein Horror-Szenario.22 Sie behauptet, dass die gegenwärtige Krise auf die Erschöpfung der neuen Mittel zur Steigerung der Getreideerträge verweist, die die Lebensmittelpreiskrise in den 1970ern bewältigten. Diese Methoden, oft als „Grüne Revolution“ bezeichnet, basierten auf der Nutzung neuer, produktiverer Getreidesorten, kombiniert mit einem enorm gesteigerten Gebrauch von Düngemitteln und künstlicher Wasserversorgung. Heute nutzt China 40 Millionen Tonnen Düngemittel pro Jahr, die USA 19 Millionen und Indien 16 Millionen Tonnen. Im Ergebnis war die weltweite Getreideproduktion 2004 – ca. 2 Milliarden Tonnen – drei mal höher als in den 1950ern und gleichzeitig stieg der durchschnittliche Konsum pro Kopf trotz Bevölkerungswachstum um 24 Prozent. Das verbannte das Gespenst der Hungersnot und des Hungertods (im Gegensatz zu der verbreiteten Unternährung) für mehr als eine Generation aus China und Indien.

Aber die „Grüne Revolution“ hat nun laut einem Bericht des International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (Weltlandwirtschaftsrat, IAASTD) aus dem Jahr 2008 ein „Plateau“ erreicht.23 Die weltweiten Anbauflächen, die für Lebensmittel verwendet werden, vergrößern sich nicht und die Getreideproduktion kann mit dem Bevölkerungswachstum in Asien gerade noch mithalten, während die Lage in Afrika noch schlimmer ist. Der letzte Weltentwicklungsreport der Weltbank räumt ein, dass die konventionellen Strategien in dieser Hinsicht versagen: „Viele Länder, deren Ökonomien auf Landwirtschaft basieren, weisen noch ein schwaches pro-Kopf Wachstum und wenig strukturelle Veränderungen auf… Dasselbe gilt für riesige Flächen in unterschiedlichen Ländern. Schnelles Bevölkerungswachstum, immer kleinere Landwirtschaftsbetriebe, sinkende Fruchtbarkeit des Bodens, und geringe Möglichkeiten zur Einkommensdiversifizierung und Migration schaffen Notlagen, da die Landwirtschaft nur wenig Kraft zur Entwicklung hat. Maßnahmen, die die Landwirtschaft extrem besteuern und Investitionen erschweren sind Schuld und Ausdruck einer politischen Ökonomie, in der städtische Interessen die Oberhand haben. Verglichen mit erfolgreichen Schwellenländern zu dem Zeitpunkt, als diese noch einen hohen landwirtschaftlichen Anteil am BIP aufwiesen, ist der Anteil der Staatsausgaben für Landwirtschaft in heutigen agrarbasierten Entwicklungsländern um einiges geringer (4 Prozent 2004 im Vergleich zu 10 Prozent 1980).“24

Die Chancen, dass das Horror-Szenario eintritt, könnten durch den Klimawandel wachsen, der voraussichtlich die Lebensmittelproduktion in den am dichtesten bevölkerten Teilen der Welt am stärksten treffen wird. Die Klimawandelmodelle sind sehr problematisch, besonders wenn sie auf die Landwirtschaft angewandt werden, müssen doch Annahmen in Bezug auf zukünftige Landnutzung, Produktionswachstum, Konsummuster und Veränderungen in der Bevölkerung in Betracht gezogen werden. Trotzdem legen Modellvorhersagen nahe, dass der vom Intergovernmental Panel on Climate Change (Weltklimarat, IPCC) geschätzte Anstieg der Temperaturen um vier Grad zu einer Verringerung der durchschnittlichen landwirtschaftlichen Erträge und zu dramatischen Veränderungen in der Verteilung des landwirtschaftlichen Outputs führen könnte, wenn das Vordringen der Wüste in den äquatornahen Regionen durchschlägt. Eine Studie sagt voraus, dass sich ohne den Klimawandel die Getreideproduktion bis 2080 verdoppeln würde. Den Klimawandel miteingerechnet müsste das prognostizierte Produktionsvolumen nur um 0,6 bis 0,9 Prozent weltweit reduziert werden. Während in diesem Szenario aber die Produktion in den meisten der entwickelten Länder steigt, würde die Produktion in Afrika, Ostasien und Südasien fallen; möglicherweise um bis zu 20 Prozent in Südasien.25 Natürlich kann die Genauigkeit der einzelnen in den Studien angewandten Modelle diskutiert werden, aber mit aller Wahrscheinlichkeit werden die Kosten des Klimawandels disproportional von den ärmsten Teilen der Weltbevölkerung getragen werden.26 Zu diesem Problem kommt noch die Verwendung von Land für die Produktion von Biotreibstoffen hinzu. Nichts ist charakteristischer für die Anarchie der Marktmechanismen als die Begeisterung für Bioreibstoffe. Von Brasilien bis Indonesien werden Regenwälder zerstört, um für Plantagen Platz zu schaffen. Regenwälder werden niedergebrannt und der Boden ausgelaugt für die Produktion eines Kraftstoffs, der den Verbrauch an Kohlenstoff verringern soll. Ebenso sichert die Unterstützung der US-Regierung für Ethanol als Biotreibstoff die meisten Subventionen für die industrielle Entwicklung und damit die Verlagerung des Maisanbaus aus der Lebensmittel- in die Ethanol-Produktion.

Biotreibstoffe werden als eine Strategie gegen den Klimawandel angepriesen, doch für eine nachhaltige Entwicklung sind diese keine ausreichende Lösung. Der Klimawandel kann nicht einfach durch den Ersatz einer Form der Kohlenstoffnutzung durch eine andere bekämpft werden, sondern durch Ansätze, die die gesellschaftliche Kohlenstoffnutzung insgesamt in Frage stellen. Die Motivation der Bush-Administration war nicht, den Klimawandel zu stoppen, sondern die Sicherung der Energieversorgung des US-Kapitalismus. Es wird erwartet, dass die Produktion von Biotreibstoffen gegenüber der Erdöl-basierten Treibstoff-Produktion profitabel wird, wenn der Ölpreis 60 Dollar pro Barrel übersteigt. In kapitalistischen Kreisen setzt sich zunehmend die Ansicht durch, dass die Ölproduktion weltweit eine Spitze erreicht hat (Peak Oil) und dass der Ölpreis über diesem Level bleiben wird. Das führt dazu, dass im Jahr 2008 ein noch größerer Anteil des US-Maisanbaus für Biokraftstoffproduktion aufgewandt wurde als im Jahr zuvor. Insgesamt wird geschätzt, dass die Nutzung von Getreide für Biokraftstoff für ungefähr 30 Prozent des Anstiegs der Getreidepreise in den letzten fünf Jahren verantwortlich ist.27

Die hohen Ölpreise sind daher eine doppelte Bedrohung für die Lebensmittelproduktion und -preise. Auf der einen Seite steigen die Kosten für Kraftstoff und Düngemittel für die Landwirtschaft, wodurch es viel schwieriger wird, die Erträge mit den Methoden der letzten vier Jahrzehnte zu steigern. Auf der anderen Seite werden Anbauflächen statt für Lebensmittel für Biotreibstoffproduktion genutzt. Beide Trends verschlimmern die gefährlichen Auswirkungen des Klimawandels auf die zukünftige Lebensmittelversorgung. Das ist der furchtbare Preis, den die Menschheit für die Abhängigkeit des Kapitalismus von Kohlenstoff zu bezahlen riskiert – selbst wenn die Düngemittelproduktion selbst nur ungefähr ein Prozent der globalen Energie verbraucht.28

Der IWF weist darauf hin, dass sich der Bedarf an Lebensmitteln bis 2080 verdreifachen könnte, was das Angebot übersteigen und zu chronischen Engpässen führen würde.

Obwohl sie das nicht sagen, wäre das das katastrophale Ergebnis kapitalistischer Akkumulationsstrategien. Im Gegensatz dazu weisen Tubiello und Fischer darauf hin, dass, wenn der Klimawandel aufgehalten werden kann, selbst im „schlimmsten Fall“ einer Verdopplung der Weltbevölkerung die Lebensmittelreserven 2080 immer noch 12 Milliarden Menschen ausreichend versorgt werden können.29

Klar scheint, dass das gegenwärtige Vertrauen auf industrielle Landwirtschaft, die Nutzung von Monokulturen und ölbasierten Düngemitteln und der intensive Einsatz von Wasser zur Ausweitung der Lebensmittelproduktion zusehends unhaltbarer wird. Die Berichte der Weltbank und des IAASTD akzeptieren beides zur Hälfte. Sie betonen den Bedarf für mehr landwirtschaftliche Investitionen, die auf die Millionen von kleinen, arbeitsintensiven Betrieben gerichtet sind, achten auf den Wasserverbrauch, den Ersatz von künstlichen durch organische Düngemittel sowie Vorbeugungsmaßnahmen gegen weitere Schädigung des Bodens. Und sie beklagen das Versagen der Regierungen, Finanzmittel dafür bereitzustellen. Aber ihr Bekenntnis zum Kapitalismus bedeutet, dass sie ihren eigenen Einsichten den Rücken kehren und weiterhin „cash crops“ sowie das Wachstum von industriell-kapitalistischen Landwirtschaftsbetrieben auf Kosten der Armen und deren Versorgung mit Grundnahrungsmitteln fordern.

Unter dem gegenwärtigen Modell der kapitalistischen Lebensmittelproduktion ist die Befriedigung der Nachfrage der Menschen nach Nahrungsmitteln zunehmend bedroht. Falls dieses Szenario Realität wird, wurde es nicht durch Überbevölkerung verursacht, wie Malthus behauptet hatte, sondern durch das Versagen der kapitalistischen Produktionsweise. Der Kapitalismus hat seine Destruktivität in der Lebensmittelproduktion durch zerstörerische und nicht-nachhaltige Formen ökonomischer Entwicklung bewiesen.

Ohne Zweifel beruht der gegenwärtige Preisanstieg, mit der Gefahr, dass Millionen verhungern, auf einer besonders grausamen Version des kapitalistischen Kreislaufes von Auf- und Abschwüngen. Und mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Bedrohung der Welternährungssicherheit andauern, auch wenn die aktuelle Krise letztlich überwunden werden kann. Eine wirklich nachhaltige Lebensmittelproduktion bedarf der demokratischen Kontrolle durch die Weltbevölkerung.

Anmerkungen

1 Beattie, Alan: Governments Can No Longer Ignore the Cries of the Hungry; in: Financial Times, 5. April 2008
2 FAO: Food Outlook (Mai 2008), www.fao.org/docrep/010/ai466e/ai-466eoo.htm
3 Für eine detaillierte Aufzählung der Verbindungen zwischen Energie und Düngemittelkosten siehe auch Walker, David: Energy and Fertiliser Costs; in: MI Prospects 8:19 (2006), www.hgca.com/imprima/miprospects/vol08Issue19/minisite/Vol08Issue19.pdf
4 Financial System Faces Commodity-led Crisis; in: Financial Times, 5.März 2008
5 IWF: World Economic Outlook (September 2006), www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2006/02, Kapitel 5, Kasten 5.2
6 Weltbank: World Development Report 2008: Agriculture for Development (2007), http://go.worldbank.org/ZJIAOSUFUo, S. 11
7 „Cash Crops“ bezeichnen Agrarprodukte, die für den Export bestimmt sind und meist in Monokulturen angebaut werden. Sie werden vor allem in den ehemaligen Kolonialländern Südamerikas und Afrikas angebaut und dienen nicht der Selbstversorgung (Food Crops) des Landes. (A. d. Ü.)
8 Madeley, John: Hungry for Trade (2000), S. 58
9 Hellin, John/ Higman, Sophie: Feeding the Market: South American farmers, Trade an Globalisation (2003), S. 36
10 Stiglitz, Joseph: Globalisation and its Discontents (2002), S. XII
11 Dolan, Catherine/ Humphrey, John: Changing Governance Patterns in the Trade in Fresh Vegetables between Africa and the United Kingdom; in: Environment and Planning A 36:3 (2004)
12 Hellin/ Higman, a.a.O., S. 36-37
13 Morelli, Carlo: The politics of food; in: International Socialism 101 (2003), www.isj.org.uk/index.php4?id=36
14 Weltbank, a.a.O.
15 Madeley, a.a.O., S. 75
16 Nash, John: Agriculture Trade: Reaping a Rich Harvest from Doha; in: Finance and Development 41 (2004), www.imf.org/external/pubs/ft/fandd/2004/12/pdf/picture.pdf, S. 34
17 Welbank, a.a.O., Grafik 6
18 Vietnam’s Farmers Face Paradox Of The Paddy; in: Globe Mail, 1. Mai 2008; siehe auch Rice Prices To Benefit Asian Farmers; in: Financial Times, 29. April 2008
19 Classic Films Shed Light On Commodities Boom; in: Financial Times, 9. Mai 2008
20 Speculators Feast On Soaring Commodities; in: Financial Times, 12.Mai 2008
21 Es sollte hinzugefügt werden, dass die Forschung des IWF die historische Bewegung der Preise untersucht hat, nicht die rasanten Preisentwicklungen der letzten Jahre, sodass selbst ihre begrenzte Ablehnung von Spekulation nicht länger haltbar sein könnte.
22 Für eine extreme Version dieser Ansicht siehe auch Pfeiffer, Dale Allen: Eating fossil fuels; in: From the Wilderness (2004), www.fromthewilderness.com/free/ww3/100303_eating_oil.html, welche durch die StudentInnenkampagne „People and Planet“ und andere in Umlauf gebracht wurde.
23 Feldman, Shelley/ Nathan, Dev/ Raina, Rafeswari/ Yang, Hong: International Assessment of Agricultural Knowledge, Science an Technology for Development, East and South Asia and Pacific: Summary for Decision Makers, IAASTD (2008), www.agassessment.org/docs/ESAP_SDM_220408_Final.pdf
24 Weltbank, a.a.O., S. 7
25 Tubiello, Francesco/ Fischer, Günther: Reducing Climate Change Impacts on Agriculture: Global and Regional Effects of Mitigation, 2000-2080; in: Technological Forecasting and Social Change 74 (2007), http://pubs.giss.nasa.gov/docs/2007/2007_Tubiello_Fischer.pdf
26 Diese Schlussfolgerung stimmt mit der IWF-Analyse überein. Siehe Cline, William: Global Warming and Agriculture; in: Finance an Development 45:1 (2008), www.imf.org/external/pubs/ft/fandd/2008/03/cline.htm
27 Rosegrant, Mark W.: Biofuels and Grain Prices: Impacts and Policy Responses, International Food Policy Research Institute, Testimony for the US Senate Committee on Homeland Security and Governmental Affairs, 7.Mai 2008, www.ifpri.org/pubs/ testimony/rosegrant20080507.pdf
28 Schrock, Richard: Nitrogen Fix; in: MIT Technology Review (Mai 2006), http://www.technologyreview.com/article/16822/
29 Cline, a.a.O.; Tubiello/ Fischer, a.a.O.

Zuerst erschienen in: International Socialism 119 (2008)
Carlo Morelli lehrt Wirtschaftsgeschichte an der University of
Dundee
in Schottland.

Übersetzung: Karin Hädicke