Sozialismus in einer Stadt?

Bis heute sind das Rote Wien der Zwischenkriegszeit und die damit verbundenen austromarxistischen Positionen emphatische Bezugspunkte der Sozialdemokratie. Benjamin Opratko und Stefan Probst stellen den „roten Traum“ in Frage, indem sie die historischen Bedingungen der Politik des Roten Wien sowie die theoretischen Prämissen des Austromarxismus offenlegen.

Zwischen 19. und 26. April 1931 war das neu errichtete Wiener Prater-Stadion Schauplatz einer gigantischen Inszenierung sozialdemokratischer Symbolpolitik. Anlässlich der zweiten Internationalen Arbeiterolympiade waren mehrere zehntausend ArbeitersportlerInnen aus 19 Ländern der Sozialistischen Arbeitersport-Internationalen nach Wien gepilgert, um die Hauptstadt der Republik in eine Manifestation proletarischer Kollektivität und Stärke zu verwandeln. Während der Aufmarsch von 100.000 disziplinierten ArbeiterInnen über die Ringstraße zum Stadion offensichtlich den Charakter einer Militärparade annahm, der die Entschlossenheit des Wiener Proletariats bezeugen sollte, bildete ein gigantomanisches historisches Spektakel den Höhepunkt des begleitenden Kulturprogramms. Dabei eigneten sich insgesamt 4.000 sozialdemokratische TurnerInnen, MusikerInnen, SängerInnen und AktivistInnen der Roten Falken und der Sozialdemokratischen Arbeiterjugend in Blauhemden das Spielfeld als riesige Theaterbühne an, um in einer guten Stunde die Geschichte der arbeitenden Massen und ihrer Kämpfe vom Mittelalter bis zum Industriekapitalismus samt Soundeffekten und Requisiten nachzuspielen. Die Choreographie mündete schließlich in den symbolischen Sturz einer vergoldeten Statue, die den Kapitalismus repräsentierte, und einen Eid, in dem zehntausende ZuseherInnen ihre Loyalität zu den Idealen des Sozialismus einer Lautsprecherstimme nachbeteten. In den Überlegungen sozialdemokratischer Parteiführer verfolgten Massenspektakel dieser Art in erster Linie den Zweck, den Massen ein Gefühl symbolischer Stärke und Solidarität zu injizieren und sie emotional stärker an Partei und Bewegung zu binden. So sehr sich die sozialdemokratische Presse dementsprechend von der Symbolwirkung der proletarischen Festspiele begeistert zeigte, so sehr täuschte die Inszenierung jedoch darüber hinweg, wie stark sozialdemokratische Politik in den späten 1920ern und frühen 1930ern bereits auf ein hohles Schattentheater reduziert worden war. Zwei Monate zuvor hatten die steirischen Heimwehren unter Walter Pfrimer ihren ersten Putschversuch gestartet, der zwar an internen Uneinigkeiten scheiterte, aber als deutliches Zeichen zunehmender Stärke faschistischer Bewegungen ernst genommen werden musste. Angesichts dessen war die Inszenierung im Wiener Prater kaum mehr als ein groß angelegtes Theater der Illusionen, in dem, in den Worten des Historikers Helmut Gruber, „die Macht, den kapitalistischen Götzen zu stürzen, nichts anderes war als ein magisches Blendwerk innerhalb der geschützten Betonmauern des Wiener Stadions.“1 Ohne realpolitische Strategien in konkreten Kämpfen konnten Massenaufmärsche, Feste und Beschwörungen proletarischer Einheit wenig mehr sein als ritualisierte Bezeugungen symbolischer Stärke, die abstrakte Heilsversprechen einer besseren Zukunft mobilisierten, politisch aber inhaltsleer blieben und letztlich allein zur Ästhetisierung der Politik und Kontrolle der Massen beitrugen. Das Spektakel des Juli 1931, in dem Präsenz durch Fahnen, Slogans, Blauhemden usw. demonstriert wurde, verdeckt die Paralyse und strategische Sackgasse sozialdemokratischer Politik und markiert somit auch das Scheitern eines der faszinierendsten Experimente eines „kommunalen Sozialismus“ in der neueren europäischen Geschichte. Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, dass die Kultur- und Bildungspolitik der Wiener Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit als großangelegte Erziehungsstrategie und spezifische Version eines bürgerlichen Modernisierungsprojekts gedeutet werden kann. Zweitens schlagen wir vor, dieses Experiment, das als Rotes Wien zeitgenössische BeobachterInnen begeisterte und bis heute in der sozialdemokratischen Linken romantisiert wird, als Produkt einer historischen Niederlage zu verstehen. Die Politik des Roten Wien gründete auf einer besonderen Lesart marxistischer Theorie, die wir in einem weiteren Schritt kritisch darstellen. Zuletzt fragen wir, was vom Austromarxismus als Theorie und dem Roten Wien als politisch-praktischem Projekt übrig bleibt. “Antizipatorischer Sozialismus” Arbeitersport und Massenfeste bildeten nur einen – und beileibe nicht den wichtigsten – Teil des umfassenden kulturpolitischen Projekts der Wiener Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit, das im Roten Wien den „Sozialismus in einer Stadt“ zu verwirklichen suchte, als Vorwegnahme einer besseren Zukunft und Konkretisierung einer kulturellen Utopie. Dreh- und Angelpunkt dieses Projekts war die Heranbildung „Neuer Menschen“.2 Über ein weitverzweigtes, engmaschiges Geflecht aus Kultur- und Sportorganisationen sollten die ArbeiterInnen emotional, politisch und kulturell an sozialistische Werthaltungen herangeführt und mittels kulturpolitischer Initiativen (Zeitungen, Theater, Konzerte, Bibliotheken) im Geiste des Sozialismus erzogen werden. 1931/32 waren mehr als 400.000 Menschen in diesem Netzwerk sozialdemokratischer Kulturvereine organisiert. Bisweilen trieben diese Anstrengungen recht seltsame Blüten. Der Beitrag der 2.000 im Zentralverband der Arbeiter-Mandolinenorchester organisierten WienerInnen zum zivilisatorischen Projekt der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei dürfte jedenfalls als ebenso gering zu veranschlagen sein wie jener des Bunds der Arbeiter-Alpinen, Trachtenerhaltungs- und Volkstänzervereine oder des Arbeiter-Feuerbestattungsvereins „Die Flamme“. Zentral für die sozialdemokratische Erziehungsmission war aber die Verschmelzung wohlfahrtsstaatlicher und pädagogischer Initiativen zu einem großangelegten Projekt des social engineering3. So dienten etwa die neu errichteten Gemeindebauten nie allein der Linderung der akuten Wohnungsnot, sondern sollten zugleich als architektonische Verwirklichung pädagogischer und zivilisatorischer Ideale, als „materieller Ausdruck der politischen wie (massen-)kulturellen Intentionen der sozialdemokratischen Gemeindeverwaltung“4 fungieren. Der physische Kontext einer bestimmten Form des Wohnens spielte im kulturpolitischen Projekt eine organisierende Rolle zur Herausbildung „ordentlicher Arbeiterfamilien“: „Die ‚Volkswohnpaläste‘ sollten von Beginn an mehr sein als bessere Wohnungen. Sie sollten jene Umwelt bereiten, in denen die proletarische Familie als ordentlich sozialisiert und durch die entstehende Parteikultur in Richtung ‚Neuer Menschen‘ erzogen würde.“5 Dementsprechend streng reglementiert gestaltete sich das proletarische Leben im Gemeindebau. Die Hausverwaltung bestimmte, wann und wo Teppiche geklopft und Abfall entsorgt werden durfte, wo und wie Kinder im Hof spielen durften, kontrollierte den Zutritt zu den Waschräumen, überwachte die Ordnung in Gängen, Kellern und Balkonen und inspizierte die Sauberkeit der Wohnungen. Überall und jederzeit waren die MieterInnen der Gemeindewohnungen mit Strukturen, Räumen, Einrichtungen und Regeln konfrontiert, die „für sie“ entworfen waren, deren Ausgestaltung aber von den Betroffenen selbst kaum beeinflusst werden konnte. Ähnlich paternalistische Überzeugungen waren dem städtischen Fürsorgewesen eingeschrieben, das mit den Mitteln moderner Sozialtechnologie möglichst optimale Sozialisationsbedingungen organisieren sollte. Ein dichtes Netz fürsorgerischer Institutionen und Maßnahmen sicherte den erzieherischen Zugriff auf das Proletariat. Über Hausbesuche von FürsorgerInnen wurden die „ordentlichen“ Verhältnisse im ArbeiterInnenhaushalt (sanitäre Standards, elterliches Erziehungsverhalten) überwacht. Dass solche Initiativen überwiegend familienbezogen waren und auf die Hebung der Geburtenrate zielten, sei hier ebenso nur am Rande erwähnt wie die damit verbundenen sozialeugenischen Visionen etwa des Stadtrats für Wohlfahrtspflege Julius Tandler. Bürgerliche Sozialreform Gerade in diesen pädagogischen und kulturpolitischen Dimensionen, die das Rote Wien von anderen wohlfahrtsstaatlich inspirierten Kommunalpolitiken abhebt, ähnelt das sozialdemokratische Experiment der Zwischenkriegszeit nun aber jenen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weitverbreiteten Rezepten bürgerlicher Sozialreform, die in erster Linie um die soziale Stabilisierung einer urbanen und industriellen ArbeiterInnenschaft bemüht waren. Zentrale Gemeinsamkeit war die „Verbindung von Fürsorge- und Wohlfahrtsintentionen mit Funktionen der Domestizierung und Überwachung“ – eine Strategie, in der die ArbeiterInnen zuallererst als Objekte thematisiert wurden. In diesem Sinn handelt es sich beim Wiener „Kommunalsozialismus“ der 1920er Jahre mit Wolfgang Maderthaner wohl um ein „exemplarisches Unternehmen der Spätaufklärung“6, das „auf Zivilisierung, Kulturalisierung und Hygienisierung der Massen, also auf die umfassende Hebung ihrer lebensweltlichen und sozialen, vor allem aber kulturellen Standards abzielte.“7 Tatsächlich konnte sich das pädagogische Experiment der Wiener Sozialdemokratie vielfach auf bereits um die Jahrhundertwende gegründete Kulturorganisationen stützen. Die Sozialdemokratie der Vorkriegsjahre hatte es verstanden, „in Hochburgen wie in den Wiener Vorstädten kleinnetzige, aus vormodernen Traditionen herrührende soziale Beziehungsgeflechte ehemals dörflicher Formationen in die Zellen- und Sektionsstruktur einer modernen Parteiorganisation überzuführen.“8 Entscheidendes Vehikel in diesem Organisationskonzept bildeten Volksbildungseinrichtungen, Sportvereine, Kultur- und Bildungsorganisationen und lebensreformerische Vereinigungen, sowie ein ritualisierter Kanon von Festen und Feiern (bestes Beispiel: 1. Mai), denen gerade unter den schwierigen Bedingungen der Habsburgermonarchie ein besonderer Stellenwert im Parteiaufbau zukam. Das Verbot politischer Organisierung konnte gerade dadurch umgangen werden, dass der kulturelle und pädagogische Charakter der Bewegung betont wurde. Victor Adler, der Gründungsvater der österreichischen Sozialdemokratie, theoretisierte diesen emotionalisierenden, ästhetisierenden und kulturalisierenden Zugriff auf politische Fragen in der Strategie der „Revolutionierung der Gehirne“ als eigentliche Aufgabe und Ziel der Bewegung. Die austromarxistischen TheoretikerInnen und PraktikerInnen des Roten Wien griffen diese Überlegungen auf, indem sie den Aufbau eines gegenkulturellen Netzwerks zum zentralen Angelpunkt ihrer Konzeption eines „antizipatorischen Sozialismus“ ausbauten und die Kulturorganisationen als Massenerziehungsmittel funktionalisierten.9 Ziel war es erstens, wesentliche Elemente einer sozialistischen Zukunft bereits in der urbanen Gegenwart vorwegzunehmen, und zweitens „den Arbeiter“ in moralischer Hinsicht für seine Rolle in dieser Zukunft vorzubereiten. Den notwendigen Spielraum für diese vorbereitende Strategie, so argumentierte der sozialdemokratische Parteiführer Otto Bauer, schuf die spezifische Situation im Nachkriegsösterreich, die von einem „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ geprägt gewesen sei, in dem „die außerparlamentarische Macht des Proletariats … die parlamentarische Mehrheit der Bourgeoisie hinderte, ihre Klassenherrschaft aufzurichten.“10 Weil keine gesellschaftliche Klasse ohne die (stillschweigende) Teilnahme der gegnerischen Klasse herrschen könnte, der Kampf um die politische Macht somit auf eine unbestimmte Zukunft vertagt war, entstünden Freiräume zum schrittweisen Aufbau einer sozialistischen Infrastruktur, ohne Risiko des Bürgerkriegs. „Aus diesem Grund konnte sich Bauer auf das austromarxistische Engagement der Vorkriegszeit für kulturelle Entwicklung und Bildung berufen, um der Rolle der sozialistischen Bewegung bei der Vorwegnahme einer neuen Gesellschaft innerhalb des alten Systems große Bedeutung zuzuschreiben.“11 Der „Wille zur Ohnmacht“ Je stärker sich nun aber die tatsächlichen Kräfteverhältnisse im Laufe der 1920er Jahre zuungunsten der ArbeiterInnenbewegung verschoben, desto mehr kompensatorische Funktionen fielen der Wiener Stadtpolitik zu. Sukzessive übernahm die kulturpolitische Konzentration auf das Rote Wien den Charakter eines Substituts für weitergehende Perspektiven politischer Transformation. Wie der Historiker Anson Rabinbach richtig betont, resultierte der Wiener Kommunalsozialismus letztlich „aus einer stillschweigenden Anerkennung einer entscheidenden politischen Niederlage“ 1918/19.12 Schon während der Welle wilder Streiks im Juni 1917 war die österreichische Sozialdemokratie in erster Linie als Stabilisierungsfaktor und Ordnungsmacht in Erscheinung getreten. In der sozialrevolutionären Situation ab dem Frühjahr 1918, als sich aus Streikversammlungen heraus ArbeiterInnenräte13 bildeten, der alte Staat zerfiel und die Macht förmlich auf der Straße lag, transformierte sie die revolutionären Energien in eine Strategie zur Eroberung der parlamentarischen Demokratie und der umfassenden sozialen Reform. Damit verschaffte sie nicht zuletzt den desorganisierten konservativen Kräften ausreichend Zeit zur Neuformierung. Sozialdemokratischen Parteigranden wie Friedrich Adler war sehr wohl bewusst, dass es 1918/19 „wohl keinen anderen Staat [gab], wo es … für die Arbeiterklasse so leicht möglich gewesen wäre, die ganze Macht an sich zu reißen, wie gerade in Deutschösterreich.“14 Die Entscheidung zur „Selbstbeschränkung“15 der Revolution kann daher nicht auf vermeintlich „objektive“ Bedingungen abgewälzt werden. Erst auf Grundlage dieser strategischen Weichenstellung wird die Konzentration auf Kultur- und Bildungspolitik verständlich, die infolge als Rechtfertigung dafür herhalten musste, jeder „verfrühten“ politischen Auseinandersetzung auszuweichen, um eben den Zusammenbruch des „Aufbauwerks“, auf das sich die pädagogische „Vorbereitungsstrategie“ stützte, nicht zu riskieren. Die fatale Zirkularität sozialdemokratischer Politik gründet darin, dass dieselben Überzeugungen, welche die Bedingungen politischer Defensive produzierten, auch den Rückzug in die Wiener Kulturenklave legitimierten. Zunächst lenkte die Sozialdemokratie die revolutionäre Dynamik der Jahre 1918/19 in die Bahnen des bürgerlichen Republikanismus, um schließlich ihre politischen Ambitionen in die Kultur der Hauptstadt zu kanalisieren16 Gewissermaßen wiederholt sich hier die Geschichte des österreichischen Liberalismus als Farce. Dieser hatte in den 1890ern seine politische Schwäche durch die Kulturpolitik im Wien des fin de siècle kompensiert. Als selbsternannte Erbin des gescheiterten liberalen Modernisierungsprojekts adaptierte die SDAP nun dessen „Programm der kulturellen Erneuerung unter dem Banner des Konstitutionalismus“.17 Mit der Entscheidung, 1918/19 nicht auf die revolutionäre Rätebewegung zu setzen, wurde eine Dynamik in Gang gesetzt, die eine Situation selbstgewählter Ohnmacht produzierte. Solange sich die Konservativen vor der Machtübernahme der ArbeiterInnen fürchten mussten, konnte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) weitreichende soziale Reformen – vom bezahlten Urlaub bis zum Betriebsrätegesetz – durchsetzen. Sobald die SDAP aber die Rätebewegung in ein Mittel zur Bindung und Disziplinierung des Proletariats verwandelt hatte, erwiesen sich die Illusionen in den bürgerlichen Staat als verheerende Sackgasse. Die reaktionäre Christlichsoziale Partei und ihre faschistischen Verbündeten (Heimwehr, Landbund) gewannen an Initiative und wurden in weiten, vor allem ländlichen Teilen Österreichs hegemonial, während sich die Sozialdemokratie auf ihre Hochburgen in Wien, Linz und der Obersteiermark konzentrierte. Orientierungspunkte Die entscheidenden Stichworte für diese Strategie wurden von den TheoretikerInnen des Austromarxismus formuliert. Dennoch lässt sich die Politik des „Sozialismus in einer Stadt“ nicht als einfache „Übersetzung“ einer austromarxistischen Theorie in die sozialdemokratische Praxis verstehen. Dies würde den gewichtigen Aspekt der Pragmatik in der konkreten Politik der österreichischen Sozialdemokratie nach dem Ersten Weltkrieg unterschlagen. In mancher Hinsicht ist die austromarxistische Theoriearbeit besser als nachträgliche oder begleitende Rechtfertigung politischer Entscheidungen zu verstehen, die selbst eher auf Basis aktueller Möglichkeiten und Notwendigkeiten – oder was die SozialdemokratInnen dafür hielten – getroffen wurden. Zugleich spielten theoretische Erwägungen der führenden Intellektuellen der SDAP natürlich eine Rolle für die Politik des Roten Wien – nicht zuletzt für die Einschätzung, welche Strategien eben als (un-)möglich oder notwendig angesehen wurden. Die sozialdemokratischen Stadt- und KommunalpolitikerInnen, die Obleute der zahlreichen Arbeitervereine sowie die ArchitektInnen der Gemeindebauten und die Führer des Schutzbundes setzten nicht einfach in die Tat um, was Otto Bauer im „Kampf“, dem zentralen Theorieorgan der österreichischen Sozialdemokratie, schrieb; sie erhielten durch die austromarxistische Theorie jedoch eine Grundanschauung, eine „Reihe von 18, die das Experiment des Roten Wien prägten. Zwar hat eine inhaltlich kohärente theoretische „Schule“, die so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Max Adler und Karl Renner, Otto Leichter und Otto Bauer umfasst hätte, so nie existiert. Darauf verweisen schon die von den oben genannten „Austromarxisten“ in den Publikationen der Sozialdemokratie teils scharf polemisch geführten Debatten. Im Folgenden soll jedoch dargestellt werden, was über alle Differenzen innerhalb der Führungsriege der SDAP hinweg als gemeinsame Überzeugungen ausgemacht werden kann, die es letztlich doch erlauben, vom „Austromarxismus“ zwar nicht als einheitliche theoretische Schule, jedoch als ein Set von „Leitideen“ zu sprechen. Diese waren für den Alltagsverstand sozialdemokratischer FunktionärInnen und zahlreicher ArbeiterInnen in der Zwischenkriegszeit absolut prägend – und tatsächlich hat wohl erst der politische und orientierende Effekt der theoretischen Positionen eine Einheit des Austromarxismus hergestellt, die in der Theorie selbst so gar nicht vorhanden war. Determinismus Die wichtigste Grundlage austromarxistischer Theorien ist überaus simpel. Sie zu benennen, fordert jedoch unweigerlich einen hartnäckigen Mythos heraus, der die Selbstverortung des Austromarxismus „zwischen Bolschewismus und Revisionismus“ für bare Münze nimmt. In dieser Darstellung hätte der „Dritte Weg“ zwischen der revolutionären Strategie Lenins und der offen parlamentarisch-reformistischen Eduard Bernsteins in der SPD die österreichische Sozialdemokratie auch vor den Gefahren des „Determinismus“ bewahrt, der für die Geschichtsauffassung der sozialdemokratischen Zweiten Internationale so charakteristisch war. Damit ist die Vorstellung gemeint, dass die immanenten Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft unweigerlich in den Sozialismus führen. Die angeblich von Marx entdeckten und von Engels popularisierten ehernen Gesetze der Geschichte würden dies beweisen: die Überwindung des Kapitalismus ergäbe sich aus der historischen „Dialektik“ von Produktionsverhältnissen und Produktivkraftentwicklung; Aufgabe der Sozialdemokratie wäre demnach „der Aufbau ihrer Organisation, die Verstärkung ihres Stimmenanteils und das Vermeiden von Abenteuern, während sie geduldig darauf wartete, dass die ökonomische Entwicklung ihre Arbeit leistete“.19 Dass die österreichische Sozialdemokratie, die der Bildungs-, Erziehungs- und Kulturarbeit so viel Wert beimaß – also ja gerade auf die „subjektiven“ Aspekte der Geschichte einwirken wollte – einer solchen „objektivistischen“, sprich den „objektiven Gesetzmäßigkeiten“ vertrauenden Auffassung anhing, scheint nur auf den ersten Blick paradox. Dass sie es tat, lässt sich an allen Ecke und Enden austromarxistischer Publizistik ablesen – nicht nur bei den „rechten“, offen revisionistischen Sozialdemokraten wie Karl Renner, sondern auch bei Otto Bauer selbst, der ohne Übertreibung als Führer und wichtigster Theoretiker der österreichischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit bezeichnet werden kann.20 Er schloss etwa seinen programmatischen Aufsatz „Der Weg zum Sozialismus“ mit den Worten: „Der Sozialismus ist zur geschichtlichen Notwendigkeit geworden; kommen wird er auf jeden Fall. Fraglich ist nur, auf welchem Weg er kommen soll.“21 In der populären sozialdemokratischen Tagespresse wurde dieselbe Überzeugung mit etwas mehr Poesie ausgedrückt. Nach dem Sieg der SDAP bei den Wiener Gemeinderatswahlen schrieb die „Arbeiterzeitung“ am 5. Mai 1919: „Rot flammt es am Horizont und kündigt den herrlichen, unwiderruflichen Sieg des Sozialismus an.“22 Kartell-Sozialismus Der geschichtsphilosophische Determinismus der AustromarxistInnen wurde politökonomisch unterfüttert von der These des „organisierten Kapitalismus“. Diese stützte sich maßgeblich auf die Untersuchungen von Rudolf Hilferding, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Teil der Gruppe um Otto Bauer und Max Adler war (mit letzterem gab er bis 1925 die „Marx-Studien“ heraus). Hilferding hatte in seinem 1910 erschienenen Werk „Das Finanzkapital“ argumentiert, dass der Kapitalismus im „Zeitalter des Imperialismus“ von der „Aufhebung der freien Konkurrenz durch die Bildung von Kartellen und Trusts“ gekennzeichnet wäre. Durch Konzentrations- und Monopolisierungstendenzen sowie durch die zunehmende Integration von Bank- und Industriekapital entstünde eine Form kapitalistischer Wirtschaft, in der das anarchisch-freie Spiel der Marktkräfte in eine Art Planwirtschaft des Finanzkapitals umschlage. Diese These hat bedeutsame politische Konsequenzen, wie Hilferding noch 1931 festhielt: „Indem aber das Finanzkapital die kapitalistische Wirtschaft immer stärker organisiert, schafft es die Möglichkeit der Kontrolle dieser Organisation. Denn Organisation heißt nichts anderes als die Zusammenfassung bisher zersplitterter Kräfte unter einer einzigen Leitung. Erst damit kann sich diesem Bewußtsein, diesem Willen der Leitung unter Umständen ein anderes Bewußtsein, ein anderer Wille entgegensetzen. Dem rein wirtschaftlichen Willen und seinen wirtschaftlichen Motiven, dem Streben nach Rentabilität und Steigerung der Profitrate kann sich ein anderes organisiertes Bewußtsein, ein anders motivierter Wille, das politische, das staatliche Bewußtsein entgegensetzen.“23 Der Übergang zum Sozialismus im Bereich der Ökonomie wird so als Übernahme der Kommandopositionen in den Trusts und Kartellen konzipiert. In Hilferdings Worten: „Die Diktatur der Kapitalmagnaten (schlägt) um in die Diktatur des Proletariats“.24 Für austromarxistische Theorien und Praxis dienten Hilferdings Thesen als Grundlage; sie wurden weiterentwickelt zur Theorie des „organisierten Kapitalismus“, der als „letzte Phase des Kapitalismus“ verstanden wurde. In ihr würden sich die Plan- und Leitungselemente in der Wirtschaft zunehmend verstärken, was als „Ansatz zur Emanzipation von der ‚freien’ kapitalistischen Marktwirtschaft, ein Ansatz zu organisierter Wirtschaft“ verstanden wurde.25 Auf dieser Überzeugung basierte auch Otto Bauers Politik der „Sozialisierung“, durch die jene Industriezweige, in denen der Konzentrations- und Integrationsprozess besonders weit fortgeschritten war – etwa in der Montan- und Schwerindustrie – der Privatwirtschaft entzogen werden sollte. Wohlweislich sah dieses Konzept keine Kontrolle der Produktionseinheiten durch die ArbeiterInnen vor – die „sozialisierten“ Betriebe hätten von Gremien aus GewerkschafterInnen, KonsumentInnenverbänden und Staatsbeamten geleitet werden sollen.26 Diese Perspektive eines „Kartell-Sozialismus“, der mit Formen proletarischer Wirtschaftsdemokratie nur wenig zu tun hatte, wurde auch von den „linken“ TheoretikerInnen des Austromarxismus geteilt. So schreibt Otto Leichter: „Die Entwicklungselemente einer sozialistischen Ordnung sind zumindest der Tendenz nach vorhanden: schon innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft wird der Beweis für die Möglichkeit einer gemeinwirtschaftlichen Regelung der Produktion erbracht, aber das Proletariat muß erst die politische Macht erobern, um die Elemente der sozialistischen Gesellschaft freisetzen zu können.“27 Staat als Instrument Damit sind wir bei einer Frage angekommen, deren Beantwortung für die Charakterisierung des austromarxistischen Projekts entscheidend ist. Alle TheoretikerInnen der SDAP, vom „rechten“ Karl Renner bis zum „linken“ Max Adler, waren sich darin einig, dass es darum ging, die „politische Macht zu erobern“. Doch was soll darunter verstanden werden? Die Antwort der AustromarxistInnen lautete unisono: die Übernahme des Staates, der nicht mehr wie im Kommunistischen Manifest als „Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“28 verstanden wurde, sondern als „Instrument“, das den Händen der KapitalistInnen entrissen werden müsse, um es zum Aufbau des Sozialismus zu nutzen. Max Adler hat dafür eine einprägsame Metapher gewählt: „So wie man auf einer Druckmaschine ebenso reaktionäre wie revolutionäre Schriften drucken kann, so kann der Staatsapparat an sich jeder beliebigen Staatsordnung die Rechtsform geben.“29 Zwar wandte er gegen Karl Renner ein, dass man nicht davon ausgehen dürfe, die „Besetzung von staatlichen Machtpositionen durch das Proletariat bedeute schon eine Änderung des bürgerlichen Staates“; der entscheidende Faktor für Adler war jedoch jener des Bewusstseins: „Denn nicht darauf kommt es an, daß die Machtpositionen besetzt werden, sondern welchen Geistes und Willens das Proletariat ist, das dies tut.“30 Wir werden noch darauf zurück kommen, dass diese Adler’sche Konzeption sich passgenau in die politische Praxis der SDAP und deren Konzentration auf Bildungsarbeit und „Bewusstseinsreform“ einfügte. Wichtig ist festzuhalten, dass auch für den „linken“ Adler die politische Machtübernahme nur als Eroberung des bürgerliche Staatsapparats denkbar war, der dann in den Dienst des Sozialismus gestellt werden sollte. Nicht-staatliche, autonome Formen proletarischer Selbstverwaltung konnten in diesem Konzept bestenfalls eine ergänzende Rolle spielen. So befand Adler 1919, dass die ArbeiterInnenräte in Deutschland und Österreich zwar legitime Kampfmittel seien, sie dürften aber keinesfalls als „dauernde Gestaltungsprinzipien eine[r] neuen Gesellschaft“ gelten.31 Letztlich dienten die Räte in Adlers Konzeption als „Verwaltungsinstrumente des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus, dazu noch verfassungsmäßig abgesichert“.32 Otto Bauer teilte den instrumentalistischen Staatsbegriff seiner GenossInnen, integrierte ihn jedoch in eine als Theorie ausgegebene Zeitdiagnose vom „Gleichgewicht der Klassenkräfte“. Demnach wäre die politische Situation in Europa nach dem Ersten Weltkrieg von einer Pattsituation der Klassen geprägt, die sich in Österreich in einem Zustand ausdrückte, „in dem zwar das Proletariat noch nicht zu herrschen vermag, in dem aber die Bourgeoisie nicht mehr imstande ist, dem Proletariat zu diktieren und daher mit dem Proletariat paktieren muß“.33 Diese Konstellation wurde von Bauer als „Übergangsphase“ interpretiert: „Wie die Bourgeoisie durch die Periode des Gleichgewichtes zwischen Grundaristokratie und Bourgeoisie hindurchgehen mußte, ehe sie die Staatsgewalt erobern und die ganze Rechtsordnung dem Kapitalismus anpassen konnte, so wird das Proletariat durch die Periode des Gleichgewichts zwischen Bourgeoisie und Proletariat nur hindurchgehen, um schließlich die Staatsgewalt zu erobern und die sozialistische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen.“ Diese Analogisierung von bürgerlicher und proletarischer Revolution wurde bereits von Bauers Parteigenossen Otto Leichter einer treffenden Kritik unterzogen. Schließlich hat die ArbeiterInnenklasse „keine ökonomische Macht in dem Sinne, wie etwa bereits die Bourgeoisie bereits am Beginn der Revolution ökonomisch mächtig war. [...] Die bürgerliche Revolution wird von einer ökonomisch mächtige Klasse, die proletarische Revolution von den ökonomisch im individuellen Sinne Machtlosen durchgeführt.“35 Dieser Einwand ist wichtig, die Folgerung, dass die proletarische Revolution eine zuvorderst politische sein muss, ebenso. Der entscheidende Fehler war jedoch die von keinem der austromarxistischen TheoretikerInnen hinterfragte Grundannahme, dass die politische Revolution die Übernahme der bürgerlichen Staatsapparate bedeutet. Letztlich zielte die austromarxistische Strategie auf jenes friedliche „Hineinwachsen“ in den Sozialismus, das Otto Bauer 1924 so prägnant auf den Punkt brachte: „Wir können binnen weniger Jahre mit dem Stimmzettel die Mehrheit im Parlament erobern und damit die Macht ergreifen“.36 Das glatte Band der Geschichte Die Kombination aus deterministischer Geschichtsphilosophie, wirtschaftspolitischer Orientierung auf einen „Kartell-Sozialismus“ und konsequenter Staatsfixierung ließ der österreichischen Sozialdemokratie wenig konzeptionellen Spielraum für eingreifendes, politisches Handeln. Dennoch waren die austromarxistischen Positionen nicht bloß Rechtfertigung für politische Passivität. Vielmehr führten sie dazu, die Anstrengungen der Partei in überwältigendem Maße auf den Aspekt der Bildungs- und Kulturpolitik zu lenken. In welchem Maße es sich beim Austromarxismus um die Theoretisierung einer politischen Praxis handelt, die mehr auf die Entstehungsgeschichte der SDAP und den konkreten Möglichkeitsrahmen einer de facto auf die Stadt Wien reduzierten sozialistischen Partei zurück zu führen ist, kann hier nicht weiter erörtert werden. Jedenfalls aber haben die beschriebenen theoretischen Grundlagen die Politik des Roten Wien präzise ergänzt. Denn wenn die Ökonomie ohnehin ihren ehernen Gesetzen folgt und der Staat mit dem Stimmzettel erobert werden kann, bleibt für sozialistische Politik vor allem eine Aufgabe: „Nicht die Köpfe einschlagen, die Köpfe gewinnen!“, wie Otto Bauer es formuliert hatte. Was zwischen dem Jetzt und der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft steht, ist demnach das falsche Bewusstsein der ProletarierInnen. Den Arbeiter gilt es zum „Neuen Menschen“ zu erziehen; die praktisch-politische Umwälzung wird als Ergebnis des veränderten Bewusstseins erwartet. Dies wird besonders deutlich bei Max Adler, der den Klassenkampf in erster Linie als „Umgestaltung der Ideologie durch die Theorie“, als „Reform des Bewußtseins“ verstand.37 Das Experiment des Roten Wien als gigantisches Erziehungsprojekt hat hier seine theoretische Entsprechung. Ziel war es nicht nur, Wien als „Werbearbeit für den Sozialismus“ (so der Wiener Landtagspräsident Robert Danneberg) heraus zu stellen, sondern auch und vor allem, die ArbeiterInnen „aus aller bürgerlich-demokratischen Ideologie herauszureißen“, wie dies Max Adler gefordert hatte.38 Der Lauf der Geschichte erschien den AustromarxistInnen als glattes Band, das unaufhörlich dem Sozialismus entgegen ratterte; die einzige Öse, in die sich Politik einhaken konnte, um den Verlauf der Geschichte offenbar doch zu beeinflussen, war die „Bewusstseinsarbeit“ und hier vor allem die Bildungs- und Kulturpolitik. Politik und Ökonomie wären für den Marxismus Gegenstände der Erklärung, so Max Adler; die sozialistische Erziehung hingegen entspräche dem Prinzip des Handelns.39 Die austromarxistische Bearbeitung des Widerspruchs zwischen objektivem Geschichtsprozess und subjektiver Bewusstseinsbildung war eben jener „antizipatorische Sozialismus“ des Roten Wien. Es galt, die ArbeiterInnen für eine Zukunft aufzubereiten, deren Ankunft ohnehin unvermeidlich war. Der von der SDAP-Führung erhoffte Sozialismus war schließlich auf ein diszipliniertes, geschultes und aufgeklärtes Proletariat angewiesen, das schon im Heute geschaffen werden sollte. Mythos Rotes Wien Mit der Zerschlagung der österreichischen ArbeiterInnenbewegung durch den Austrofaschismus im Februar 1934 wurde die historische Niederlage des Austromarxismus, die sich bereits mehrere Jahre davor abgezeichnet hatte, gewaltsam besiegelt. Die Politik der Erziehung zum Sozialismus und die Strategie der symbolischen Stärkung des Proletariats erwiesen sich nicht nur als unzureichend im Kampf für den Sozialismus, sondern konnten auch dem Aufstieg des ständestaatlichen und später des nationalsozialistischen Faschismus nichts entgegen halten. Trotzdem blieben das Rote Wien als beeindruckendes Experiment des „kommunalen Sozialismus“ und der Austromarxismus als „Dritter Weg“ zwischen sowjetischer Diktatur und sozialdemokratischem Kapitulantentum für die Teile der europäischen Linken noch lange mythische Bezugspunkte. Interessant ist hier etwa die kleine „Bauer-Renaissance“ im Zuge der Debatten um „Eurokommunismus“ und Linkssozialismus Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre, als versucht wurde, Bauer als Kronzeugen für eine Annäherung post-stalinistischer und sozialdemokratischer Parteien aufzurufen.40 Tatsächlich setzt die Betonung von Alltagskultur und Alltagsbewusstsein als wichtiger Einsatzpunkt sozialistischer Politik den Austromarxismus von anderen zeitgenössischen linken Positionen ab. Aber hier fangen die Probleme auch schon an. Denn erstens wurde im Projekt des Roten Wien diese Orientierung auf den Alltagsverstand in das Projekt einer paternalistischen Zivilisierungsmission überführt. Real existierende ArbeiterInnenkulturen wurden als unzivilisiert und undiszipliniert denunziert und die Widersprüchlichkeit des Alltagsverstands gerade nicht als Anknüpfungspunkt begriffen. Und zweitens war die Kultur- und Bildungspolitik eingebettet in eine Transformationsstrategie, die jeder Konfrontation auswich und auf Machtergreifung durch die Stimmzettel setze. Dass ausgefochtene Kämpfe und konkrete Erfahrungen der Selbstorganisierung den besten Beitrag zur „Revolutionierung der Gehirne“ leisten können, kam den AustromarxistInnen nicht in den Sinn.

Anmerkung

1 Gruber, Helmut: Red Vienna. Experiment in Working Class Culture 1919-1934, Oxford 1991, S.110

2 vgl. Adler, Max: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung, Berlin 1924

3 Social engineering bezeichnet soziale Ordnungstechniken, die das Verhalten der Bevölkerung regulieren sollen. Um 1900 wurde social engineering zur Leitidee unterschiedlichster politischer Projekte, links wie rechts.Zum Begriff vgl. Etzemüller, Thomas (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009. Siehe auch die Rezension des Buchs in diesem Heft.

4 Maderthaner, Wolfgang: Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in: Csendes, Peter/Opll, Ferdinand (Hg.): Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien 2006, S.383

5 Gruber, Helmut 1991, a.a.O., S.63

6 Maderthaner, Wolfgang 2006, a.a.O., S.362

7 Ebenda, S.390

8 Ebenda, S.338

9 vgl. ebenda, S.366, S.392

10 Bauer, Otto: Die österreichische Revolution, Wien 1923

11 Rabinbach, Anson: Vom Roten Wien zum Bürgerkrieg, Wien 1989, S.460

12 Ebenda, S.30

13 Zur österreichischen Rätebewegung (und zur sozialdemokratischen Transformation derselben in einen politischen Konsolidierungsfaktor) vgl. Hautmann, Hans: Geschichte der Rätebewegung in Österreich, 1918-1924, Wien, Zürich 1987

14 Adler, Friedrich: Machtfragen und Formfragen in: Der Kampf 5 (1919), S. 242. Zit. nach: Butterwegge, Christoph: Austromarxismus und Staat. Politiktheorie und Praxis der österreichischen Sozialdemokratie zwischen den beiden Weltkriegen, Marburg 1991, S.223

15 Bauer, Otto 1923, a.a.O.

16 Rabinbach, Anson 1989, a.a.O., S.31

17 Ebenda, S.7

18 Gruber, Helmut 1991, a.a.O., S. 34

19 Molineux, John: Is Marxism deterministic? in: International Socialism Journal 68, Autumn 1995, S. 37-73

20 Max Adler stellt hier in gewisser Hinsicht eine Ausnahme dar. Er kritisierte 1931, als die deterministische Theorie Bauers die Partei im Angesicht der faschistischen Bedrohung auf fatale Weise lähmte, die Darstellung des Sozialismus als „unvermeidlich“ und argumentierte, dass der Kapitalismus „sich immer wieder auf Kosten des Massenelends rekonstruieren“ könne und in diesem Sinne „endlos“ sei: „Vielmehr hängt es vom revolutionären Aktivismus des Proletariats ab, was die Arbeiterklasse aus der Krise des Kapitalismus selbst machen kann.“ (Adler, Max: Endlosigkeit oder Beendigung der kapitalistischen Widersprüche? in: Mozetic, Gerald (Hg.): Austromarxistische Positionen, Wien 1983, S.363) Diese Überzeugung wurde von Adler, der nie eine leitende Funktion in der Partei ausübte, jedoch letztlich dem Dogma der Parteieinheit untergeordnet und blieb, wie Trotzki in einem Brief bissig bemerkte, „Literaturkritik“ (Rabinbach, Anson, 1989, a.a.O., S. 92-94).

21 Bauer, Otto: Der Weg zum Sozialismus. In: ders.: Werkausgabe, Bd. 2, Wien 1976, S.131

22 Frei, Alfred Georg: Rotes Wien. Austromarxismus und Arbeiterkultur. Sozialdemokratische Wohnungs- und Kommunalpolitik 1919 – 1934, Berlin 1984, S. 52

23 Hilferding, Rudolf: Die Eigengesetzlichkeit der kapitalistischen Entwicklung, in: Mozetic, Gerald 1983, a.a.O., S.417-418

24 Hilferding, Rudolf: Das Finanzkapital, Hamburg 1974, S.507

25 Leichter, Otto: Der organisierte Kapitalismus und seine Dialektik, in: Mozetic, Gerald 1983, a.a.O., S. 339

26 vgl. März, Eduard/Weber, Fritz: Otto Bauer und die Sozialisierung, in: Albers, Detlev/Hindels, Josef/Lombardo Radice, Lucio (Hg.): Otto Bauer und der „Dritte“ Weg. Die Wiederentdeckung des Austromarxismus durch Linkssozialisten und Eurokommunisten, Frankfurt/M. und New York 1979, S. 74-98

27 Ebenda S. 345, S.348

28 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, Berlin 1961, S.464

29 Adler, Max: Praktischer und unpraktischer Klassenkampf, in: Mozeti�, Gerald 1983, a.a.O., S.61

30 Ebenda, S.62

31 Adler, Max: Demokratie und Rätesystem, zitiert nach: Löw, Raimund: Theorie und Praxis des Austromarxismus, in: Ders./Mattl, Siegfried/Pfabigan, Alfred: Der Austromarxismus – eine Autopsie. Drei Studien, Frankfurt/Main 1986, S.70

32 Kulemann, Peter: Am Beispiel des Austromarxismus. Sozialdemokratische Arbeiterbewegung in Österreich von Hainfeld bis zur Dollfuß-Diktatur, Hamburg 1979, S.252

33 Bauer, Otto: Das Gleichgewicht der Klassenkräfte, in: MozetiÄ�, Gerald 1983, a.a.O., S.223

34 Ebenda, S.231

35 Leichter, Otto: Zum Problem der sozialen Gleichgewichtszustände, 1924, in: Mozetic, Gerald 1983, a.a.O., S.232-233

36 Bauer, Otto: Der Kampf um die Macht, zit. nach: Kulemann, Peter 1979, a.a.O., S.334

37 Adler, Max: Praktischer und unpraktischer Klassenkampf, a.a.O., S. 54

38 Robert Danneberg 1930, zit. nach: Kulemann, Peter 1979, a.a.O., S.344; Adler, Max: Praktischer und unpraktischer Klassenkampf, a.a.O., S. 55

39 Ebenda, S.55 40 vgl. Albers, Detlev: Versuch über Otto Bauer und Antonio Gramsci. Zur politischen Theorie des Marxismus, Berlin 1983