Kick it like Roosevelt

Erst war es angeblich nur ein Leck, aus dem nach dem Untergang der Bohrinsel Deepwater Horizon Öl in den Golf von Mexiko tröpfelte. Man habe alles fest im Griff, erklärte der Konzern BP. Tage, Wochen, Monate später zeigt sich, wie gigantisch diese Lüge war: Die Angaben darüber, wie viel Öl ausläuft, werden immer weiter nach oben korrigiert, und BP erweist sich als unfähig, die Bohröffnung abzudichten.

Damit nimmt auch der Druck auf den US-Präsidenten zu: Mit jedem weiteren Tag, an dem das Bohrloch nicht versiegelt wird, droht Barack Obama das Schicksal der Pelikane am Golf zu erleiden und immer tiefer im klebrigen Schlamm zu versinken. Das Weiße Haus muss bei den Zwischenwahlen im November bereits den Verlust der demokratischen Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses fürchten.

Die Ölpest legt offen, wie massiv die Obama-Administration die Hinterlassenschaft von drei Jahrzehnten Neoliberalismus unter republikanischer Hegemonie unterschätzt hat. Insbesondere in der Regierungszeit George W. Bushs, als die Ölindustrie über ihren Gewährsmann, den ehemaligen Haliburton-Manager und Vizepräsidenten Dick Cheney, im Zentrum der amerikanischen Macht saß, wurden die gesetzlichen Vorschriften immer weiter ausgehöhlt und die staatlichen Kontrollbehörden immer mehr mit Lakaien der Ölindustrie besetzt – bis die Regeln zuletzt nur noch auf dem Papier bestanden.

Die Ölkonzerne konnten deshalb nach Gutdünken schalten und walten. Ebendies belegt das Vorgehen von BP bei Deepwater Horizon: In buchstäblich jedem Schritt der Bohrung stellte der Konzern den eigenen Profit über die Sicherheitsstandards, zog die Unternehmensleitung die billigere – und gefährlichere – Lösung dem Schutz der Umwelt und der eigenen Arbeiter vor.

Die Katastrophe offenbart allerdings auch eine Mitschuld Obamas. Denn angesichts der Wild-West-Manier, in der die deregulierten Konzerne operieren, hätte seine Regierung frühzeitig und mit größerer Entschlossenheit handeln müssen. Doch anstatt die Re-Regulierung unverzüglich in Angriff zu nehmen, ließ Innenminister Ken Salazar die Konzerne dort weitermachen, wo sie unter republikanischer Ägide aufgehört hatten.[1]

Die Ölpest als Lehrstück

Die Ölpest erweist sich geradezu als Lehrstück darüber, was passiert, wenn sich der Staat aus seiner Verantwortung zurückzieht und den Konzernen freie Hand lässt. Denn der systematisch betriebene, kriminelle Abbau staatlicher Aufsichtspflichten ist ja keineswegs auf die Ölbranche beschränkt; auch in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, im Gesundheits- und im Bankenwesen regiert der Anarchismus der Märkte.

Hinzu kommt die Erosion des Rechts. Auch hier fügt sich die staatliche Deregulierung der Ölbranche in die Kette von Rechtsverletzungen durch die Bush-Regierung ein – erinnert sei nur an das illegale Gefängnis in Guantánamo, an die Überwachung von Bürgern ohne konkretes Verdachtsmoment und an die systematische Exemption der für schwerwiegende Rechtsverstöße der US-Regierung im In- und Ausland politisch Verantwortlichen. Und auch von einer Gleichbehandlung der Unternehmen und Bürger vor dem Gesetz kann keine Rede sein: Während die Bürgerinnen und Bürger selbst für vergleichsweise harmlose Vergehen drakonisch bestraft werden, haben Politik und Justiz, allen voran der – inzwischen von Republikanern dominierte – Oberste Gerichtshof, das Strafmaß für Unternehmen und ihre Verantwortlichen immer weiter reduziert.[2]

Der Untergang der Deepwater Horizon steht also pars pro toto für die republikanische Politik des Rechtsverstoßes und Laissez-faire. Damit verweist er zugleich auf zwei zentrale Fehleinschätzungen des Präsidenten: Zum einen hat Obama die Beharrlichkeit, mit der die Konzerne ihre Freiheiten verteidigen, unterschätzt – wohl nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen, grundsätzlich konzernfreundlichen Haltung.

Zum anderen scheint Obama nach wie vor zu glauben, mit der Republikanischen Partei sei ein Ausgleich möglich. Seine Taktik, auf die Opposition zuzugehen, mag nach den Zerrüttungen der Bush-Ära aus Sicht des Präsidenten einen Versuch wert gewesen sein. Inzwischen ist sie jedoch krachend gescheitert: an der geschlossenen Obstruktionspolitik der Republikaner im Kongress, an ihrem Festhalten an der Politik der Bush-Ära und vor allem an ihrem fortgesetzten Marsch nach rechts.

Angriff von rechts

Dieser „Marsch nach rechts“ wird beflügelt durch die Formierung einer außerparlamentarischen Bewegung, der sogenannten Tea Party, die ein einziges Ziel eint: nämlich Obama möglichst rasch wieder aus dem Amt zu verjagen. Nicht zufällig wurde die Bewegung unmittelbar nach dessen Amtsantritt ins Leben gerufen. Seitdem ziehen ihre Aktivisten mit immer schrilleren Tönen gegen den Präsidenten zu Felde – finanziell unterstützt von Großunternehmen, ideologisch angefeuert von Rupert Murdochs strammrechtem Fox News und politisch gefördert von der Republikanischen Partei.[3] Mit der Tea Partyist der US-Rechten das gelungen, woran die amerikanische Linke gescheitert ist: nämlich den Präsidenten mit einer außerparlamentarischen Massenbewegung unter Druck zu setzen.

Die Tea Party liefert dabei die Ideologen und das Fußvolk für die republikanische Politik des Laissez-faire. Nichts bringt ihre Grundhaltung besser auf den Punkt als die Stellungnahme von Rand Paul, dem jüngst zum Kandidaten für die Senatswahl in Kentucky gekürten Helden der Tea Party, zur Ölpest. Der Sohn von Ron Paul, dem Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner 2008, erklärte jedwede Kritik an BP schlichtweg für „unamerikanisch“. Mehr noch: Er verstieg sich gar zu der Aussage, dass solche „Unfälle manchmal eben einfach passieren“ – eine perfekte Exkulpation von BP und Bush und eine Einladung zur Wiederholung der systematischen, profitgetriebenen Schlamperei. Pauls Kollegin Sharron Angle, die ebenfalls von der Tea Party unterstützte republikanische Kandidatin für den Senat aus Nevada, fordert in diesem Sinne bereits die Privatisierung von Energie- und Umweltschutzbehörde. Und Sarah Palin, Vizepräsidentschaftskandidatin der Republikaner 2008 und Ikone der Bewegung, machte glattweg „radikale Umweltschützer“ für die Ölkatastrophe verantwortlich.

Überhaupt beschränkt sich das rechtslibertäre Credo der Tea Party strikt auf die Verteidigung eines extremen, uneingeschränkten Individualismus, einschließlich der „Freiheit der Konzerne“. Die einzige Aufgabe des Staates sehen ihre Anhänger folglich in der Sicherung individueller Freiheit. Jedes darüber hinausgehende Programm, insbesondere hinsichtlich sozialer Rechte, wird kategorisch abgelehnt.

Die Bewegung verfolgt eine radikale Delegitimationsstrategie gegenüber dem (anders als Bush im Jahr 2000) demokratisch gewählten Präsidenten und stützt sich dabei ganz wesentlich auf Verschwörungstheorien – etwa jene, dass Obama gar nicht in den USA geboren und deshalb ein illegitimer Präsident sei („Birthers“), was nahezu zwei Drittel der Anhänger der Republikaner zumindest für möglich halten.

Glenn Beck, Chefideologe der Bewegung auf Fox News, halluziniert gar, es gebe in den Vereinigten Staaten seit 100 Jahren einen „Staatskult“ und eine Verschwörung gegen die Freiheit, die das Ziel der vollständigen Enteignung, Entwaffnung und Unterjochung der Bürger verfolge. Beck propagiert auch die – nach zwei Sozialwissenschaftlern benannte – „Piven-Cloward-Strategie“, die „belegt“, dass eine linke Verschwörung seit Jahrzehnten das Land zu übernehmen trachtet – und nun mit dem neuen, „sozialistischen“ Präsidenten an ihr Ziel gelangt sei.[4]

Manch einer sieht die USA – nach Roosevelts New Deal und Johnsons Great Society – mit Obamas „sozialistischer“ Gesundheitsreform sogar bereits in einem „Dritten Reich“ angelangt. Ganz in diesem Sinne wird am rechtsradikalen Rand der Gesellschaft darüber phantasiert, dass die Obama-Regierung die Verhängung des Kriegsrechts plane und zehntausende Guillotinen horte, um patriotische Dissidenten zu töten; dass die Anschläge in Oklahoma City 1995 sowie in New York und Washington 2001 in Wahrheit das Werk der Bundesregierung gewesen seien; dass die Federal Reserve in eine Verschwörung verwickelt sei, die den Amerikanern ihren Wohlstand rauben wolle; und dass Obama im Geheimen überall im Land Konzentrationslager errichten lasse.[5]

Widerstand der Privilegierten

Zu einer echten Bedrohung wird diese Paranoia dadurch, dass sie nicht länger auf versprengte Splittergruppen am rechten Rand beschränkt ist, sondern über die Tea-Party-Bewegung weit in die Mitte der Gesellschaft vorstößt. Denn der außerparlamentarische Protest ist keineswegs eine Bewegung der Benachteiligten. Im Gegenteil: Neuere Umfragen belegen, dass es sich bei ihren Anhängern ganz überwiegend um Weiße handelt, die ein überdurchschnittliches Einkommen beziehen, vergleichsweise gute Bildungsabschlüsse haben und vorwiegend älteren Generationen angehören.[6] Kurz: Hier formiert sich der Widerstand der Privilegierten.

Soziologisch erweist sich die rechte Massenbewegung in erster Linie als Symptom des drohenden Abstiegs und der aus diesem resultierenden Ängste – nach außen wie nach innen. In der Außenpolitik sehen sich die Amerikaner mit dem beginnenden Machtverlust ihres Landes in der Weltarena konfrontiert. Während Obama diesen Niedergang, trotz Afghanistankrieg, strategisch insgesamt zu moderieren sucht, sind viele Bürger weiterhin tief vom amerikanischen Sendungsbewusstsein durchdrungen. Auch deshalb fordern sie in der Außen- und Militärpolitik, im Widerspruch zu ihrer ideologischen Grundhaltung, eine kompromisslose Haltung und einen „starken Staat“.

Dieser globale Machtverlust der Hegemonialmacht korrespondiert mit der abnehmenden Dominanz der weißen Mehrheit im Lande selbst. Infolge der demographischen Entwicklung werden die Weißen langfristig zu einer Minorität. Dies löst bei vielen von ihnen Ängste aus, für die wiederum der erste schwarze Präsident des Landes eine ideale Projektionsfläche darstellt.[7]

Es ist deshalb kein Zufall, dass volle 73 Prozent der Tea-Party-Anhänger der Aussage zustimmen: „Wenn die Schwarzen sich mehr anstrengten, würde es ihnen genauso gut gehen wie den Weißen.“ 52 Prozent finden zudem, dass zu viel Aufhebens gemacht werde von den spezifischen Problemen der Afroamerikaner – und ein Viertel glaubt gar, Obamas Politik begünstige die armen Schwarzen auf Kosten der weißen Mittelschicht.

In diesem Unbehagen weißer Privilegierter gegenüber dem ersten schwarzen Präsidenten manifestiert sich die rassistische Tradition der USA. Der Bewegung fällt es sichtbar schwer, die alte „Dixie“-Tradition hinter sich zu lassen, so sie dies denn überhaupt will.[8] Allzu viele Reminiszenzen an den Old-School-Rassismus lassen sich nachweisen – zuletzt, als Rand Paul das Bürgerrechtsgesetz von 1964 kritisierte mit der Begründung, der Staat solle Privatunternehmen nicht vorschreiben, dass sie auch Schwarze bedienen müssen.

Trotz einer Fülle weiterer dokumentierter Belege leugnen die Tea-Party-Aktivisten jedoch beharrlich, dass Rassismus ein Motiv ihres Protests ist. Dabei drehen ihre Frontmänner wie Glenn Beck den Spieß einfach um: Nicht die Bewegung, sondern Obama sei rassistisch, behauptet Beck. Er schreckt nicht einmal vor der These zurück, er selbst stehe in der Tradition Martin Luther Kings – während der erste schwarze Präsident an der Errichtung eines „Sklavenstaates“ arbeite. Wobei, wohlgemerkt, die „neuen Sklaven“ die drangsalierten Steuerzahler sein sollen.

Die Opposition der Konzerne

Was die Tea-Party-Bewegung politisch besonders gefährlich macht, ist ihre Unterstützung seitens großer Teile der business community. Dieser Schulterschluss des Kapitals mit den Privilegierten kann nicht überraschen, wendet man sich doch gemeinsam gegen jedwede finanzielle „Belastungen“.

Auf Seiten der Konzerne kommt hinzu, dass zentrale Branchen von der Deregulierungspolitik der Bush-Regierung massiv profitiert haben und die Regellosigkeit ihres Handelns, historisch ohnehin ein Markenzeichen des US-Kapitals,[9] nicht angetastet sehen wollen – wie die massive und durchaus erfolgreiche Lobbyarbeit gegen die Gesundheitsreform und jüngst gegen das Gesetz zur Finanzmarktregulierung demonstrierte.

Dieser Stimmungsumschwung in der Geschäftswelt führt dazu, dass, neben der traditionell stramm republikanischen Ölindustrie, weitere bedeutende Branchen ihre Parteispenden im laufenden Jahr massiv umschichten – vor allem Banken, Versicherungen und Pharmakonzerne. Obwohl sie für gewöhnlich die Partei des Präsidenten bevorzugen, geht der Löwenanteil ihrer Großspenden nunmehr an die oppositionellen Republikaner.[10]

Diese Gegnerschaft mächtiger Konzerne verweist auf eine entscheidende Parallele zwischen Barack Obama und Franklin D. Roosevelt. Auch dem Präsidenten Roosevelt begegneten weite Teile der Geschäftswelt mit rigider Ablehnung, ja mit regelrechtem Hass angesichts seiner ambitionierten Politik eines New Deal.

Roosevelt beging indes nicht den Fehler, seinen Widersachern selbst dann noch die Hand zu reichen, als sie diese schon ausgeschlagen hatten. Stattdessen ging er in einer Rede im Madison Square Garden am 31. Oktober 1936 in die Offensive und nannte Ross und Reiter: Er sehe sich mit dem Protest „der alten Feinde des Friedens“ konfrontiert – „Unternehmens- und Finanzmonopole, Spekulation, skrupellose Banken, Klassenantagonismus, Partikularismus, Kriegsprofiteure“. Diese würden „die Regierung der Vereinigten Staaten als bloßes Anhängsel ihrer eigenen Geschäfte“ betrachten. Und Roosevelt zeigte sich nicht gewillt zurückzuweichen, sondern nahm den Fehdehandschuh auf: „Sie sind einmütig in ihrem Hass auf mich – und ich heiße ihren Hass willkommen.“

Vor einer derartigen Entscheidung steht auch Obama. Längst raten wohlmeinende Kommentatoren, den Angriffen von rechts damit zu begegnen, dass er die Alternative – De- oder Re-Regulierung – glasklar benennt, anstatt die Öffentlichkeit mit immer weiteren Gesprächsangeboten an die Republikaner einzulullen.

Nun ist Obama nicht Roosevelt, und die politischen Kräfteverhältnisse sind im Vergleich zu dem red thirties genannten Jahrzehnt weit ungünstiger. Und doch steht der Präsident heute vor einer vergleichbaren Herausforderung wie sein berühmter Vorgänger 1936: Sollte er wie einst Roosevelt vom Konzessions- zum Konfrontationskurs übergehen, könnte er einen ähnlichen Prozess anstoßen. Gewiss, Obama müsste dafür über seinen Schatten springen und weiter gehen, als ihm lieb ist – gerade mit Blick auf die notwendige Konfrontation mit Teilen der business community. Verpasst er jedoch auch diesen change, drohen die Republikaner die Kongresswahlen zu gewinnen und seinen Handlungsspielraum weiter einzuschränken. Dann könnte es zu spät sein für einen Befreiungsschlag.

 


[1] Vgl. Tim Dickenson, The Spill, The Scandal, and The President, in: „Rolling Stone“, 24.6.2010.

[2] Christopher Hayes, BP: Beyond Punishment, in: „The Nation“, 28.6.2010.

[3] Vgl. Albert Scharenberg, Ein Jahr Obama. Die USA zwischen Reformpolitik und rechtem Propagandafeldzug, in: „Blätter“, 11/2009, S. 47-56, hier S. 52?ff.

[4] Vgl. Greg Grandin, Glenn Beck, American Historian Laureate, in: TomDispatch.com, 13.5.2010;
Jonathan Raban, At the Tea Party, in: „The New York Review of Books“, 5/2010, S. 4-9.

[5] Vgl. „Intelligence Report“, 138 (Sommer 2010).

[6] Vgl. CBS/NYT Poll, 14.4.2010, www.cbsnews.com.

[7] Vgl. Albert Scharenberg, Black President, in: „Blätter“, 12/2008, S. 65-69.

[8] Vgl. Frank Rich, Welcome to Confederate History Month, in: „New York Times“, 18.4.2010.

[9] Vgl. Albert Scharenberg, Rassismus in der US-Arbeiterbewegung. Entwicklungslinien von 1865 bis 1915, Hamburg und Berlin 1993.

[10] Angaben der Federal Election Commission; vgl. „Washington Post“, 22.5.2010.

(aus: »Blätter« 8/2010, Seite 5-9)