Eine aufschlussreiche Reise nach China - Bemerkungen eines Philosophen

Vom 3. bis 16. Juli war es mir vergönnt, einige Städte und Realitäten Chinas kennen zu lernen — im Rahmen einer Delegation, die von der KP Chinas eingeladen war und an der auch Vertreter der kommunistischen Parteien Portugals, Griechenlands und Frankreichs sowie der deutschen Partei Die Linke teilnahmen; aus Italien waren, außer mir, Vladimiro Giacch~ und Francesco Manngiö dabei, aus Deutschland Susanne Müller und Michael Schlick. Das Folgende ist kein Tagebuch und keine Chronik; es handelt sich um Bemerkungen, die von einem außergewöhnlichen Erlebnis angeregt wurden.

1. Das erste, was einem auffällt beim Gespräch mit Vertretern der Chinesischen KP und mit den Leitern der Fabriken, der Schulen und der Wohngebiete, die wir besucht haben, ist der selbstkritische Ton, ja geradezu die Leidenschaft zur Selbstkritik, die unsere Gesprächspartner an den Tag legen. In dieser Hinsicht ist der Bruch mit der Tradition des realen Sozialismus eindeutig. Die chinesischen Kommunisten werden nicht müde zu unterstreichen, dass noch ein langer Weg zurückzulegen sei, dass die Probleme, die es zu lösen, und die Herausforderungen, denen es zu begegnen gelte, zahlreich und gigantisch seien und dass auf jeden Fall ihr Land noch immer ein integrierender Teil der Dritten Welt sei.

In Wahrheit aber sind wir auf unserer Reise der Dritten Welt nie begegnet. Gewiss nicht in Peking, das schon mit seinem hypermodernen und glitzernden Flughafen fasziniert, und noch weniger in Qingdao, wo 2008 die olympischen Regatten stattgefunden haben und das an eine westliche Stadt von besonderer Schönheit und Eleganz und mit gehobenem Lebensstandard denken lässt. Der Dritten Welt sind wir nicht einmal begegnet, als wir, 1500 km von den Küstengebieten Ostchinas entfernt, es sind die entwickeltsten Regionen, in Chongqing landeten, der Riesenstadt, die insgesamt 32 Millionen Einwohner zählt1 und die noch vor wenigen Jahren mühsam dem Wirtschaftswunder nachzujagen schien. Zweifellos gibt es die Dritte Welt noch in dem großen asiatischen Land, doch die fehlende Begegnung mit ihr ist nicht das Ergebnis des Wunsches, uns die Schwachpunkte des heutigen China zu verbergen, sondern des Umstands, dass das nunmehr seit über drei Jahrzehnten stattfindende stürmische Wirtschaftswachstum das Gebiet der Unterentwicklung in raschem Tempo schrumpfen lässt und so in eine immer entlegenere Ferne verdrängt.

Im Westen fehlt es nicht an Leuten, die da den Mund verziehen: Entwicklung, Wachstum, Industrialisierung, Urbanisierung, Wirtschaftswunder von einer Größe und Dauer ohne Beispiel in der Geschichte — wie vulgär! Diesem Snobismus gilt als irrelevant, dass Hunderte von Millionen Menschen einem Schicksal entkommen sind, das sie zu Unterernährung, zu Hunger und sogar zum Hungertod verurteilte. Wer da behauptet, die Entwicklung der Produktivkräfte sei lediglich eine Frage von wirtschaftlichem Wohlstand und Konsumismus, der täte gut daran, die Seiten des „Kommunistischen Manifests“ nochmals

— oder erstmals — zu lesen, die den Idiotismus eines Landlebens hervorheben, das dem auch kulturellen Elend enger und unüberwindlicher Zwänge unterworfen ist. Beim heutigen Besuch des wunderbaren Kaiserpalasts, der sogenannten „Verbotenen Stadt“ in Peking und, nur wenige Kilometer entfernt, der Großen Mauer, stoßen wir auf ein Phänomen, das es 1973 und selbst 2000 noch nicht gab, in den Jahren meiner beiden früheren Chinareisen. Heute springt sofort die massenhafte Anwesenheit chinesischer Besucher ins Auge:

es sind Touristen mit besonderen Merkmalen; oft kommen sie aus einer fernen Gegend des riesigen Landes; vielleicht ist es ihr erster Besuch in der Hauptstadt; sie beginnen in gewisser Weise, sich die Kultur einer Nation von uralter Zivilisation anzueignen, deren Teil sie sind; sie hören auf, einfache Bauern zu sein, die an die von ihnen bebaute Scholle wie an ein Gefängnis gebunden sind, und werden wirklich Bürger eines immer weltoffeneren Landes.

Auch außerhalb der Öffnungszeiten der Monumente und Museen wimmelt es auf dem Tienanmen-Platz von Menschen: sie beobachten stolz den Fahnenappell der Volksrepublik China. Nein, das hat nichts Chauvinistisches an sich: die Chinesen lieben es, sich zusammen mit westlichen Besuchern fotografieren zu lassen (auch an mich wurden Bitten dieser Art gerichtet, und ich bin ihnen gerne nachgekommen); es ist, als ob sie die übrige Welt einladen wollten, mit ihnen die Rückkehr einer uralten Kultur zu feiern, die so lange vom Imperialismus unterdrückt und gedemütigt wurde. Kein Zweifel: die erstaunliche Entwicklun~ der Produktivkräfte hat Hunderte Millionen Menschen nicht nur aus Not und Elend befreit, sie hat auch ihre individuelle und nationale Würde gesichert, hat ihnen ermöglicht, den eigenen Horizont enorm zu erweitern und das große Land zu sehen, dessen Teil sie sind, und darüber hinaus die ganze Welt.

2. Aber ist Entwicklung der Produktivkräfte nicht gleichbedeutend mit Zerstörung der Natur? Es ist dies eine Sorge, ja Gewissheit, die gerade von der westlichen Linken besonders schrill hinausposaunt wird. Hier herrscht eine seltsame Auffassung von Natur: sie gilt als krank, wenn Pflanzen welken und verdorren, aber darf anscheinend als völlig gesund gelten, wenn Menschen massenweise dahinsiechen und sterben. Gewisse Ökologen vertiefen noch den Graben zwischen menschlicher und natürlicher Welt, den sie doch so heftig kritisieren. Konzentrieren wir uns aber ruhig auf die Natur im engeren Sinne. Vor einiger Zeit hat ein recht bekannter Historiker (Niall Ferguson) einen Artikel geschrieben, der auch im „Corriere della Sera“ veröffentlicht wurde, und der bereits im Titel den „Krieg Chinas gegen die Natur“ beklagte. In Wirklichkeit fällt uns schon auf dem langen Weg vom Pekinger Flughafen zur Großen Mauer wie auf dem einer anderen Strecke folgenden langen Weg vom Stadtzentrum zurück zum Flughafen die eindrucksvolle Zahl von offensichtlich erst jüngst gepflanzten Bäumen auf — Teil eines sehr ehrgeizigen Plans zur Aufforstung und Ausweitung der Waldfläche, der für das ganze Land gilt. Einige Tage vor dem Ende unserer Reise haben wir die Möglichkeit, ein 10 km2 großes Naturschutzgebiet in der Nähe von Weifang kennenzulernen, einer rasch wachsenden Stadt im Nordosten, die ein Hochtechnologie-Zentrum ist, sich aber zugleich um hohe Lebensqualität bemüht. Das Naturschutzgebiet, das frei und kostenlos zugänglich ist und nur zu Fuß oder in einem offenen Kleinbus mit Elektromotor besucht werden kann, entstand auf einem bis vor einiger Zeit stark vernutzten Territorium, das jetzt wieder in zauberhafter Schönheit und Ruhe erstrahlt. Der industrielle und ökonomische Fortschritt steht nicht in Widerspruch zum Schutz der Umwelt. Gewiss, diese beiden Erfordernisse in Einklang zu bringen ist besonders schwierig in einem Land wie China, das ein Fünftel der Weltbevölkerung ernähren muss, dem dafür aber nur ein Siebtel der landwirtschaftlichen Nutzfläche zur Verfügung steht: In diesen Rahmen müssen die begangenen Fehler gestellt werden und die schweren Umweltschäden der Jahre, in denen absolute Priorität ein Wirtschaftswachstum hatte, das der Unterernährung und dem Elend der Massen ein Ende setzten sollte. Aber diese Phase ist glücklicherweise überwunden: jetzt ist es möglich, einen Umweltschutz zu betreiben, der, wie das Leben und die Gesundheit der Pflanzen, auch das Leben und die Gesundheit der Menschen zu garantieren versteht.

3. Ich habe schon von der Leidenschaft zur Selbstkritik gesprochen, die für die chinesischen Kommunisten anscheinend charakteristisch ist. Sie betonen, wie unerträglich besonders das zunehmende Stadt-Land-Gefälle, der Unterschied zwischen den Küstengebieten einer- und der Mitte und dem Westen des Landes andrerseits sei. Sind diese Erscheinungen nicht ein Beweis für das kapitalistische Abdriften des Landes? Diese These ist bei der westlichen Linken weit verbreitet und wird anscheinend auch von einigen Mitgliedern unserer Vielparteien-Delegation geteilt. In die sich entwickelnde offene und lebhafte Debatte greife ich mit einer sozusagen „philosophischen“ Präzisierung ein. Man kann zwei sehr verschiedene Vergleiche anstellen. Wir können den „Marktsozialismus“ mit dem von uns erhofften Sozialismus, mit dem in gewisser Weise reifen Sozialismus vergleichen, und demnach die Grenzen, die Widersprüche, die Disharmonien, die Ungleichheiten hervorheben, welche ersteren kennzeichnen: die chinesischen Kommunisten selbst betonen, dass das von ihnen geführte Land lediglich das „erste Stadium des Sozialismus“ erreicht habe, ein Stadium, das bis zur Mitte dieses Jahrhunderts dauern soll, was die Langwierigkeit und Komplexität des Übergangsprozesses bestätigt, der im Aufbau einer neuen Gesellschaft mündet. Aber deshalb darf der „Marktsozialismus“ nicht mit dem Kapitalismus in einen Topf geworfen werden. Eine Metapher mag die radikale Differenz, die zwischen beiden besteht, illustrieren. In China haben wir es mit zwei Zügen zu tun, die von der „Unterentwicklung“ genannten Station in Richtung der Station „Entwicklung“ fahren. Ja, einer der beiden Züge ist superschnell, der andere fährt mit geringerer Geschwindigkeit: deshalb wächst der Abstand zwischen den beiden, aber es darf dabei nicht vergessen werden, dass sich beide auf dasselbe Ziel zubewegen, und zugleich fehlt es nicht an Kräften, um die Geschwindigkeit des langsameren Zuges zu erhöhen, und werden, infolge der Urbanisierung, auch die Passagiere des superschnellen Zuges immer zahlreicher. Im Kapitalismus dagegen bewegen sich die beiden Züge in entgegengesetzte Richtung. Die jüngste Krise hat aller Welt einen sich seit Jahrzehnten vollziehenden Prozess vor Augen geführt: die Verelendung der Volksmassen und die Demontage des Sozialstaats gehen Hand in Hand mit der Konzentration des gesellschaftlichen Reichtums in den Händen einer kleinen parasitären Oligarchie.

4. Jedenfalls wächst unter den chinesischen Kommunisten die Unduldsamkeit gegenüber dem Gefälle zwischen den Küstengebieten und dem Landesinnern, zwischen Stadt und Land und innerhalb der Städte selbst. Diese Haltung wird von der ganzen westeuropäischen Delegation mit Überraschung und Genugtuung wahrgenommen. Man spürt die Unduldsamkeit besonders scharf in Chongqing, der 1 500 km von der Küste entfernten Metropole. Die Forderung (Go West!), das Wirtschaftswunder des Ostens auf das Zentrum und den Westen auszuweiten, wurde schon vor zehn Jahren erhoben. Die ersten Resultate werden sichtbar: Tibet und die innere Mongolei wiesen in den letzten Jahren ein Entwicklungstempo auf, das über dem nationalen Durchschnitt lag. Für Xinjiang gilt das nicht; hier ist das BIP in 2009 (dem Krisenjahr) „nur“ um 8,1 % gewachsen, bei einem nationalen Durchschnitt von 8,7 %. Und gerade über Xinjiang hat sich in den letzten Wochen und Monaten eine neue Flut von finanziellen Anreizen ergossen. Doch jetzt geht es darum, die Politik des Go West! auch außerhalb der von nationalen Minderheiten bewohnten Gebiete, denen die Zentralregierung offensichtlich besondere Aufmerksamkeit widmet, entschieden zu beschleunigen und ihr noch mehr Gewicht zu geben.

Chongqing, wie Peking, Shanghai und Tianjin eine autonome, regierungsunmittelbare Stadt geworden, die somit Anreize und Fördermittel jeglicher Art in Anspruch nehmen kann, will das neue Shanghai werden, will also nicht nur die Rückständigkeit überwinden, sondern das Niveau des fortgeschrittensten Chinas erreichen und eine Adresse von Welt-rang werden. Die Megalopole im Innern des großen asiatischen Landes stellt sich uns als eine enorme Baustelle dar: die Arbeiten zur Verbesserung der Infrastruktur, zum Bau von Fabriken, von Büro- und Wohngebäuden sind in vollem Gange; lange Reihen jüngst gepflanzter und eifersüchtig bewachter Bäume springen ins Auge, grüne Hecken, die auch Straßen und Autobahnen säumen und zuweilen teilen. Ja, denn Chongqing verfolgt, jenseits des Wirtschaftswunders, ein noch ehrgeizigeres Ziel: es will sich der ganzen Nation als ein „neues Modell“ der Entwicklung vorstellen und auf bessere und „harmonischere“ Weise die Beziehungen innerhalb der Stadt, zwischen Stadt und Land und zwischen Mensch und Natur regeln. In dieser Stadt, die das neue Shanghai werden soll, wird beständig auf Mao Zedong Bezug genommen, und es handelt sich dabei nicht nur um die gebührende Verehrung des großen Vorkämpfers im nationalen Befreiungskampf des chinesischen Volkes, des Vaters des Vaterlands, der nicht zufällig auf dem Tienanmen-Platz ebenso präsent ist wie auf den Geldscheinen; vielmehr wird der Verweis auf die „Lehre Mao Zedongs“ ernst genommen, die das Statut der Chinesischen KP bekräftigt. In Chongqing gewinnt man den Eindruck, dass die Diskussion und vermutlich auch der politische Kampf in Vofbereitung des Parteitags, der in zwei Jahren stattfinden soll, bereits begonnen haben.

An diesem Punkt soll gleich ein mögliches Missverständnis ausgeräumt werden: die Politik der Reform und der Öffnung, die vor über 30 Jahren vom 3. Plenum des XI. Zentralkomitees (18.-22. Dezember 1978) beschlossen wurde, steht nicht zur Debatte; im Statut der KPCh werden auch die „Theorie Deng Xiaopings“ und die „wichtige Idee der drei Vertretungen“ bekräftigt, auch wenn die Kategorie der „Lehre“ eine strategisch größere Bedeutung signalisiert als die Kategorie der „Theorie“ (die sich auf eine bestimmte Phase, und sei es auch eine von langer Dauer, bezieht) und die Kategorie der „Idee“ (welche, so „wichtig“ sie sein mag, einen Beitrag unter einem ganz bestimmten Aspekt bezeichnet). Vor allem will niemand zu Verhältnissen zurückkehren, in denen in China mehr „Gleichheit“ lediglich in dem Sinne herrschte, dass die beiden metaphorischen Züge, von denen ich gesprochen habe, an der Station „Unterentwicklung“ stoppten oder sich von ihr nur langsam entfernten. Nein, heute darf man die Überzeugung, dass Sozialismus nichts mit gleicher Verteilung des Elends zu tun hat, als endgültig durchsetzt betrachten. Umso mehr, als diese Art „Gleichheit“ völlig illusorisch ist und sich sogar in ihr Gegenteil verkehren kann. Wenn nämlich die Not ein bestimmtes Maß erreicht, kann sie die Gefahr des Hungertods mit sich bringen. In diesem Falle führt das Stück Brot, das den Glücklicheren das Überleben sichert, zu absoluter Ungleichheit, der absoluten Ungleichheit, die zwischen Leben und Tod besteht. Genau dies hat sich vor der Einführung der Politik der Reformen und der Öffnung in den tragischsten Jahren der Volksrepublik China vollzogen, als Folge teils des katastrophalen Erbes, das die imperialistische Ausplünderung und Unterdrückung hinterlassen hatte, teils des schändlichen vom Westen verhängten Embargos, teils aufgrund schwerer Fehler der neuen politischen Führung. Dass der Aufgabe, die Produktivkräfte zu entwickeln, deshalb zentrale Bedeutung zukommt, steht deshalb fest; doch diese zentrale Bedeutung kann auf recht unterschiedliche Weise ausgelegt werden...

5. An die Spitze Chongqings wurde Bo Xilai berufen, zuvor brillanter Außenhandelsminister. Das veranlasst uns, über die Formierung des Führungskaders in China nachzudenken. Ein Vertreter der Zentralregierung, der sich bei der Erfüllung seiner Aufgabe besonders hervorgetan und auch auf internationaler Ebene Ansehen erworben hat, wird in die Provinz geschickt, um sich dort einer Herausforderung anderer Art und gigantischen Ausmaßes zu stellen. Mit seinem flächendeckenden und radikalen Kampf gegen die Korruption, mit der theoretischen und praktischen Propagierung eines „neuen Modells“, mit dem Bemühen, so rasch wie möglich bei der Liquidierung der unerträglich gewordenen Ungleichheiten und der Realisierung der „harmonischen Gesellschaft“ voranzukommen, hat Bo Xilai eine nationale Debatte ausgelöst: man kann sich gut vorstellen, dass er nach dem XVIII. Parteitag der KP Chinas eine führende Rolle spielen wird, auch wenn es falsch wäre zu glauben, das Ergebnis der derzeitigen Debatte (und des politischen Kampfes) stünde schon fest. Nach einer Periode voller Ungewissheiten, Konflikte und Risse folgte nämlich der ersten Generation von Revolutionären um Mao Zedong die zweite Generation von Revolutionären um Deng Xiaoping. Dann folgten eine dritte und eine vierte Generation von Revolutionären um Jiang Zemin bzw. Hu Jintao. Aus dem nächsten Parteitag wird eine fünfte Generation von Revolutionären hervorgehen. Von diesem Ansatz ging seinerzeit Deng Xiaoping aus und hat damit seine Weitsicht und seine Nüchternheit beim Aufbau der Partei und des Staates bewiesen: überwunden sind die Personalisierung der Macht und der Personen-kult; Schluss gemacht wurde mit der lebenslänglichen Wahrnehmung politischer Funktionen; es hat sich ein Prozess der Formierung und der Selektion der Führungskader durchgesetzt, der bis jetzt hervorragende Ergebnisse gezeitigt hat.

6. Doch inwieweit kann man den „Marktsozialismus“, der von der KP Chinas propagiert und praktiziert wird, als sozialistisch betrachten? In der bunten Delegation aus dem Westen mangelt es nicht an Zweifeln, Ratlosigkeit, offener Kritik. Es entwickelt sich eine offene und lebhafte Diskussion, die von unseren Gesprächspartnern und Gastgebern ein weiteres Mal ermuntert wird. Mit der Durchsetzung der Politik der Reformen und der Öffnung wurde zweifellos der Bereich der staatlichen Wirtschaft reduziert und jener der Privatwirtschaft ausgeweitet: haben wir es mit einer Restauration des Kapitalismus zu tun? Die chinesischen Kommunisten behaupten, die zentrale und führende Rolle des Staates (und der kommunistischen Partei) bleibe gesichert: ist es wirklich so?

Das sozialökonomische Panorama des heutigen China ist durch ein Nebeneinander sehr unterschiedlicher Eigentumsformen gekennzeichnet: Staatseigentum; öffentliches Eigentum (in diesem Fall ist der Eigentümer nicht der Zentralstaat, sondern zum Beispiel eine Stadt); Aktiengesellschaften, bei denen die öffentliche Hand die absolute oder die relative Mehrheit oder einen bedeutenden Teil des Aktienpakets hält; genossenschaftliches Eigentum; Privateigentum. Angesichts dessen ist es ziemlich schwierig, den prozentualen Anteil der öffentlichen Hand an der Wirtschaft genau zu bestimmen. Nach Hause zurückgekehrt, finde ich eine besonders interessante Ausgabe der „International Herald Tribune“ vor: ich finde darin die Berechnung eines Professors der renommierten Yale-Universität, genau gesagt von Chen Ziwu (also einem Amerikaner chinesischer Abstammung, dem es deshalb wahrscheinlich leichter fällt, sich in der chinesischen Ökonomie zurechtzufinden); ihm zufolge „kontrolliert der Staat drei Viertel des Vermögens Chinas“ (IHT v. 7.7.2010, S. 18). Dem muss eine Tatsache hinzugefügt werden, die im Allgemeinen vernachlässigt wird:

in China ist das Bodeneigentum völlig in staatlicher Hand; die Bauern genießen zwar die Nutzungsrechte an dem von ihnen bebauten Land, können sie auch verkaufen, nicht aber das Eigentum. Was die Industrie betrifft, sprechen andere Berechnungen zwar von einem geringeren Einfluss des Staates. Auf jeden Fall aber wäre es völlig abwegig, einen graduellen und unumkehrbaren Prozess des Rückzugs des Staats aus der Wirtschaft zu unterstellen. In der „Newsweek“ vom 12. Juli 2010 lenkt ein Beitrag von Isaac Stone Fish die Aufmerksamkeit auf die „Unternehmen in staatlicher Hand, die zunehmend die chinesische Wirtschaft beherrschen“. Jedenfalls, betont das US-amerikanische Wochenjournal, werde bei der Entwicklung des Westens (die sich jetzt in ihrer ganzen Breite und Tiefe zeigt) das Privatunternehmen eine erheblich geringere Rolle spielen als die, die es seinerzeit bei der Entwicklung des Ostens innehatte.

Die chinesischen Genossen machen uns darauf aufmerksam, dass der privatwirtschaftliche Sektor, indem er starke Elemente der Konkurrenz einführte, letztlich zur Stärkung des staatlichen und öffentlichen Sektors beigetragen habe, da dieser gezwungen wurde, Bürokratismus, Leerlauf, Ineffizienz, Vetternwirtschaft abzulegen. Tatsächlich erfreuen sich die staatlichen oder vom Staat kontrollierten Unternehmen dank der Reformen Deng Xiaopings heute einer Solidität und internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die ohne Beispiel in der Geschichte des Sozialismus ist. Das wird von einer Ausgabe des „Economist“ (10.-16. Juli 2010) bestätigt, die ich auf dem komfortablen Flughafen von Peking vor dem Rückflug nach Italien kaufe und lese: der Leitartikel unterstreicht, dass heute vier der zehn wichtigsten Banken der Welt in chinesischer Hand sind. Sie seien, im Unterschied zu den westlichen Banken, sehr gesund, „bringen Geld ein“, doch „der Staat hält das Mehrheitspaket und die kommunistische Partei nominiert die entscheidenden Führungskräfte, deren Vergütung nur einen Bruchteil derer ihrer westlichen Kollegen ausmacht“. Mehr noch, diese Manager „sind einer höheren Autorität als der der Börse verantwortlich“, nämlich der Autorität eines von der kommunistischen Partei geführten Staates. Die angesehene britische Wirtschaftszeitschrift kann diese unerhörte Neuigkeit nicht fassen; sie hofft und w&tet, dass sich die Dinge in Zukunft ändern werden. Doch bleibt erst mal als Fakt vor aller Augen: staatliche und öffentliche Wirtschaft ist kein Synonym für Ineffizienz, wie die Paladine des Neoliberalismus behaupten, und die Banken müssen ihre Führungskräfte auch nicht wie Fürsten bezahlen, um auf dem nationalen und internationalen Markt wettbewerbsfähig zu sein.

7. Wahrscheinlich befriedigt der private Wirtschaftssektor weitere Bedürfnisse. Indes erleichtert er die Einführung der fortgeschrittensten Technologie der kapitalistischen Länder: vergessen wir nicht, dass die USA dies noch immer durch ein Embargo gegen China zu verhindern versuchen. Aber da ist noch ein anderer Punkt, auf den ich beim Besuch des höchst modernen Industrieparks von Weifang stoße. In einigen Fällen haben Chinesen aus Übersee die Privatunternehmen gegründet:

sie haben im Ausland studiert (vor allem in den USA), mit allerbesten Ergebnissen, und haben zuweilen ein gewisses Kapital angesammelt. Jetzt kehren sie in ihre Heimat zurück und treffen damit eine Entscheidung, die in den Ländern, in denen sie sich aufgehalten hatten, Bestürzung hervorruft: wie ist es nur möglich, dass erstrangige Intellektuelle der „Demokratie“ den Rücken kehren, um in die „Diktatur“ zurückzukehren? Neben dem patriotischen Ruf, sich an dem gemeinsamen Bemühen eines ganzen Volkes zu beteiligen, damit China das höchsten Niveau der Entwicklung, der Technik und der Kultur erreicht, verlockt diese Überseechinesen auch die Aussicht, ihr Talent und ihre Erfahrungen in die Universitäten und in die privaten Hochtechnologie-Unternehmen einzubringen, die sich ihnen dort eröffnet. In anderen Worten, wir haben es mit einer Fortsetzung der Einheitsfrontpolitik zu tun, die von Mao nicht nur während des revolutionären Befreiungskampfs, sondern auch etliche Jahre nach der Gründung der Volksrepublik China formuliert und praktiziert wurde.

Doch betreten wir endlich diese Unternehmen in Privateigentum. Mit oder ohne Auslandschinesen halten sie große Überraschungen für uns bereit. Uns begegnen vor allem Mitglieder des Parteikomitees, deren Fotos in verschiedenen Abteilungen zu sehen sind. Aus ihren Berichten ergibt sich fast beiläufig ein Bild von den Zwängen, die auf dem Eigentum lasten. Es wird stimuliert oder gedrängt, einen festen Teil des Profits (manchmal bis zu 40 %) in die technologische Entwicklung des Unternehmens zu reinvestieren; ein anderer Teil des Profits, dessen Prozentsatz schwer zu berechnen ist, geht in Ausgaben für soziale Zwecke (beispielsweise den Bau von Fachschulen, die danach dem Staat oder einer Stadt gestiftet werden, oder die Hilfe für die Opfer einer Naturkatastrophe). Wenn man sich vergegenwärtigt, dass diese Privatunternehmen weitgehend abhängig sind von den Krediten, die ihnen ein vom Staat kontrolliertes Bankensystem gewährt, und wenn man außerdem die Präsenz von Partei und Gewerkschaft im Betrieb bedenkt, liegt der Schluss nahe: selbst in diesen Privatunternehmen wird die Macht des Privateigentums durch eine Art Gegenmacht beschränkt und wettgemacht.

Aber welche Rolle spielen Partei und Gewerkschaft? Die Antworten, die wir erhalten, befriedigen nicht alle Mitglieder unserer Delegation. Einige folgen einer in der West-Linken sehr verbreiteten Tendenz und richten ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Höhe der Löhne. Die chinesischen Gesprächspartner dagegen geben zu verstehen, dass es ihnen nicht nur um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, sondern auch um den Beitrag geht, den ihr Unternehmen zum wirtschaftlichen und technischen Fortschritt des gesamten Landes leisten kann. Bei diesem Gedankenaustausch sehen wir die beiden Figuren aus Lenins „Was tun?“ wieder auftauchen. Der Vertreter der westlichen Linken, der die chinesischen Arbeiter auffordert, in ihrem Kampf um höhere Löhne jeglichen Kompromiss mit der Staatsmacht abzulehnen, glaubt radikal und sogar revolutionär zu sein. In Wirklichkeit verhält er sich nicht anders als der Reformist oder, schlimmer, der „Sekretär einer Trade-Union“, dem Lenin vorwarf, den Emanzipationskampf in seinen verschiedenen nationalen und internationalen Aspekten aus dem Blick zu verlieren und so bisweilen die Stütze „einer Nation [zu werden}, die die ganze Welt exploitiert“ (damals Englands).

Ganz anders verhält sich der revolutionäre „Volkstribun“. Gewiss, die Lage ist heute eine ganz andere als 1902 (dem Jahr, in dem „Was tun?“ erschien). Inzwischen kann in China der „Volkstribun“ mit der Unterstützung der politischen Macht rechnen; doch muss er auch heute, um revolutionär zu sein, die Lehre Lenins berücksichtigen und es verstehen, die Gesamtheit der politischen und sozialen Verhältnisse auf nationaler und internationaler Ebene zu beachten. Eine ständige Erhöhung der Löhne ist nötig und ist auch bereits im Gange, begünstigt oder vorangetrieben von der Zentralregierung selbst (wie die Weltpresse einräumt); doch diese will eben nicht nur die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft verbessern, sondern darüber hinaus den technischen Gehalt der Industrieprodukte erhöhen, deshalb die chinesische Wirtschaft in ihrer Gesamtheit festigen und sie auch weniger abhängig von Exporten machen. Die (berechtigten) direkten Lohnforderungen dürfen das strategische Ziel nicht gefährden, ein Land zu stärken, das mit seiner schieren ökonomischen Entwicklung den Plänen des Imperialismus — oder des „Hegemonismus“, wie unsere chinesischen Gesprächspartner diplomatischer zu sagen pflegen — im Wege steht.

8. Schließlich der letzte Stein des Anstoßes: seit ein paar Jahren sind gemäß der „wichtigen Idee der drei Vertretungen“ auch Unternehmer zu den Reihen der Partei zugelassen. Und erneut äußern einige Mitglieder der europäischen Delegation Besorgnisse und Ängste: verbürgerlicht die Partei, die die sozialistische Marschrichtung der Marktwirtschaft garantieren sollte? Einleitend weisen die chinesischen Gesprächspartner darauf hin, dass die Zahl der (nach einem rigorosen Prüfungs- und Auswahiprozess) in die Partei aufgenommenen Unternehmer angesichts einer Mitgliederzahl von fast 80 Millionen völlig irrelevant ist; es handle sich um eine bloß symbolische Präsenz. Doch diese Erklärung ist unzureichend. Wir haben gesehen, dass einige dieser Unternehmer eine nationale Funktion erfüllen: in einigen Bereichen der Wirtschaft haben sie die technologische Abhängigkeit Chinas vom Ausland beseitigt oder reduziert; zuweilen haben einige von ihnen schon 1949 nicht nur objektiv, sondern auch ganz bewusst in der ersten Reihe des von der kommunistischen Partei begonnenen Kampfs gestanden, bei dem es darum ging, dem Imperialismus dadurch Schach zu bieten, dass nach der politischen auch die ökonomische und technologische Unabhängigkeit erobert wird. In einer Welt, die immer mehr durch die knowledge economy gekennzeichnet ist, durch eine Wirtschaft, die auf Wissen basiert, ist es möglich, dass der heroische Stachanow-Arbeiter der Sowjetunion Stalins die völlig neue Gestalt eines superspezialisierten Fachmanns annimmt, der ein Unternehmen von hohem technologischen Wert eröffnet und so einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung und Stärkung des sozialistischen Vaterlands leistet.

Eine weitere Überlegung. Auf der Welle des „Marktsozialismus“ hat sich eine neue, sich rasch vergrößernde bürgerliche Schicht herauszubilden begonnen. Die Kooptation einiger ihrer Mitglieder in die kommunistische Partei „enthauptet“ diese neue Schicht politisch, in derselben Weise wie in einer bürgerlichen Gesellschaft die Kooptation einiger Persönlichkeiten aus der Arbeiterklasse oder den Volksschichten durch die herrschende Klasse zur politischen Enthauptung der subalternen Klassen beiträgt.

9. Der Augenblick ist gekommen, Bilanz zu ziehen. In meinem holprigen Englisch trage ich sie bei einigen Essen und vor allem bei dem Abendessen vor unserer Abreise vor, an dem unter anderen Huang Huaguang, Generaldirektor des Amts für Westeuropa der Internationalen Abteilung des ZKs der KPC teilnimmt. Alle Reiseteilnehmer werden gebeten, sich sehr freimütig zu äußern. In meinen Diskussionsbeiträgen versuche ich, auch auf die anderen Teilnehmer der Delegation und viefleicht vor allem auf sie einzugehen.

Wenn die chinesischen Kommunisten erklären, sie befänden sich noch im ersten Stadium des Sozialismus und vorhersagen, dass dieses Stadium bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts dauern werde, anerkennen sie indirekt die Rolle, die den kapitalistischen Verhältnissen in ihrem riesigen und vielfältigen Land weiterhin zukommt. Andrerseits ist unübersehbar, dass das Monopol der politischen Macht bei der kommunistischen Partei (und den acht kleinen Parteien, die ihre Führung anerkennen) liegt. Dem aufmerksamen Beobachter kann eigentlich nicht entgehen, dass die Privatunternehmen, angesichts ihrer subalternen ökonomischen, politischen und soziale Position, stimuliert, gedrängt und gezwungen sind, mehr als der Logik des Maximalprofits einer anderen und höheren Logik zu gehorchen: der des immer breiteren und tiefergehenden wirtschaftlichen Fortschritts sowie der Stärkung der nationalen Technologie. Letztlich erweisen sich die Privatunternehmen, durch eine Reihe von Vermittlungen, als dem „Marktsozialismus“ unterworfen oder untergeordnet. Und daher sind die moralisierenden Predigten, die eine gewisse West-Linke nicht müde wird an die chinesische KP zu richten, teils überflüssig, teils unbegründet und haltlos.

Natürlich ist es völlig legitim, Zweifel und Kritik am „Marktsozialismus“ zu äußern. Doch zumindest in einer Frage, meine ich, sollte die Linke sich einigen können. Die von Deng Xiaoping eingeleitete Politik der Reform und der Öffnung hat durchaus nicht dazu geführt, dass sich China dem kapitalistischen Westen angeglichen hätte, als ob alle Welt heute durch eine eintönige Ruhe gekennzeichnet wäre. In Wirklichkeit hat sich gerade seit 1979 ein Kampf entwickelt, der oberflächlicheren Beobachtern zwar entgangen ist, dessen Bedeutung aber immer klarer zutage tritt. Die USA und ihre Verbündeten hofften eine internationale Arbeitsteilung festschreiben zu können, der zufolge China sich mit der Produktion billiger Waren ohne wirklichen technischen Gehalt hätte abfinden müssen. In anderen Worten, sie hofften, das westliche Technologie-Monopol erhalten und verstärken zu können: auf dieser Ebene sollte China, wie die ganze Dritte Welt, weiterhin von der kapitalistischen Metropole abhängig bleiben. Verständlicherweise haben die chinesischen Kommunisten im Kampf darum, dieses neokolonialistische Projekt zu Fall zu bringen, eine Fortsetzung des nationalen Befreiungskampfs gesehen: es gibt keine wirkliche politische Unabhängigkeit ohne ökonomische Unabhängigkeit; zumindest denjenigen, die sich auf den Marxismus berufen, sollte dies klar sein! Dank der erhofften Beibehaltung ihres Technologie-Monopols wollten die USA und ihre Verbündeten weiterhin die Bedingungen der internationalen Beziehungen diktieren. Mit seiner außerordentlichen wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung hat China den Weg zur Demokratisierung der internationalen Beziehungen geöffnet. Dafür müssten dem Land nicht nur die Kommunisten, sondern auch jeder wirkliche Demokrat dankbar sein: es gibt heute bessere Bedingungen für die politische und wirtschaftliche Emanzipation der Dritten Welt. Dabei sollte ein Missverständnis ausgeräumt werden, das die Verständigung zwischen der KPCh und der westlichen Linken erschwert. Wenn auch unter Schwankungen und Widersprüchen unterschiedlichster Art, war die VR China seit ihrer Gründung damit beschäftigt, gegen nicht nur eine, sondern zwei Ungleichheiten zu kämpfen, eine im Innern, die andere internationaler Art. Als Deng Xiaoping in einem Gespräch vom 10. Oktober 1978 die Notwendigkeit der von ihm gewünschten Politik der Reformen und der Öffnung begründete, verwies er darauf, dass sich der technologische Abstand zu den fortgeschrittensten Ländern ständig vergrößere. Diese entwickelten sich „mit einer fürchterlichen Geschwindigkeit“, während China in Gefahr sei, immer weiter zurückzufallen (Selected Works, Bd. 2, £ 143). Und wenn das Land die neue technologische Revolution verpasst hätte, wäre es in eine ähnliche Situation der Schwäche geraten wie jene, in der es wehrlos den Opiumkriegen und der Aggression des Imperialismus ausgeliefert war. Und China hätte damit nicht nur sich selbst, sondern auch der Sache der Emanzipation der Dritten Welt in ihrer Gesamtheit enorm geschadet. Es darf hinzugefügt werden, dass es China dadurch, dass es verstand, die (ökonomische und technologische) Ungleichheit drastisch zu verringern, heute auch dank der inzwischen akkumulierten ökonomischen und technologischen Ressourcen leichter fällt, den Kampf gegen die Ungleichheiten im Innern aufzunehmen. Das „Jahrhundert der Erniedrigung“ Chinas (die Periode von 1840 bis 1949, also vom ersten Opiumkrieg bis zur Eroberung der Macht durch die KPCh) fiel historisch zusammen mit dem Jahrhundert der tiefsten moralischen Depravation des Westens: die Opium-kriege mit der Verwüstung des Sommerpalasts in Peking sowie der Zerstörung und dem Raub der in ihm enthaltenen Kunstschätze, kolonialer Expansionismus mit der Versklavung und dem Völkermord an den „niederen Rassen“, imperialistische Kriege, Faschismus und Nazismus mit dem Gipfel der kapitalistischen, kolonialistischen und rassistischen Barbarei. Aus der Art und Weise, in der der Westen der Wiedergeburt und Rückkehr Chinas begegnet, wird sich ablesen lassen, ob er wirklich entschlossen ist, mit dem Jahrhundert seiner tiefsten moralischen Depravation abzurechnen. Möge doch wenigstens die Linke es verstehen, Sprachrohr der fortschrittlichsten Kultur des Westens zu werden!

 

Aus dem Italienischen von Hermann Kopp.

 

1 Diese Zahl bezieht sich auf das gesamte Verwaltungsgebiet der Stadt, das mit 82 403 km2 fast so groß ist wie Österreich und überwiegend aus ländlichen Gebieten besteht. In der Kernstadt (hohe Bebauungsdichte und geschlossene Ortsform) leben 4,3 Millionen, im Ballungsraum (einschließlich Vororte) 7,7 Millionen Menschen (2007); nach wikipedia — HK.