Rede zum Angela-Davis-Kongress 1972

Im Zeichen der Gewalt

Die gegenwärtige Debatte in den Massenmedien über die Generation der "68ern" wird wieder einmal an der Gewaltfrage festgemacht...

Die gegenwärtige Debatte in den Massenmedien über die Generation der "68ern"
wird wieder einmal an der Gewaltfrage festgemacht und dabei kennt sie nur eine
Gewalt, die "Gewalt der Straße". Die Ursachen für den Protest vor allem junger
Menschen bleiben ausgeblendet, genauso wie die damalige heftige Debatte
innerhalb der "Linken" über Widerstandsformen und Gewalt. Die Rede des
Soziologen Oskar Negt, die er am 3. Juli 1972 auf dem Frankfurter Opernplatz
gehalten hat, geht ein auf das Verhältnis "Gewalt von oben und Gewalt von unten".
Gleichzeitig setzt er sich mit den Methoden des individuellen Terrors auseinander.
Er eröffnete mit dieser Rede den Angela-Davis-Solidaritätskongress, der vom
Sozialistischen Büro in Offenbach organisiert wurde. Die mit der Todesstrafe
bedrohte US-Bürgerrechtlerin war im Februar 1972 nach einjähriger Haft und
zahlreichen Protestaktionen in den USA und in Europa gegen eine Kaution von über
100. 000 Dollar freigelassen worden. Im Mittelpunkt des Frankfurter Kongress
stand das Verhältnis der Linken zur Gewalt und damit auch ihr Verhältnis zur
"Rote-Armee-Fraktion". Wir dokumentieren Negts Rede, leicht gekürzt, wie sie
damals in der SB-Zeitschrift "Links" veröffentlicht wurde.

Dieser heute beginnende Kongress steht wie kein anderer der westdeutschen
Nachkriegsgeschichte im Zeichen der Gewalt. Keine Pogromhetze gegen Linke, gegen
Universitäten, Schulen, gegen die politisch aufgewachte Intelligenz und gegen die rebellierende
Jugend dieses Landes wird uns aber davon abbringen, Gewalt nicht nur dort zu suchen und zu
verurteilen, wo es den herrschenden Gewalten gefällt. Wir werden diesen Kongress zum
Forum der Auseinandersetzung, der Anklage, des Widerstandes vor allem auch gegen jene
Gewaltformen machen, die sich unter dem Deckmantel biederer Friedfertigkeit verbergen.

Wer von Gewalt spricht und sie mit Entrüstung verurteilt, ohne gleichzeitig und in erster Linie
von Vietnam zu sprechen, ist ein Heuchler. Ehe es die Desperados der
Baader-Meinhof-Gruppe gab, gab es die mörderischen Aktionen der angeblich
fortgeschrittensten Demokratie der Welt gegen ein Volk, das sich nach jahrzehntelanger
Unterdrückung und Ausbeutung endgültig von seinen korrupten Cliquen, den Diems und
Thieus, befreien wollte.

Wo war die Entrüstung, ja auch nur die leise Andeutung eines Protestes unserer führenden
Politiker, die die Gewalt des Faschismus erlebt hatten, um ein Beispiel der Integrität des
politischen Verhaltens jener zu geben, die ihn nur aus Büchern kannten, aber eines sehr genau
begriffen hatten: dass politische Moral unteilbar ist; dass derjenige, der den Völkermord in
Vietnam toleriert oder gutheißt, das Recht verliert, im Namen der Demokratie zu sprechen;
dass der unglaubwürdig wird, der zwar den Antisemitismus der Nazis verurteilt, während er
für den gegenwärtigen Rassismus in der Welt, in Südafrika oder den Vereinigten Staaten,
wohlwollendes Verständnis aufbringt.

Vietnam ist zum Symbol der Gewalt für diese Generation geworden. Nicht nur die alltäglich
auf Vietnam niedergehende Bombenlast überschreitet bei weitem die des Zweiten
Weltkrieges; die mechanische Vernichtung von Menschenleben hat Ausmaße angenommen,
die sehr bald den Verwaltungsmassenmord des Dritten Reiches in den Schatten stellen
können. General Westmoreland hat als Oberkommandierender der amerikanischen Truppen in
Vietnam selbstsicher verkündet, dass "uns nicht mehr als zehn Jahre vom automatischen
Schlachtfeld trennen". - Diese Strategie wird heute in ganzer Brutalität befolgt. Die Visionen
dieses Generals vom kommenden Reich der Unfreiheit sind die Visionen eines geschichtlich
zum Untergang verurteilten Systems, das sich nur noch durch die Ausbildung von
technologischen Vernichtungsfantasien und Zerstörungspraktiken am Leben erhalten kann.
Der General sagt: "Ich sehe Schlachtfelder, auf welchen wir alles zerstören können . . . durch
sofortige Informationsaufnahme und fast sofortige Anwendung von tödlicher Zerstörungskraft.
Auf dem Schlachtfeld der Zukunft werden feindliche Kräfte lokalisiert, aufgespürt werden und
fast ohne Zeitverlust beschossen werden können . . . (automatisierte Feuerkontrolle sichert
eine) fast hundertprozentige Tötungswahrscheinlichkeit . . ." (zitiert: links, Nr. 7, Januar 1970,
S. 8).

Mittlerweile weiß jedermann, selbst die Frankfurter Allgemeine beginnt es zu ahnen, dass es
besonders in sozialrevolutionären Befreiungskriegen militärisch eingrenzbare Ziele nicht gibt;
die Bombardierungen nach Planquadraten treffen alles Leben. Es war der amerikanische
Präsident Johnson, der den Begriff der Vergeltung wieder in die politische Sprache einführte.
Was ist aber der Unterschied zwischen Strafexpeditionen der Nazis in Oradour und Lidice und
einem vernichteten vietnamesischen Dorf, wenn feststeht, dass es begrenzbare militärische
Ziele nicht gibt?

Studenten und Jugendliche waren die Einzigen, die das Grundrecht der Informationsfreiheit
ernst nahmen, um sich über Völkermordpraktiken auch verbündeter Nationen zu informieren
und öffentlich dagegen aufzutreten. Sie wollten nicht in die gleiche Situation kommen, in der
die Mitläufer und stillen Dulder des Naziregimes waren: von der Gewalt, von den
Konzentrationslagern nichts gewusst zu haben.

Auf ihren Protestdemonstrationen wurden sie geprügelt und beschimpft; für den großen Teil
war es die erste Erfahrung der manifesten Gewalt im eigenen Lande, und viele haben das bei
späteren Aktionen immer wieder bestätigt und niemals vergessen.

Das politische Bewusstein der ersten Generation, die vom Krieg nicht unmittelbar getroffen
war, entzündete sich am Krieg, an der Gewaltpraxis der alten und neuen Kolonialherren, die
mit Blut und Feuer ihre Herrschaft aufrechterhielten. An den großen Protestdemonstrationen,
die Jugendliche und Studenten gegen Tschombe und den Schah von Persien veranstalteten,
zogen mitunter noch Politiker mit, die aber sehr bald die gesicherte Karriere dem Risiko der
politischen Kompromisslosigkeit vorzogen.

Die erste zivile und politische Generation auf deutschem Boden, die aus der
Katastrophengeschichte der deutschen Jugend der letzten 50 Jahre etwas gelernt hatte, die
nicht bei jeder Gelegenheit nach dem Henker rief, die den stumpfsinnigen Hurra-Patriotismus
überwunden hatte, die, als die Ostpolitik noch das gewagte Abenteuer eines Kreuzzuges
gegen den Kommunismus war, für eine konsequente Anerkennung der von Hitler
geschaffenen Resultate des Zweiten Weltkrieges eintrat - diese zivile und politische
Generation stieß von Anbeginn auf eine Mauer von Aggression, von Unverständnis und
Dickfelligkeit der Politiker aller Parteien, die gerade die sensibelsten der Studenten und der
Jugendlichen besonders treffen musste.

Gerade in dieser Stunde ist es deshalb notwendig, an jenes fast auf den Tag genau fünf Jahre
zurückliegende Ereignis zu erinnern, an dem der neurotische, aufgehetzte Waffensammler
Kurras in Polizeidiensten Benno Ohnesorg erschoss - und schließlich freigesprochen wurde.
Und auch der wild gewordene Anstreicher, der ein Jahr später das Attentat auf Dutschke
verübte, ist nur das traurige Opfer der von der Springer-Presse und ihrem Anhang beharrlich
gesteuerten Saat der Gewalt gegen Andersdenkende, die längst noch nicht in ganzem Umfang
aufgegangen ist. Wenn Politiker der SPD heute davon sprechen, dass sie in den nächsten
Wahlkampf mit kugelsicheren Westen gehen müssten, so werden sie wissen, von welcher
Seite ihnen Gewalt droht. Wenn sie aber meinen, sie könnten das Schlagwort von den
Linksradikalen als eindeutige Bestimmung für Freund-Feind-Verhältnisse verwenden, so
unterliegen sie einer fatalen Täuschung: Es gibt kein objektives und eindeutiges Kriterium für
die Unterscheidung von rechts und links; das rituale Bekenntnis zur demokratischen
Grundordnung nützt gar nichts. Für Franz Josef Strauß ist bereits Karl Schiller ein
Linksradikaler.

In Deutschland besteht die gefährliche Neigung, grundlegende gesellschaftliche Konflikte
durch die Polizei zu lösen. Die Masse der Polizisten steht heute in allen kapitalistischen
Ländern an der vordersten Front der Klassenauseinandersetzungen. Sie holen für die, die mit
der Aufrechterhaltung dieser gesellschaftlichen Zustände profitable Interessen verbinden, die
Kastanien aus dem Feuer. Sie werden schlecht bezahlt; die Planstellenhierarchie ist so, dass
für den einfachen Polizisten praktisch nur geringe Chancen des Aufstiegs bestehen, während
der Abiturient, gar ein Akademiker, der von oben einsteigt, nach relativ kurzer Zeit Offizier
und Vorgesetzter wird. Das kann nicht die Sympathien für die Intellektuellen, mit denen sie
sich an den Universitäten und Schulen herumschlagen müssen, erhöhen. Das Wort von Rosa
Luxemburg, dass Soldaten und Politiker in Uniform gesteckte Proletarier sind, trifft heute
sicherlich nicht mehr in gleicher Weise zu; aber ihre Lebenssituation ist nicht besser als die der
Arbeiter. Das einzige Privileg, das sie haben, besteht in der legalen Abreaktion ihrer
Aggressionen, die bei ihnen nicht weniger als bei Studenten und anderen Menschen das
Produkt von Unterdrückung und Ausbeutung sind.

Wenn man ihnen heute wieder einzureden versucht, das Gewaltpotenzial dieser Gesellschaft
würde sich wesentlich durch die Zentralisierung der Verbrechensbekämpfung und den Ausbau
des Polizeiapparates verringern, wird sich dies als eine grandiose Täuschung erweisen. Die
Profilierungsbedürfnisse eines "liberalen" Innenministers, der sich als ein Mann von Recht und
Ordnung ins Bild setzen will, gehen auf die Amerikanisierung der Verbrechensbekämpfung,
die bei der chronischen Neigung der Deutschen, politische Konflikte als kriminelle Delikte zu
behandeln, für uns alle eine bedrohliche Entwicklung bedeutet.

Aber kein einziges Problem wäre dadurch gelöst. Denn der Nährboden von Krankheiten,
psychischer Zerrüttung, Aggressionen und Gewalt ist der kapitalistische Betrieb, ist die
bürgerliche Restfamilie, die ausgleichen soll, was anderswo entsteht; sind die Schulen, in
denen die Kinder in kleine Räume eingepfercht sind, so dass sie ihre sozialen Fähigkeiten nicht
entwickeln können; es sind die Universitäten mit vollgestopften Hörsälen, in denen
vernünftiges Leben kaum noch möglich ist; man sollte sich hüten, die linken Lehrer und
Hochschullehrer aus Schulen und Universitäten zu drängen, sie sind die einzigen, die durch
alltägliche Überstunden, durch Organisation kleiner Gruppen diesen katastrophalen Laden
überhaupt noch am Laufen halten.

Wissen die Politiker, die diese Probleme mit der Polizei lösen wollen, dass der Boden, auf dem
kriminelles Verhalten wächst, die missglückte Sozialisation in der Familie und in der Schule
ist?... Ein führender Arzt und enger Freund Nixons hat vorgeschlagen, Massenuntersuchungen
aller sechs- bis achtjährigen Kinder einzuleiten, ob sie kriminelle Verhaltensanlagen zeigen.
Für gestörte Kinder mit verbrecherischem Kern schlage er den Aufbau von
"Behandlungslagern" vor.

Wir wissen heute, dass kriminelles Verhalten ein gesellschaftliches Produkt ist. Würde man
nur einen Teil des Geldes, das für die oft aussichtslose Bekämpfung der Folgen, für
Gefängnisse, Irrenanstalten, für Polizei und Privatdetektive ausgegeben wird, für die
Bekämpfung der Ursachen verwenden, dann könnte man mit langfristigen Wirkungen
rechnen. Eine Gesellschaft, die diese Minimalaufgabe nicht zu lösen vermag, hat ihre
Berechtigung verloren.

Diese Einschätzung des bestehenden Gewaltpotenzials und der Aktionsstrategien der
herrschenden Gewalt gegenüber der sozialistischen und kommunistischen Linken darf uns
aber nicht den Blick dafür verstellen, unmissverständlich und in aller Öffentlichkeit zu erklären:
Es gab und gibt mit den unpolitischen Aktionen, für die die Gruppe um Andreas Baader und
Ulrike Meinhof die Verantwortung übernommen hat, nicht die geringste Gemeinsamkeit, die
die politische Linke der Bundesrepublik zur Solidarität veranlassen könnte. Das gilt im Grunde
für alle Fraktionen der Linken, die sich mehr und mehr auf eine langfristige, beharrliche, sehr
viel Klarheit erfordernde Politik eingestellt haben. Wer Politik zu einer individuellen Mutprobe
macht, ohne noch die sozialen Ziele und die einzelnen Veränderungsschritte angeben zu
können, wird allmählich Opfer der eigenen Illusionen. Er verkennt die Angst, die er verbreitet,
als politischen Erfolg.

Wer glaubt, mit exemplarisch gemeinten Aktionen, mit spektakulären Gefangenenbefreiungen,
Bankeinbrüchen, Bomben legen unter hiesigen Verhältnissen eine revolutionäre Situation
herstellen oder auch nur die Aktionsbasis erweitern zu können, errichtet eine
undurchdringliche Mauer zwischen sich und der gesellschaftlichen Erfahrung.

Verletzte oder getötete Springer-Journalisten tasten nicht den Springer-Konzern an; ein
verletzter oder getöteter Polizist mag den Polizeiapparat einen Augenblick verunsichern, aber
mit Sicherheit wird er ihn langfristig verstärken. Und eines kommt hinzu: So wenig der
Polizeiknüppel das Zentrum der reaktionären Gewalt ist, so wenig hat das geschickte
Bombenlegen irgendetwas mit revolutionärer Gewalt zu tun. Die Fanale, die sie mit ihren
Bomben setzen wollen, sind in Wirklichkeit Irrlichter.

Wenn überhaupt von zusammenhängenden Vorstellungen einzelner dieser Gruppen
gesprochen werden kann, so handelt es sich um ein Gemisch von Illegalitätsromantik, falscher
Einschätzung der gesellschaftlichen Situation als offener Faschismus und illegitimer
Übertragung von Stadtguerilla-Praktiken auf Verhältnisse, die nur aus einer
Verzweiflungssituation heraus mit Lateinamerika verwechselt werden können. In der Tat sind
es Verzweiflungsaktionen, die hier zur Diskussion stehen; und die politische Kritik an ihnen
besteht darin, dass sie lediglich die Krankheitssymptome dieser Gesellschaft auf einer anderen
Ebene widerspiegeln. Die Pathologie dieser Gruppen reicht nicht hin, auch nur die
pathologischen Erscheinungsformen des Kapitalismus zu treffen, sondern sie ist deren ganz
getreues Spiegelbild. Und weil diese Gruppen den Bedürfnissen des Systems
entgegenkommen, alle sozialistische Politik zu kriminalisieren, sollten sie ihren aussichtslosen
Kampf einstellen und ihre Niederlage offen eingestehen, um nicht noch andere, vor allem
Jüngere, in selbstmörderische Abenteuer hineinzuziehen.

Viele, die die Bitterkeit der erfahrenen Ohnmacht gegenüber der Polizei und den Gerichten
nach wie vor spüren und mit Sympathie über zwei Jahre hinweg die vom ohnmächtigen
Fahndungsapparat Verfolgten begleiteten, ohne allerdings die Rolle des distanzierten
Beobachters eines Politschauspiels aufzugeben, werden in dieser Distanzierung nur
Einseitigkeit, Verständnislosigkeit für die Motive und Konzeptionen der
Baader-Meinhof-Gruppe sehen. Was immer geschieht: für sie hat jeder, der etwas gegen das
System unternimmt, ganz unabhängig von der jeweiligen Beziehung zwischen Zielen und
eingesetzten Mitteln, einen verbürgten Anspruch auf Solidarität der gesamten Linken.

Aber die Mechanik der Solidarisierung zerstört jede sozialistische Politik. Sie ist das
schlechteste Erbteil der Protestbewegung. Die unter Solidarisierungszwang stehende Masse
der Politisierten, der Studenten, Schüler, Jungarbeiter, die sich mühsam von ihren Familien,
dem disziplinierenden Druck der Betriebe und der Ausbildungssituation abgesetzt haben,
verlieren allmählich die Fähigkeit, selber Erfahrungen zu machen. Ständig im Zugzwang, den
Anschluss an die radikalsten Positionen nicht zu verpassen, gewinnen sie ihre labile, außen
geleitete Identität aus der bloßen Identifizierung mit den Erfahrungen anderer. Selbst ernannte
Avantgarten, ob es sich nun um "Partei"-Gründungen oder um die "Rote Armee Fraktion"
handelt, spiegeln ihnen gesellschaftliche und geschichtliche Erfahrungen vor, die der einzelne,
der Schüler in der Schule, Arbeiter und Lehrling im Betrieb, Student in der Hochschule, in den
eigenen Arbeitszusammenhängen weder nachvollziehen noch auf politische Konsequenzen
bringen kann.

Und was bedeutet hier überhaupt Solidarität? Sie beruht stets auf Gegenseitigkeit. Ohne ein
Minimum an proletarischer Öffentlichkeit, ohne die Möglichkeit der aktiven Beteiligung an der
Diskussion über Strategie und Taktik, über geplante Aktionen, verliert Solidarität ihren
materiellen Boden; sie wird zu einer Form erpresserischer Solidarität, die auf
Trennungsängsten beruht, und diese schlägt mit Sicherheit auf die Akteure zurück. Durch sie
wird jeder, der seine eigene politische Existenzweise einem kurzfristigen Abenteuer nicht zu
opfern bereit ist, der keine aktive Hilfe leistet, wenn sie ungebeten und oft auch anonym vor
der Türe steht, mit dem Verratsstigma belastet. Der Versuch, jeden vor vollendete Tatsachen
zu stellen, mag nicht in ihrer Absicht liegen, aber eine politische Kritik an der Praxis der
Baader-Meinhof-Gruppe, an individuellem Terror, der zur Verschärfung der Klassenkämpfe
und zur gewalttätigen Selbstentlarvung des kapitalistischen Systems führen soll, ist auch gar
nicht auf der Ebene von guten Absichten und verstehbaren Motivationen möglich. Der
Knoten, der mechanisierte Solidarität, Minderwertigkeitskomplexe gegenüber der angeblich
großen, revolutionären Politik der "Rote Armee Fraktion", die die Alltagsarbeit der Basisarbeit
auf das Niveau blinder Handwerkelei herabdrückt, und verzerrte Realitätsauffassung
miteinander verknüpft, mit der fatalen Wirkung der Vernebelung der Gehirne zahlreicher
Einzelner innerhalb der Linken - dieser Knoten kann nur zerhauen, nicht mehr mit
behutsamem Verständnis aufgelöst werden.

Die Gleichung von Radikalität und revolutionärer Politik geht nicht auf; wenn Marx sagt,
radikal sein bedeutet die Sache an der Wurzel packen, die Wurzel für den Menschen sei aber
der Mensch, so kann sich keine sozialistische Politik von der Erfahrungsweise der Menschen,
vor allem der arbeitenden Massen, ungestraft ablösen. Eine Gruppe, die diesen Boden verlässt,
hat kein objektives Korrektiv mehr für die Überprüfung der politischen Wirksamkeit ihrer
Aktionen; sie folgt einer abstrakten Stufenleiter formaler Radikalität; da die Wirkungen sie
jedweder Kontrolle entziehen, muss jeder Aktion eine neue, radikalere aufgesetzt werden. Am
Ende steht die totale Isolierung, der als Offensivstrategie getarnte Rückzug auf das eigene
Überleben, dessen Ausweglosigkeit auch durch das gemeingefährliche Anlegen von
Waffenlagern in Hochhäusern und durch das Hin- und Herschleppen von Waffen und
Sprengstoff nicht zu verdecken ist. Dass die führenden Köpfe der "RAF" nach den
Bombenanschlägen fast mit einem Schlage gefasst werden konnten, ist weder dem Verrat
noch der gewachsenen Organisationsfähigkeit der Polizei zu danken, sondern der Logik ihrer
eigenen Strategie. Die Bomben haben die Massen aufgerüttelt, wachsam gemacht -
zweifellos. Aber nicht gegenüber dem Klassenfeind und den existierenden
Gewaltverhältnissen, sondern gegenüber den unmittelbaren Urhebern ihrer Angst.

Die mit der Baader-Meinhof-Gruppe im Bewusstsein der Linken entstandenen Probleme
stellen sich nicht in erster Linie auf einer moralischen Ebene - obwohl ohne politische Moral
revolutionäre Politik undenkbar ist. Der noch heute bei manchem, der kaum eigene politische
Erfahrungen gemacht hat, wirksame Komplex von Sentimentalität und Sympathie gegenüber
dieser Gruppe wird sich erst dann auflösen, wenn die eklatante Unangemessenheit von Mitteln
und Zielen ihrer Strategie und Taktik sichtbar wird. - Niemand verwechselt ungestraft
lateinamerikanische Militärdiktaturen, an deren konkreten Verhältnissen die ursprüngliche
Konzeption der Stadtguerilla entwickelt wurde, mit halbwegs funktionierenden
demokratisch-parlamentarischen Systemen, die sich im Ernstfall immer noch auf eine relativ
stabile Massenloyalität stützen können...

Die "Rote Armee Fraktion" hat die Absicht, die kapitalistischen Widersprüche auf die Spitze
zu treiben, um sie dem Volk durchsichtiger und erkennbarer zu machen. Was sie aber bewirkt
hat, ist das Gegenteil: Sie hat sie verschleiert. Der alten Täuschung, dass die revolutionären
Chancen um so größer sind, je stärker der staatliche Repressionsapparat ist, sind auch sie zum
Opfer gefallen. Denn revolutionäre Situationen stellen sich durch erhöhte Repression nur dann
her, wenn gleichzeitig das politische Herrschaftssystem, das staatliche Gewaltmonopol im
Zerfall begriffen ist. Erst dann suchen die Massen selbsttätig nach neuen politischen
Ausdrucksformen ihrer Lebensinteressen.

Wo dieses politische Herrschaftssystem, wie zur Zeit in der Bundesrepublik, relativ intakt und
aktionsfähig ist, bewirkt die voluntaristische Strategie der Verschärfung der Klassenkämpfe
nur die Einschnürung der Aktionsmöglichkeiten der gesamten Linken.

Die an diesen drei Komplexen aufgezeigte Verkehrung der Absichten und Motive der "RAF"
lässt sich an jedem anderen Punkt der Strategie und Taktik der Baader-Meinhof-Gruppe in
gleicher Weise nachweisen. Theorie und Praxis, die in der Stadtguerilla die einzig sinnvolle
organisatorische Einheit gewonnen haben soll, weisen bei keiner Gruppe der politischen Linken
so sehr auseinander wie bei der "Rote Armee Fraktion". Ihre Absichten und Motive, ihre
Deklamationen und Programme schlagen, weil sie bloß formal sind, die konkreten
Erfahrungszusammenhänge der Wirklichkeit nicht in sich enthalten, zwangsläufig in ihr
Gegenteil um. Das liegt nicht an diesen Absichten und Motiven, sondern an der Realität, auf
die sie bei der praktischen Aktion stoßen.

Jeder politisch ernst zu nehmende Sozialist muss heute begreifen, dass es ohne aktive
Unterstützung der Arbeiterklasse keine wirkliche Veränderung in diesem Lande gibt; wir
müssen uns mit aller Kraft dagegen wehren, uns die fatale Alternative von Bombenlegern und
Anpassung aufzwingen zu lassen. Die Arbeiterbewegung... hat in ihrer Geschichte einen
unerbittlichen Kampf gegen den individuellen Terrorismus aus den eigenen Reihen und vor
allem gegen jene Gruppen geführt, die sich den Arbeitern als Avantgarden aufzwingen
wollten. Lenin hat unermüdlich immer wieder darauf hingewiesen, dass die Massen ihre
Erfahrungen mit den Klasseninstitutionen selber machen müssen; dass sie Selbstbewusstsein
und Selbsterziehung nur aus ihren eigenen Kämpfen gewinnen können.

Auch für diese Gesellschaft gilt, dass ein unter Opfern durchgestandener Streik,
Arbeitskämpfe auf den verschiedensten Ebenen, politische Demonstrationen immer noch mehr
an sozialistischem Bewusstsein und Erfahrungserweiterung der Arbeiter und der
Intellektuellen bewirken als tausend Bomben...

Wir können unsere Solidarität mit Angela Davis, mit allen politischen Gefangenen des
Rassenterrors und der Unterdrückung nicht besser demonstrieren als durch die Überwindung
unserer eigenen Zersplitterung, durch die Zusammenfassung unserer Kräfte mit dem Ziel,
gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, damit solche Kongresse nicht mehr im Zeichen der
Gewalt stehen müssen.

Dr. Oskar Negt ist Professor für Soziologie an der Universität Hannover