Her mit dem ganzen Leben – Sozialismus und Zukunft

Der folgende Text ist kein Aufsatz, sondern ein Vortrag vor einem konkreten Publikum aus einem bestimmten Anlass. Auf Vorschlag des Autors drucken wir ihn in der authentischen Form ab. 

Liebe Anwesende, liebe Freundinnen und Freunde des Clara-Zetkin-Hauses, Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen.

Sehr herzlich danke ich für die Einladung, heute die Festrede zum 100-jährigen Bestehen des Clara-Zetkin-Hauses halten zu dürfen. Das ist mir eine Ehre und eine Freude.

Aber diese Einladung ist mit einer heiklen Auflage verbunden. Man bat mich, nicht noch einmal die Geschichte dieses Hauses zu erzählen. Die sei bekannt. Und tatsächlich liegen ja zwei Broschüren vor, zum 90. und zum hundertjährigen Jubiläum. Dass diese zustande kamen und wie sie gelungen sind – dies ist ein Ausweis der Leistungskraft der Menschen, die auch heute noch zu diesem Waldheim Sillenbuch stehen.

Davon soll ich also nicht erzählen. Stattdessen solle ich mehr über Gegenwart und Zukunft sprechen, vor allem über die Zukunft.

Nun ist das mit der Zukunft so eine Sache, besonders dann, wenn Marxistinnen und Marxisten sich damit befassen. Die Gründerinnen und Gründer des Waldheims Sillenbuch haben sich zum Marxismus bekannt, und Karl Marx war sehr vorsichtig im wissenschaftlichen Umgang mit der Zukunft. Er lehnte es ab, sie detailliert auszumalen: das sei Wunschdenken und Utopie, und Utopien lehnte er ab. Stattdessen analysierte er Vergangenheit und Gegenwart und zog ein paar Schlüsse daraus. Wenn er darüber hinausging und sich zu kurzfristigen Prognosen hinreißen ließ, hat er sich meist geirrt. Dadurch sollten wir gewarnt sein: ohne Blick auf die Vergangenheit ist der Blick auf die Zukunft denn doch oft irritiert, wenn nicht sogar blind.

Weil das so ist, will ich zunächst nun doch mit dem Jahr 1909 beginnen, als das Waldheim Sillenbuch gebaut und eingeweiht wurde. Warum ist es denn überhaupt gebaut worden?

Die Arbeiterinnen und Arbeiter Stuttgarts brauchten einen Ort, an dem sie sich mit ihren Familien von den Zumutungen der kapitalistischen Ausbeutung erholen konnten. Die bürgerlichen Leute fuhren in die Sommerfrische, wie man das damals nannte. Arbeiterinnen und Arbeiter hatten dafür kein Geld und auch nicht genug Urlaub. Sie wollten miteinander diskutieren und sich über ihre Lage klar werden. Das Wirtshaus war dafür zu teuer, außerdem konnten die Wirte Schwierigkeiten bekommen und auch Schwierigkeiten machen. Wenn herauskam, dass bei ihnen Sozialisten verkehrten, verhängte der zuständige Standortkommandant über sie das so genannte Militärverbot: Soldaten durften dann dort nicht verkehren, und das bedeutete für den betroffenen Wirt schlechte Geschäfte. Deshalb ließ er Sozialisten oft vorsichtshalber gar nicht in seine Räume hinein, und es war besser für sie, wenn sie sich etwas Eigenes bauten.

Das war die eine Seite der Sache. Arbeiter und Arbeiterinnen brauchten einen Ort für sich allein. Aber immerhin: sie konnten ihn sich jetzt auch leisten. Wer ein Haus baut, will bleiben. Er oder sie geht von der Sicherheit aus, dass er nicht fliehen muss und dass man es ihm nicht abnimmt. 31 Jahre vor dem Bau des Waldheims Sillenbuch hatte Bismarck das Sozialistengesetz verhängt. Damals wären Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen nicht auf die Idee gekommen, sich Erholungs, Gewerkschafts- oder Parteihäuser zu bauen. Als August Bebel genug Geld für ein eigenes Wohnhaus hatte, wählte er als Ort dafür nicht eine deutsche Stadt, sondern Zürich. Da war man sicherer.

1909 aber konnte man sich das sogar in Stuttgart erlauben. Die Arbeiterinnen und Arbeiter waren zwar nach wie vor eine unterdrückte Klasse, aber ihre Parteien und Gewerkschaften hatten sich inzwischen doch eine bessere Stellung im Reich erkämpft, sie fühlten sich sicherer.

Und schon verbreitete sich in der Arbeiterbewegung – hier in Stuttgart zum Beispiel bei dem Reichstagsabgeordneten Wilhelm Keil – die Hoffnung, man könne vielleicht gerade dadurch zum Sozialismus kommen, dass man sich ein bisschen auf den Kapitalismus einlasse. Schritt für Schritt hatte man sich Verbesserungen erkämpft – warum sollte das nicht ständig so weitergehen, bis man den Kapitalismus genügend unterwandert hatte, um an seinem anderen Ende in einer neuen Gesellschaft anzukommen? Bei allen Unterschieden zum Bürgertum teilte man doch dessen Fortschritts-Optimismus. Auf der anderen Seite gab es auch aufgeschlossene Kapitalisten, die meinten, man dürfe sich ruhig ein bisschen mit dieser sozialistischen Arbeiterbewegung einlassen. Im Stuttgarter Westen, in der Rotebühlstraße, wohnte der Fabrikant Robert Bosch Tür an Tür mit dem sozialistischen Theoretiker Karl Kautsky. Die Kinder spielten miteinander, man fuhr zusammen in den Urlaub. Gleich daneben lebte, bevor sie später nach Sillenbuch zog, Clara Zetkin. Ihr Mann, Friedrich Zundel, malte die Kinder der Familie Bosch. Robert Bosch war in seiner Jugend radikaler Sozialist gewesen, bis 1912 wählte er SPD und spendete für die Arbeiterbewegung und ihre Waldheime, darunter wahrscheinlich auch Sillenbuch. 1906 führte er als erster württembergischer Fabrikant in seinem Werk den Achtstundentag ein. Seine Unternehmerkollegen schimpften ihn daraufhin den „roten Bosch“.

1909: der Himmel hing voller Geigen. Die gute alte Zeit: so nannten das die Großeltern später verklärend.

Und dann, fünf Jahre später, war alles vorbei. Am 1. August 1914 begann der erste Weltkrieg. Am 4. August stimmte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Kriegskrediten zu. Clara Zetkin wurde darüber fast wahnsinnig. 1917 zerbrach die Partei. Es begann das Zeitalter der Katastrophen, wie der britische Historiker Eric Hobsbawm das heute nennt: zwei Weltkriege, eine Weltwirtschaftskrise, Millionen von Toten. Die Illusionen von einem stetigen Fortschritt waren zerschlagen. Die Zukunft hatte man sich ganz anders vorgestellt.

Wie hatte man sich nur so irren können? Hätte man dies nicht vorhersehen können?

Doch. Man hätte. Und man konnte, und man tat es. Und zwar gerade hier in Stuttgart. Clara Zetkin war befreundet mit Rosa Luxemburg, und diese hatte – in ihrem Buch „Die Akkumulation des Kapitals“ – 1913 – dem Kapitalismus bis auf den Grund geblickt. Kapitalismus: das ist die ständige Akkumulation von Anlage suchendem Kapital, und zuletzt ist das auch Überakkumulation und Krise, Investition in Rüstung, Kampf um Einflussgebiete, und schließlich war es dann Krieg. Rosa Luxemburg wusste das, Clara Zetkin wusste es, und Friedrich Westmeyer, ein Mann des linken Flügels der SPD, einer der Gründer des Waldheims Sillenbuch, wusste es auch.

Auch Robert Bosch konnte den Klassenfrieden nicht mehr halten, schon vor 1914 nicht mehr. 1913 brach in seinem Werk in Feuerbach ein Streik aus. Bosch sperrte die Arbeiterinnen und Arbeiter aus. Er konnte es nicht fassen, dass ausgerechnet er, der „rote Bosch“, der für seine Belegschaft freiwillig die gesamten Sozialbeiträge zahlte, nun einen Klassenkampf führen musste. Das ging ihm nicht in den Kopf, und er redete sich ein, Clara Zetkin habe den Streik angezettelt, aus Eifersucht, weil Friedrich Zundel sich beim Porträt-Malen in die Bosch-Tochter Paula verliebt hatte, die er später dann ja auch heiratete. Tatsächlich ging Zundels Ehe mit Clara Zetkin, die er schon seit fünf Jahren betrogen hatte, im Streikjahr 1913 zu Bruch (auch wenn sie erst sehr viel später geschieden wurde). Er malte fortan keine Arbeiter mehr, sondern widmete sich irgendwelchen mythologischen Motiven. Im Ersten Weltkrieg wurde er glühender Patriot.

Man sieht: dieses neue Zeitalter der Katastrophen, das sich jetzt ankündigte, hatte auch seine grotesken Seiten.

Wichtiger waren seine Katastrophen, aber auch die Zukunftshoffnungen, die aus diesen Katastrophen erwuchsen.

Zunächst der Erste Weltkrieg. Er blamierte den Kapitalismus bis auf die Knochen. Es antwortete die russische Oktoberrevolution 1917. Eine sozialistische Weltmacht entstand. Dass sie sich zunächst behauptete, führte zu einer Radikalisierung von Teilen der Arbeiterbewegung im Westen. In Italien und Deutschland mobilisierte der Kapitalismus seine letzten Reserven: den Faschismus. 1933 zeigte sich, dass die Hoffnung von 1909, die Arbeiterbewegung könne im Kapitalismus heimisch werden und sich dort sicher fühlen, getrogen hatte: die Nazis enteigneten das Waldheim in Sillenbuch.

1945 verlief dann die Grenze des staatlich organisierten Sozialismus an der Elbe. 1949, nach dem Sieg der chinesischen Revolution, lebte ein Drittel der Menschheit unter dieser neuen Ordnung. In diesem Drittel der Welt schien die sozialistische Zukunft schon Gegenwart geworden.

Aber das war für viele zugleich eine erschreckende und bedrohliche Gegenwart und Zukunft.

Die Revolutionen hatten in unterentwickelten Ländern gesiegt. Der Sozialismus musste unter katastrophalen Voraussetzungen aufgebaut werden und sah sich schnell in ein Wettrüsten hineingezogen, das ihn überforderte. Für Arbeiterinnen und Arbeiter in manchen hoch entwickelten Ländern des Westens war er nicht attraktiv, für das Bürgertum ohnehin abschreckend. Denn dieser Sozialismus hatte viel von einer chirurgischen Operation an sich. Wir alle können uns irgendetwas unter einer chirurgischen Operation vorstellen. Chirurgische Operationen sind etwas, was sich niemand wünscht, auch wenn sie manchmal unvermeidlich sind. Sie fügen dem Körper häufig nichts hinzu, sie schneiden etwas weg, sie sind Reparaturen, schmerzhaft, blutig, wenngleich die letzte Möglichkeit und lebensrettend. Das möchte man am liebsten vermeiden, so lange es geht. So war es auch mit dieser Form des Sozialismus, der noch alle Wundmale der Blamage des Kapitalismus an sich trug.

Da kann man es den Menschen im Westen nach 1945 kaum verdenken, dass sie die erste Gelegenheit ergriffen, das Angebot eines reformierten Kapitalismus zu ergreifen, der aus seinen Fehlern gelernt zu haben schien und unter dem Druck der so genannten Bedrohung aus dem Osten zu Zugeständnissen bereit war: höhere Reallöhne, allmähliche Senkung der Wochenarbeitszeit, Montanmitbestimmung, Rentenreform. Die Arbeitslosigkeit verschwand fast vollständig. Noch einmal hing der kapitalistische Himmel voller Geigen – die zweite gute alte Zeit.

Hier in Sillenbuch war man skeptisch. Das Waldheim war nach dem zweiten Weltkrieg zwar zurückgegeben worden, aber man hatte nichts vergessen, und manches sah wieder bedrohlich aus: Wiederbewaffnung, KPD-Verbot, Atomrüstung, Notstandsverfassung, Berufsverbote, Ausstattung der NATO mit Mittelstreckenraketen – Gründe genug für immer neue außerparlamentarische Opposition – eine Opposition, die oft Recht hatte und fast nie Recht bekam.

Ab Mitte der siebziger Jahre begann der Kapitalismus sich wieder zu blamieren. Die Weltwirtschaftskrise von 1975 wurde zwar ökonomisch rasch überwunden, bald wurden wieder hohe Gewinne gemacht. Aber sozial begannen jetzt die Jahrzehnte der Demontage: erst Stagnation, dann Sinken der Reallöhne, Massenarbeitslosigkeit, die bis heute nicht mehr aufgehört hat. Die Ungleichheit nimmt zu. Außerhalb der Zentren in West- und Nordeuropa und Nordamerika: in Afrika, Asien und Südamerika, hungern Millionen. Der Kapitalismus setzt zunehmend eine Technik ein, die die Umwelt ruiniert.

Doch obwohl das so ist, schien diese Gesellschaftsordnung ohne Alternative. Warum? Der staatlich organisierte Sozialismus im Osten verfiel gleichzeitig in Agonie und brach in seinem sowjetischen Teil zwischen 1989 und 1991 zusammen. In China machte er sich auf einen kapitalistischen Weg. Dies alles erschien als die endgültige Rechtfertigung des Kapitalismus, als ein Ende der Geschichte. Mochte sich der Kapitalismus sozial und ökologisch noch so sehr blamieren, wirtschaftlich erschien er nach wie vor als ein Erfolgsmodell.

Seit 2007 scheint es zumindest für einige Zeit auch damit vorbei. Die neue Weltwirtschaftskrise ist die dritte Systemkrise in der Geschichte des Kapitalismus: nach dem Gründerkrach von 1873 und der Rezession von 1929. Und plötzlich erscheint der Sozialismus in einer verqueren und absurden Weise wieder aktuell. Banken werden verstaatlicht, Geldinstitute bieten dem Staat Anteile an. Die Regierungen stecken Milliarden in Industrie-Unternehmen. Als im Bundestag die Verstaatlichung der Hypo Real Estate beschlossen wurde, beklagte der FDP-Abgeordnete Brüderle das Ende der marktliberalen Freiheit und musste doch insgeheim heilfroh darüber sein, dass die Mehrheit des Parlaments anders abstimmte. Man redet vom Ende des Kapitalismus, aber niemand sagt, was danach kommen soll. Der DGB-Vorsitzende Sommer sagt, wenn der Kapitalismus das letzte Wort der Geschichte sei, müsse er sich das Leben nehmen. Selbst Kapitalisten betteln, wie gezeigt, um etwas Staatssozialismus – was ist da los?

Zunächst einmal nichts völlig Neues. Als 1873 der Schwindel mit Eisenbahnaktien aufflog, verstaatlichte Bismarck die Eisenbahnen. Ohne ein gewisses Maß an Sozialismus kommt der Kapitalismus offenbar von Zeit zu Zeit nicht aus.

Allerdings ist dies eine Sorte Sozialismus, von der Sozialistinnen und Sozialisten zu Recht nichts halten. Wenn der Kapitalismus ins Taumeln gerät, ist es doch sinnvoll, zu fragen, was das denn ist – eine andere, eine bessere Ordnung, die den Namen Sozialismus zu Recht verdient. Also: Was ist das – Sozialismus?

Als Antwort zunächst ein altes Zitat:

eine Assoziation, worin die freie Entwickung jedes einzelnen die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“

Wo steht das? Im Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels, 1848.

Das klingt beim ersten Hören merkwürdig liberal. Nicht die freie Entwicklung aller sei die Bedingung für die freie Entwicklung des einzelnen Menschen, sondern umgekehrt: die freie Entwicklung jedes einzelnen Menschen die Bedingung für die freie Entwicklung aller. So ähnlich könnte man es fast bei der FDP lesen.

Aber nur fast. Marx und Engels sehen nämlich eine weitere Bedingung für die freie Entwicklung des einzelnen und aller: die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Solange diese in den Händen weniger Kapitalisten sind, können sich die Vielen, die Einzelnen und alle Menschen zusammen nicht frei entfalten.

Es geht also um die Eigentumsfrage. Das ist eine Frage, die von Sozialistinnen und Sozialisten in den vergangenen zwanzig Jahren kaum einmal gestellt wurde. Zu gründlich war der Staatssozialismus 1989 gescheitert. Die Unternehmer und die ihnen verbundenen Politiker aber waren in der Eigentumsfrage nicht so zurückhaltend, im Gegenteil. Sie haben die Eigentumsfrage offensiv gestellt und praktisch beantwortet: mit umfangreichen Privatisierungen, nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch im Westen. Jetzt sind einige dieser Privatisierungsgewinner in die Spekulationskrise geraten. Das war also doch nicht der richtige Weg.

Wir sehen: an der Eigentumsfrage kommt niemand vorbei, der oder die sich Gedanken über Gegenwart und Zukunft macht. Marx und Engels wollten das Privateigentum beseitigen. Aber wodurch wollten sie es ersetzen?

Hierüber äußerten sie sich weniger eindeutig. Im Kommunistischen Manifest war es der Staat, der das Eigentum an den Produktionsmitteln an sich nehmen sollte, dies aber nur für eine Übergangszeit. Dann sollte er es weiterreichen, an die Gesellschaft, oder, wie es bei Marx und Engels heißt, an die Assoziation. Je gründlicher Marx und Engels in der Folgezeit über den Staat nachdachten, desto mehr misstrauten sie ihm. Er war aus seiner Geschichte her doch ein Zwangsapparat, und einem solchen Zwangsapparat durfte man Eigentum nicht anvertrauen. Zur Tragödie des sowjetischen Sozialismus gehört es, dass er es nicht schaffte, diesen Zwangsapparat abzubauen, sondern dass er ihn aus Gründen der Selbstverteidigung, aber zunächst auch wohl einer Entwicklungsdiktatur immer mehr ausbaute. Damit aber blieb das Eigentum in den Händen einer Repressionsmaschine, und das ist dann eben keine Assoziation, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.


Privateigentum nein – Staatseigentum auch nicht. Ja, was denn nun?

Wie ist die Eigentumsfrage als dringende Frage der Zukunft zu beantworten?

Zunächst einmal – und erstens: Mag staatliches Totaleigentum auch ineffektiv sein, ganz wird man um einen staatlichen Sektor nicht herumkommen. Die unnützeste und gefährlichste Industrie ist die Rüstungsindustrie. Sie ist privat, aber sie beliefert den Staat. Solange sie in privater Hand ist, wird sie nicht abgeschafft werden können. Ihre Eigentümer werden das zu verhindern wissen. Wer die Rüstungsindustrie abschaffen will, wird sie zuerst verstaatlichen müssen.

Zweitens: Andere Eigentumsformen müssen ausgedehnter sein als die staatlichen, vor allem das kommunale Eigentum. Hier ist besonders viel privatisiert worden. Dieser Prozess muss umgekehrt werden.

Eine dritte wichtige Eigentumsform wird die genossenschaftliche sein. Assoziation heißt Genossenschaft.

Viertens: In keiner sozialistischen Gesellschaft sollte das selbst genutzte Eigentum, sei es an einer Wohnung, sei es an einem Handwerks- oder Dienstleistungsbetrieb, beseitigt werden.

Fünftens: Ja, Sozialistinnen und Sozialisten werden sich sogar darauf verständigen müssen, dass in der Gesellschaft der Freien und Gleichen auch innovatives und leistungsfähiges kapitalistisches Privateigentum sinnvoll ist, wenn es an folgende Bedingungen gebunden ist:

a. es muss unter strenger öffentlicher Kontrolle stehen, durch Mitbestimmung und durch ein lückenloses Arbeitsrecht.

b. Über die Investitionen und die Verwendung des Gewinns werden die Eigentümer keine uneingeschränkte Verfügung haben. Ein Teil des Profits wird ständig abgeschöpft – durch Progressivbesteuerung – und gesamtgesellschaftlichen Zwecken zugeführt werden. In einer Gesellschaft, in der Billionen für die Reparatur von Spekulationsgewinnen ausgegeben und zugleich zum Beispiel in weiten Teilen des Dienstleistungsbereichs weithin sittenwidrige Löhne gezahlt werden, ist eine Umverteilung über die Steuer zwingend.

Ein solch fünffach gegliedertes Eigentum könnte die Eigentumsform einer sozialistischen Zukunft sein.

Aber das alles reicht nicht. Es muss noch etwas hinzukommen. Das ist das Verhältnis zum ungeheuren gesellschaftlichen Reichtum, der durch medizinischen und technischen Fortschritt im Kapitalismus angehäuft wurde. Diese Möglichkeit zur Bereicherung der Lebensqualität ist tatsächlich eine der großen Leistungen des Kapitalismus. Aber es stellt sich jetzt die Frage: wie kann dieser Reichtum von einem Privileg weniger zum Glück für alle gemacht werden?

Wir haben es uns in der Vergangenheit vielleicht zu sehr angewöhnt, Sozialismus nur als eine Verwaltung des Mangels zu betrachten. Er sollte aber die Eroberung des Reichtums sein. Es geht nicht nur um die Abschaffung von Not, sondern um die Aneignung des ganzen Lebens und aller seiner Möglichkeiten, die heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, längst für alle erreichbar sein sollten.

Als vor hundert Jahren das heutige Clara-Zetkin-Haus gegründet wurde, da ging es ja schon damals nicht nur um die Erholung von Mühsal im kapitalistischen Alltag. Wer hierher kam, wollte Freude am Leben haben, nicht nur Reparatur. Wenn die Kinder, die damals zu Freizeiten hierher kamen, heute noch lebten, dann würden sie wahrscheinlich nicht zuerst von den engen Wohnungen erzählen, denen sie für ein paar Tage entkommen konnten, sondern von dem vielen Spaß, denn sie hier draußen hatten. Wahrscheinlich ist künftiger Sozialismus auch eine Menge Spaß – nicht nur Abschaffung der Armut, sondern Gewinnung eines enormen Reichtums an Lebenschancen.

Was das bedeuten würde: „Gewinnung eines enormen Reichtums an Lebenschancen“, das hat 2008 der Schriftsteller Dietmar Dath in seinem Buch „Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus“ so formuliert:

Das Menschenwesen ist aufgrund seiner informationsverarbeitenden Potenzen in seinem Energie- und Informationsaustausch mit der Natur nur durch die Naturgesetze insgesamt begrenzt. Im Moment scheinen das elektromagnetische, quantenmechanische und relativistische zu sein. […] Der Mensch ist das Tier, das aus kosmischen Nebelwolken Sterne machen kann.“ (S. 71 f.)

Hier würde Karl Marx wohl heftig die Stirne runzeln: das sei Zukunftsmusik, und sie solle man unterlassen. Und er würde sich selbst zitieren und auf den mühevollen Weg in eine zukünftige Gesellschaft hinweisen. Eine Wirtschaftskrise ist allemal noch keine Eintrittskarte in den Sozialismus. 1859 schrieb Marx, ich zitiere ihn:

Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind.“

Eine Wirtschaftskrise mag für viele einzelne Kapitalisten eine Katastrophe sein. Für das Kapital als solches, für den Kapitalismus ist sie das Beste, was ihm passieren kann. Dann kann nämlich aufgeräumt werden.

Einerseits. Andererseits aber: „Die materiellen Bedingungen“ einer anderen Gesellschaft, von denen Marx sprach, sind heute schon da, egal, ob Krise oder nicht. Sie müssen aufgespürt und entwickelt werden. Was geschieht, wenn sie nicht genutzt werden? Dann verkehren sie sich in ihr Gegenteil. Wenn die Menschen mit der Gesellschaft, in der sie leben, unzufrieden sind, aber sich keine bessere Gesellschaft vorstellen können, dann wird es gefährlich. Im Extremfall können davon dann sogar die Nazis profitieren, wie in der Weltwirtschaftskrise von 1929 – 1933.

Wir stehen in folgendem Dilemma: Verzicht auf das Nachdenken über eine bessere Gesellschaft führt in die Reaktion. Utopie allein verliert den Boden unter den Füßen. Es sind Zwischenschritte nötig. Welche? Ich nehme an: mindestens fünf.

Erstens müssen die großen technischen Möglichkeiten, die der Kapitalismus geschaffen hat, allen in gleichem Maße zugänglich gemacht werden. Darüber habe ich gesprochen.

Zweitens müssen die großen Schäden, die der Kapitalismus in seiner bisherigen Entwicklung angerichtet hat, zurückgeschnitten werden, bevor sie irreparabel sind und jede zukünftige Entwicklung verhindern. Er hat eine Menge totes und zugleich gefährliches Material und schreckliche Umweltbedingungen angehäuft. Dies alles liegt uns im Weg: von der Rüstung bis zu der Belastung von Boden und Atmosphäre. Das muss beseitigt werden, und dieser Rückbau ist absehbar nach den Spielregeln des ungehemmten Marktes nicht zu schaffen.

Drittens: Subjekt einer künftigen Gesellschaft sind die Menschen selbst. Ihre Fähigkeiten sind den künftigen Möglichkeiten und Gefahren noch gar nicht angemessen, sondern müssen erst entwickelt werden. Manche sagen, dies müsse durch „Bildung“ geschehen. Aber was für eine Bildung ist da gemeint?

Hoffentlich nicht eine Bildung, die die Einzelnen möglichst fit machen soll für die Konkurrenz gegen andere Einzelne. Sondern eine Bildung, die alle nach ihren Möglichkeiten aufs Höchste entwickelt. Sehen wir uns die Hierarchie der Bildungseinrichtungen heute an, vom Kindergarten bis zur Universität, dann steht da eine Pyramide auf dem Kopf. Marx bezeichnete eine künftige Gesellschaft der Freien und Gleichen einmal als einen „Verein freier Menschen“. Dort solle folgendes Prinzip gelten: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Ende des Zitats. Fähigkeiten und Bedürfnisse entwickeln sich nur dann optimal, wenn sie möglichst früh geweckt und entwickelt werden. Die künftige Gesellschaft der Freien und Gleichen wird den größten Teil der Mittel, die sie für Bildung zur Verfügung hat, in die optimale vorschulische Erziehung für alle stecken und sich gar nicht darüber wundern, dass ihre Universitäten danach viel besser sein werden als heute, obwohl sie gar nicht mehr so teuer sind wie heute. Der Streik der Erzieherinnen und Erzieher 2009 enthält eine weit größere Zukunftsperspektive, als die kommunalen Arbeitgeber bisher gemerkt haben.

Viertens: in einigen Bereichen sind die technischen Errungenschaften den sozialen Möglichkeiten weit vorangeeilt. Diese Lücke muss geschlossen werden. Ein Beispiel hierfür: unsere Lebenserwartung in den am höchsten entwickelten kapitalistischen Ländern ist enorm gestiegen – dank der wissenschaftlich-technischen und medizinischen Erfolge, die bislang wohl wirklich nur im Kapitalismus erzielbar waren. Zugleich aber entwickelt das Alter sich für viele Menschen zu einem Panorama des Elends. Auch ihr Alter könnte reich ausgestaltet, unvermeidliche Leiden könnten gelindert, vermeidbare geheilt werden. Dazu sind ungeheure Investitionen nötig. Die Gesellschaft hat die Mittel dazu. Sie muss sich entscheiden, ob sie sie durch Umverteilung bereitstellen will. In einer Bundesrepublik ohne Alte sind die Unternehmen von einem Tag auf den anderen pleite. Es fehlt die Nachfrage – ein Widerspruch des Kapitalismus.

Fünftens: Ich habe heute hier vom Doppelgesicht des Kapitalismus sprechen müssen. Er bedeutet Unterdrückung, und er hat Befreiungspotentiale bereitgestellt. Das jahrtausendealte Patriarchat, die Herrschaft der Männer über die Frauen, hat er für seine Zwecke genutzt. Inzwischen ist er in den am höchsten entwickelten Ländern an einem Punkt angekommen, an dem er sich nach Möglichkeiten umsieht, sein Befreiungspotenzial dosiert auf das Geschlechterverhältnis anzuwenden: so viel Frauenemanzipation – gern auch in Leitungsfunktionen – wie möglich, so viel Frauenunterdrückung wie nötig. Die Gesellschaft der Freien wird ihm das Handwerk legen müssen durch die tatsächliche Beseitigung des Patriarchats und indem sie mit einigen besonderen Unterdrückungsformen von Frauen und auch Männern Schluss macht. Die Festschreibung der Sexualität auf die Fortpflanzung und die Dogmatisierung der Heterosexualität sind bereits jetzt schon gelockert, wenngleich nicht endgültig überwunden. Teilweise sind sie abgelöst durch Vermarktung von Sexualität, in der die alten Formen der Frauenunterdrückung weiterleben und neue entstanden sind. Ihre Bekämpfung ist nicht einfacher geworden, gerade weil hier der Markt an die Stelle der altmodischeren Sorten des Patriarchats getreten ist.

Liebe Anwesende, heute wird manchmal erst dann richtig zugehört, wenn man etwas auf Englisch ausdrückt. Vielleicht sollte man es lieber auf Schwäbisch sagen, aber ich kann das nicht. Die Grünen haben einen „Green New Deal“ ausgerufen. Der ist vernünftig. Sozialistinnen und Sozialisten sollten sich aber nicht damit begnügen, sondern darüber hinaus für die „Pink, Violet, Grey, Red Revolution“ arbeiten. Keine Angst, hier kommt ja schon die Übersetzung.

Pink: das sind die Investitionen in die allerjüngsten Menschen, benannt nach der Farbe, die einst die Babykleidung hatte, das ist die Farbe der bislang wegen ihrer sexuellen Orientierung unterdrückten Minderheiten.

Violet: das ist bekanntlich die Farbe der Frauenbewegung.

Grey: das sind die grauen und kahlköpfigen Alten.

Red: das sind die arbeitenden Generationen dazwischen, deren Löhne endlich nicht mehr sinken dürfen, sondern steigen müssen.

Revolution: das ist die gute alte Revolution, die wir aber lieber gleich ins Deutsche übersetzen: Umwälzung. Eine Umwälzung der Eigentums- und Einkommensverhältnisse.

Das sind wohl die aktuell und künftig möglichen Perspektiven. Werden sie wahrgenommen, dann bekommt Dietmar Dath Recht: „Der Mensch ist das Tier, das aus kosmischen Nebelwolken Sterne machen kann.“ Ende des Zitats. Aber vorher, bevor das möglich wird, muss er erst einmal noch ein paar andere Dinge regeln, der heute noch so unvollkommene Mensch beiderlei Geschlechts.

Letzte Frage: Wer soll diese anderen Perspektiven sichtbar machen? Parteien können das nicht. Die haben ihr Tagesgeschäft. Von den Universitäten kommt immer weniger. Vielleicht muss man viel kleiner anfangen. Das Clara-Zektin-Haus hat einst klein angefangen, und es ist ja auch immer irgendwie klein geblieben – so klein, wie kleine Leute eben sind, die aber noch Großes vorhaben. Dieses Waldheim Sillenbuch ist ja niemals nur ein Erholungsort und ein Ort zum Feiern gewesen. Sondern es ist auch ein Ort der Kommunikation und der Diskussion gewesen, an dem nach neuen Wegen gesucht wird. Hier wird Aufklärung betrieben, und Aufklärung ist nicht nur, wie Kant einst schrieb, der Ausgang aus selbstverschuldeter oder fremdverschuldeter Unmündigkeit, sondern auch die Klärung künftiger Wege. Darum haben sich inzwischen vier Generationen im Waldheim Sillenbuch nunmehr einhundert Jahre lang bemüht, und Aufklärung wird auch künftig gebraucht, mehr als weitere hundert Jahre lang. Aber zunächst einmal für die nächsten hundert Jahre wollen wir dem Waldheim Sillenbuch und den Zielen, denen es sich verpflichtet hat, jetzt alles Gute wünschen.

Ich danke Ihnen und Euch dafür, dass Ihr mir zugehört habt.